~• Kapitel 1 •~
SAYANA
Ein unendlich lautes Dröhnen verhallte in meinen Ohren. Ich zwang mich dazu, still stehen zu bleiben. Mein Herz schien mir fast aus der Brust zu springen. Mein Atem ging keuchend und schnell, viel zu schnell. Keines meiner Trainings früher hatte mich auf einen solchen Adrenalinstoss vorbereitet, mich auf einen Wettlauf mit dem Leben und dem Tod vorbereitet.
Ich hob langsam den Kopf. Sofort schlugen mir wieder die dicken, nassen Wassertropfen ins Gesicht und rannen über meinen ganzen Körper hinab. Dies liess einen kalten Schauer über meinen Rücken wandern. Meine schmutzigen Kleider waren durchgetränkt mit Wasser und an manchen Stellen sogar mit Blut. Trotz der Anstrengung fröstelte ich jetzt unter meinen kalten Kleidern. Der zerrissene, schulterfreie Rock in den dunkeln Blautönen einer beginnenden Sommernacht half nicht gerade dabei, mich warm zu halten und schon gar nicht dabei, schnell zu flüchten. Wenigstens war ich damit etwas getarnt in dem prasselnden Regen und der Nacht um mich herum. Mein langes, rotes Haar klebte mir im Gesicht und im Nacken. Meine aufgeschürften Handflächen brannten höllisch. Ich ballte beide Hände zu Fäusten und versuchte den durch diese Bewegung schlimmer werdenden Schmerz zu unterdrücken. Mein ganzer Körper schien aufgeschunden zu sein und überall brannte es auf meiner Haut und in meinem Innern. 'Sayana', redete ich mir ein, 'Immer weiter. Renn weiter. Du hast es fast geschafft. Nur noch ein kleines Stück'. Das Dröhnen, was sich als Donner herausstellte, verhallte ganz und ich hörte wieder nur den schlagenden Regen und die entfernten Rufe meiner Verfolger. Wie weit waren sie entfernt? Ich schätzte unseren Abstand auf mindestens hundert Meter.
Für mich waren diese hundert Meter entscheidend über Leben oder Tod.
Würden sie mich finden, dann... Ach nein, ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was dann geschehen würde.
Fest entschlossen richtete ich meinen Blick wieder auf den schlammigen, rutschigen Boden vor mir. Das tobende Unwetter machte dies alles nicht einfacher...
Die Rufe wurden lauter und ich wusste, dass ich zu viel Zeit damit verbraucht hatte, kurz zu Atem zu kommen.
Vor mir lag ein kleines Sumpfgebiet ,soweit ich das in der undurchdringlichen Finsternis erkennen konnte. Oder war es lediglich eine Wiese?
Mein Verstand schien mir bereits den ersten Streich zu spielen.
Auf jeden Fall musste ich das Gebiet schnell hinter mir lassen. Es gab keine Schutz bietenden Bäume. Nichts, was mich vor einem Schuss oder hinterhältigen Angriff bewahren würde. Aussen herum in der Sicherheit der Bäume zu entkommen, würde viel zu lange dauern.
Also machte ich einen Schritt nach vorne, einen Schritt, der mir sehr viel Überwindung kostete. Sofort spürte ich, wie der flüssige Sumpf unter meinen Füssen nachgab. Ich sackte fast bis zu den Knien in eine sumpfige Masse. Ich unterdrückte ein Würgen. Denn die Konsistenz dieses Morastes fühlte sich zäh und warm an. Erinnerte nur zu gut an Blut. Vor meinem inneren Auge sah ich mich nichtsahnend durch einen Teich voll Blut wadten, das an meinen Händen, Beinen, meinem Gesicht und überall an mir klebte.
Schritt für Schritt, immer weiter. Es war schwer das Gleichgewicht zu halten. Der Rock hatte sich schnell vollgesaugt und verdoppelte das Gewicht, welches ich durch diesen Matsch zu schleppen hatte nur noch. Es war vergebens, zu versuchen ihn hochzukrempeln. Plötzlich stürzte ich und die Masse verschlang nun auch meine halben Arme. Es brannte schrecklich, da meine Arme verkratzt und verstochen von Dornen und Mücken waren. Der modrige Geruch schlug mir wie ein Fausthieb entgegen und nahm mir für einige Sekunden die Luft. Zum Glück hatte ich mir meinen Bogen um die Schulter geworfen, so dass er einige Zentimeter über der zähen Flüssigkeit baumelte.
