~• Kapitel 2 •~

ALEXANDER

Das Rauschen eines in der Nähe verlaufenden Flusses. Morgliches Gezwitscher der ungeduldigen Vögel. Eine frische Brise. Der aromatische Duft von vielerlei Blumen und nassem Gras.
Der Sommer war da.
Und mit ihm die Geräusche und Gerüche.
Noch einmal versuchte ich alles in mich aufzusaugen jeden Geruch, jedes Geräusch. Versuchte den Moment in meinem Herzen zu bewahren. Den Moment, auf den ich schon lange wartete. Ein glückliches Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
Es war wirklich wieder Sommer.

Als ich die Blumenübersäte Wiese hinter mir gelassen hatte, empfing mich ein völlig anderer Geruch. Hier roch es nach Moos, Erde und Harz. Was für ein Unterschied es zu der Wiese machte. Als ich in den Schatten trat spürte ich die angenehme Kühle, die über meinen Rücken kroch. Es war erst Mai und doch schnellten die Temperaturen bereits in die Höhe.

Forschend liess ich den Blick über den Boden wandern. Welche Mahlzeit würde mir Mutternatur heute schenken?
Bereits seit meinem fünften Lebensjahr, dann war es jetzt dreizehn Jahre her, konnte ich Spurenlesen. Mein Vater hatte es mir an den warmen Sommerabenden im Wald beigebracht. Nur wusste er damals wahrscheinlich nicht, dass ich ohne seine Lektionen damals heute nicht hier stehen würde. Leider war er früh von mir gegangen und ich musste mich bereits mit fünfzehn alleine durchs Leben kämpfen. Eine Mutter hatte ich auch keine richtige.
Aber ja, man lernt damit zu leben.
Man muss damit leben.

Plötzlich entdeckte ich auf dem Boden eine Spur. Es musste von der Form her eine Natter gewesen sein, die sie hinterlassen hatte. Ich ging in die Knie und strich mit dem Finger über den sandigen Boden, der Form des Abdruckes nach. Mit den Augen verfolgte ich die Spur, die in einen Busch hineinführte.
Dort war sie also entlanggeschlichen.
Und dort würde ich sie überraschen.
Nicht gerade eine große Mahlzeit, aber immerhin würde ich etwas im Magen haben.
Ich stand wieder auf und schlich der Spur langsam entlang. Auf dem Weg zog ich mit leisen, geschmeidigen Bewegungen eines meiner Jagdmesser aus dem Gürtel um meine Hüfte. Ich hatte dieses und einige andere Messer an einem winterlichen Herbsttag an dem Markt, weit von hier entfernt, einem älteren, zerbrechlichen Mann abgekauft. Seit da trug ich sie immer bei mir. Ich liess jetzt eines der kleineren Messer spielerisch zwischen meinen Fingern umherwandern. Das würde ein Kinderspiel werden. Doch gerade, als ich den Busch zur Seite schieben wollte, entdeckte ich einige Schritte daneben Blut.
Frisches Blut, welches noch nicht eingetrocknet war und in der morgentlichen Sonne glänzte. Es liess mich innehalten. Wovon kam es? War es ein verwundetes Tier? Eigentlich sollte mich das nicht kümmern. Aber die Neugierde erwachte in mir. Ich liess das angehobene Messer sinken. War es die Schlange wert, nicht zu erfahren, woher dieses Blut kam? Gerade, als ich mich doch zuerst an die Schlange machen wollte, nahm ich ein komisches Gefühl wahr. Ein Drängen. Ein Drang, sofort nachzusehen. Dieses Gefühl liess mich schlussendlich den kleinen Dolch zurück in den Gürtel stecken, um anschliessend einen grösseren zur Hand zu nehmen. Ich musste vorsichtig sein. Vielleich war es ein von einem Wildtier gerissenes Tier, welches längst tot war. Wäre das der Fall, könnte das Raubtier noch in der Nähe sein.
Ich trat neben die Blutspur und blickte auf sie hinab. Verwundert stellte ich fest,dass neben dem Blut eine weitere Spur lag. Eine mir unbekannte Spur. Kein mir bekanntes Tier hinterliess solche Abdrücke... Ich kannte sie nur von einem Ort: Von mir selbst. Menschliche Fussabdrücke. Ein Schauer lief kalt über meinen Rücken. Stammte das Blut von einem Menschen?Ich beschloss es herauszufinden.
Ihrem Verlauf zufolge, war das Opfer immer tiefer in den Wald gerannt. Es war nicht gerade ein Kinderspiel dem Blut zu folgen. Doch ich verlor die Geduld nicht und schlich immer weiter. Das Plätschern des Baches wurde deutlicher hörbar. Ich musste in der Nähe meines Ziels sein. Ich duckte mich hinter einen fest bewachsenen Busch und schob vorsichtig einige Blätter zur Seite, um besser sehen zu können.
Und da traute ich meinen Augen nicht mehr...
Vor mir sass ein junges Mädchen. Vielleicht ein, zwei Jahre jünger als ich. Ihr rotes Haar hatte sie zu einem seitlichen Zopf geknotet. Sie trug einen blauen, überaus verschmutzten, bodenlangen Rock, auf welchem sich Blutflecken abzeichneten. Was war hier los, wer war sie?
Schweissperlen bildeten sich auf meiner Stirn, während ich sie weiter beobachtete. Gierig trank sie von dem frischen Flusswasser und schüttete es sich über den Kopf. Jetzt versuchte sie sich das Kleid abzustülpen. Vergebens. Sie musste stark verletzt sein, denn sie schrie fürchterlich auf, als sie dies versuchte. Sie sah an sich herab und ein starkes Zittern erfüllte sie. Dieses Mädchen kam mir so seltsam vor. So fremd und doch so vertraut. So fehl am Platz.
Was sollte ich tun? Sollte ich ihr helfen?
Sie überfallen?
Nein... Nein! Wie konnte ich nur solche absurden Gedanken haben?! Aber ich musste mir eingestehen, dass der Bogen neben ihr mein Interesse erweckt hatte. Damit würde ich jedes Tier erlegen können. Und die Pfeile... Waren das Goldpfeile?!
Ich war so abgelenkt, dass mir nicht aufgefallen war, wie ich aufgestanden war. Sofort huschte mein Blick zu dem unbekannten Mädchen. Sie hatte mich noch nicht gesehen. Noch nicht. Denn gerade, als ich mich wieder in den Schatten des Busches ducken wollte, nahm sie mich wahr.
Ich sah, wie ihre Muskeln sich ruckartig anspannten, ihre Augen sich ängstlich weiteten und sie zum Bogen griff.
Blitzschnell hatte sie den ersten Pfeil eingespannt und richtete nun ihre Waffe auf mich. Oh nein! Was hatte ich bloss getan?! Mit der langen Klinge in der Hand musste ich aussehen, wie ein Massenmörder, der sich an ängstlichen Mädchen vergnügte. Meine blonden Haare mit den goldenen Strähnen fielen mir zerzaust in die Stirn. Ich trug ein enges, weisses Shirt, dass meinen stark gebauten, muskulösen Körper zum Vorschein brachte und eine dunkle Jeans, um welche das Waffen-Set gebunden war. Meine blauen Augen musterten sie intensiv. Ich musste wirklich wie ein Mörder aussehen.