Es war schwerer mich aufzurichten, als ich dachte, kostete mehr Kraft. Doch ich schaffte es knapp und kämpfte mich weiter. Wie weit würden sie mich verfolgen?
Nach einer halben Ewigkeit kam ich schliesslich am anderen Ufer an.
Ich klammerte mich an den ersten Büschel, den ich zu Gesicht bekam. Ein Fehler, denn hierbei, bemerkte ich, als ein stechender Schmerz meine Hand und Finger durchzuckte, handelte es sich um einen Dornenstrauch.
Ein schluchzendes Stöhnen entfuhr mir, doch ich lockerte meinen Griff nicht.
Und dann, dann kamen sie am anderen Ufer an. Meine Verfolger hatten mich aufgeholt...Zwischen uns lag nur noch das Moorgewässer.
Ich hörte ihre Rufe nur noch knapp, da ein lautes dröhnendes Pfeifen in meinen Ohren begonnen hatte, das mir heftige Kopfschmerzen bereitete.
Zum Glück hatten meine Verfolger keine Augen wie die einer Eule und konnten mich im ersten Augenblick in der zerfressenden Nacht nicht ausfindig machen. Diesen Augenblick nutzte ich, um mich ganz aus dem Schlamm zu ziehen. Mein Kleid heraus zu hieven war eine riesige Herausforderung. Ich fürchtete bereits, dass mein erschöpftes Keuchen mich verriet.
Aber so war es nicht.
Ich klammerte mich an den nächsten Baum und fuhr langsam mit dem Daumen über die harte, spröde Rinde. Das Gefühl, dieser kalten Rinde erweckte alte Erinnerungen in mir. Meine Gedanken rasten zurück an den Tag, an meinen zwölften Geburtstag. Mein Vater hatte mir versprochen, er würde mir meinen eigenen Baum pflanzen. Jede Königstochter bekam an ihrem zwölften Geburtstag ihren eigenen Baum geschenkt. Würde er gedeihen und wachsen war dem Königreich gutes Prophezeit. Doch würde er vor seinem Aufblühen sterben, würde das Königreich in Ungnade fallen.
Eigentlich wusste ich immer, dass das nur Märchen waren aber wieso blühte meine Trauerweide nie auf? Jeden Tag lief ich zu dem armseligen Baum und umarmte ihn, in der Hoffnung, es würde neues Leben in ihm schaffen. Statt in seiner vollen Pracht zu wachsen wurde mein Baum klein und trug keine Blüten.
Wusste er, was in Zukunft passieren würde? Das das Königreich zerstört werden würde?
Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass es nur reiner Zufall war. Es musste Zufall sein.
Lautes Fluchen riss mich aus meinen Erinnerungen. Ich riss den Kopf hoch und lauschte gespannt. Wie aus dem Nichts hatte das Dröhnen in meinen Ohren aufgehört und da ich lange fast nichts gehört hatte, kamen mir die Worte jetzt überlaut vor. Ich nahm jedes noch so kleine Geräusch, jedes Rascheln, fast sogar jeden zu Boden fallenden Regentropfen wahr. Mit langsamen Bewegungen drehte ich meinen Rücken zum Baum und lehnte mich dagegen, um das Geschehen besser beobachten zu können. Fast wäre mir ein erleichtertes Stöhnen über die Lippen gekommen. Ich wollte, dass sich meine Muskeln entspannten, aber sie zitterten immer noch vor Anstrengung und waren angespannt vor Unruhe. Ich konnte nicht weiter. Würde keinen einzigen Meter mehr vorwärtskommen. Also musste ich eine andere Taktik anschlagen, mich zu verstecken.
"Kehren wir um, die werden wir nie mehr finden und bis morgen, bis morgen schafft die es nie. Nicht unter diesen Umständen." sagte die eine Stimme.
"Vergiß es!", fauchte eine andere zurück ,"Wir haben die Befehle unseres Herrn. Und die haben wir zu befolgen."