"N-Nein, bitte nicht..." Ich hebte beschwichtigend meine freie Hand.
"Ich will dir nichts tun!", versuchte ich sie zur Ruhe zu bringen.
Sie fauchte zurück: "Was willst du dann? Du hast dich angeschlichen, mich beobachtet und schliesslich zu Tode erschreckt. Nenn mir einen Grund, wieso ich dich nicht mit meinem Pfeil durchbohren sollte?"
Überlegen, überlegen. Ich war kein Weichei. Und wollte auch nicht so wirken.
"Wenn du willst, töte mich. Eigentlich wollte ich dir nur helfen."Ich deutete auf ihre zerrissene Kleidung. "Was auch immer dir zugestossen ist, es scheint nichts gutes zu sein." Mit diesen Worten liess ich mein Messer fallen und öffnete den Gurt um meine Hüfte. Mitsamt all meinen Messern und Waffen gleitete er scheppernd zu Boden. Ein gefährliches Manöver, aber es könnte funktionieren. Sie zuckte kurz zusammen, sammelte sich aber kurz danach wieder.
Ich fasste wieder das Wort: "Siehst du." Ich machte einen grossen Schritt über die Waffen hinweg auf sie zu. Weiterhin liess sie den Pfeil auf mich gerichtet, wenn sie auch aufhörte zu zittern. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Doch es schien sie nicht zu beruhigen. "Was muss ich denn noch tun, damit du mich nicht als deinen Killer siehst?" Fragte ich. "Du könntest Kampftechnik anwenden und mich schliesslich doch überrumpel. Auch ohne das da." Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Waffen, der Blick blieb jedoch konzentriert auf mir.
War das ihr Ernst? Ich konnte es nicht unterdrücken. Ein lautes Lachen drang aus meiner Kehle und erfüllte die Stille. Sie wirkte verwirrt darüber. Genau wie ich. "Ja, das könnte ich locker. Aber hätte ich es nicht schon lange getan? Ich hätte dich schon lange getötet, wäre das meine Abicht."
Ich versuchte meine angespannten Muskeln zu lockern und schritt an ihr vorbei auf den Bach zu, in dem sie sich vorhin gewaschen hatte. Jede meiner Bewegungen verfolgte sie mit wachsamem Blick. Ich kniete mich vor den Bach, formte meine Hände zu einer Schale, tauchte sie in das kühle, erfrischende Wasser und trank gierig einen Schluck daraus. Ich musste darauf vertrauen, dass sie mich nicht von hinten attakierte. Im Nacken immer noch das Prickeln ihrer wachsamen Augen. Als ich mich wieder aufstellte und mich zu ihr umdrehte machte ich eine erleichternde Festellung. Sie hatte den Bogen gesenkt. Entweder war sie zu feige, mich zu töten, oder sie vertraute mir wirklich.
"Endlich. Ich bin Alexander." Ich streckte ihr meine Hand hin und sie nahm sie zögerlich entgegen. Es war eine warme Berührung. Und doch so voller Furcht.
"Ich will dir helfen, also bitte folge mir." Mit einem Lächeln versuchte ich glaubenswürdig zu wirken. Auch wenn ich nicht log. Ganz langsam duckte ich mich, um meine Waffen aufzuheben. Meine Fingerspitzen berührten bereits den Gürtel und den kalten Griff des Messers, als ich mich zu ihr umdrehte. "Die hier muss ich mitnehmen, tut mir leid. Aber sonst kan ich dir nichts kochen." Ein Zögern blizte in ihrem Gesicht auf, doch ich packte meine Sachen und stand wieder auf. Ich machte mich bereits auf den Weg und rechnete schon damit, sie würde einfach stehen bleiben und mich alleine davonziehen lassen. Aber das tat sie nicht. Ich hörte ihre Schritte hinter mir und Erleichterung schlich sich in meine Gefühle.

Sie folgte mir.
Sie folgte mir ins Ungewisse.
Sie hatte Vertrauen in mich.
Ich könnte alles mit ihr machen, was ich machen möchte.
Niemand würde sie retten.
Niemand würde für sie da sein.
Da war ich mir sicher.

Und deshalb wollte ich der sein, der sie retten würde.
Der für sie da sein würde.

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