"Das glaubst du doch selbst nicht. Such du nur, ich und der Rest der Männer gehen jetzt. Will der Herr sie morgen immer noch tot sehen, machen wir uns wieder auf den Weg und suchen sie. Sei sie tot oder lebendig, dann werden wir sie finden." Zustimmendes Gemurmeln der Anderen erfüllte den Wald. 'Ja, ja. Glaub ihm. Kehr um. Komm mich morgen suchen, heute wirst du mich nicht finden', versuchte ich dem Typen durch meine Gedanken einzureden, obwohl ich nicht wusste, ob wahr war, was ich unbedingt wahr werden lassen möchte.
"Wie ihr wollt." der Typ wollte sich wohl nicht davon abbringen lassen. Er stieg von seinem Pferd, drehte sich um und durchforstete den Wald mit seinem stechenden Blick. Mit geschmeidigen Bewegungen drückte ich meinen Rücken stärker gegen den Baum. Ich konnte jeden Ritz, jede Unebenheit darin spüren. Ich umklammerte den Bogen in meinen Händen nur noch fester. Nie hätte ich das Schloss ohne ihn verlassen. Das weiche Eschenholz mit den goldenen Verzierungen und dem Köcher, den ich mir vor meiner Flucht um die Schultern geworfen hatte. Darin lagen sieben vergoldete Pfeile. Sieben, meine Glückszahl. Dort wo ich herkomme sollen goldene Pfeile Glück auf der Jagd bringen. Aber ob das wirklich so war... Meine grosse Schwester, von welcher ich meine Lieblingswaffe bekommen hatte, war fester Überzeugung davon. In unserem Land gab es aber auch so viele Sagen und Legenden, dass nicht jede davon der Wahrheit entsprechen konnte.
Den Pfeil bereits eingespannt wartete ich. Würde dieser Typ näher kommen, wäre das sein Todesurteil. Aber vielleicht auch meines. Wenn ich nach dem Schuss nicht schnell genug davon laufen könnte, würde ich seinen Komplizen und somit ihrem Herren in die Hände fallen. Und das sollte auf gar keinen Fall passieren. Niemals.
"Rasien, so meinte ich das nicht, wir sollten uns nicht aufteilen. Der Wald ist gefährlich, vor allem nachts." Erwiederte der Typ, der unbedingt nach Hause wollte.
Rasien liess seinen Blick noch einmal durch den Wald schweifen und...
Erleichtert stellte ich fest, dass er sich abwendete. Von meinem Versteck aus konnte ich alles durch einen schützenden Brombeerstrauch beobachten. Soweit es die Dunkelheit zuliess.
Rasien rieb sich verschlafen mit dem Daumen über die Augenlieder. Er war gross, nein riesig und muskulös gebaut. Seine kurz geschorenen Haare und die braune Haut liessen ihn aggressiv wirken. Schon früher, als er noch nicht hinter mir her war und unseren Hof betreten hatte, flöste er mir eine unerklärliche Angst ein.
"Inzwischen ist sie bestimmt schon über alle sieben Berge." sagte er.
Mit diesen Worten stieg er wieder auf sein ungeduldiges Pferd und gallopierte mit seiner Gruppe Kriegern davon.
Als sie weit genug entfernt waren wurde ich von der Stille erschlagen. Um mich schien jedes Geräusch zu verstummen und meine Ohren liessen nur Platz um meinen pochenden Herzschlag zu hören, der sich langsam beruhigte.
Ich sollte weiterrennen, so viel Distanz wie möglich bis zum Morgengrauen zwischen mich und mein Zuhause bringen. Vor allem jetzt, da der Regen aufgehört hatte, was ich erst jetzt bemerkte.
Aber ich konnte mich nicht bewegen. Jeder meiner Muskeln brannte uns sehnte sich nach Ruhe. Mein Verstand und mein Körper wollten beide etwas anderes. Doch schlussendlich überkam mich die Müdigkeit. Ich hatte es geschafft! Schliesslich hatte ich es vorerst geschafft.
Schlussendlich vielen mir nach einigen Minuten die Augen trotz der Umstände schwer zu. Ich wollte nur noch schlafen. Wollte nur noch alles in meinem Schlaf vergessen. Wollte an den Ort in meinen Träumen, wo es keinen Schmerz, keine Ängste und nichts, absolut nichts böses gab.
Doch in meinen Träumen spukte nur ein Gedanke herum:
Er wird die Jagd niemals aufgeben.
Die Jagd nach mir.
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