Beach House
Zunächst blieb ich in einiger Entfernung stehen und beobachtete ihn eine Weile. Er hatte einen weißen, wattierten, nicht mehr ganz sauberen Pullover an und eine alte schwarze Jeans. Dazu schwarze Leinenturnschuhe. Obwohl es die letzten Tage nicht warm war, hatte ich ihn noch nie mit einer richtigen Jacke gesehen. Ich hingegen war dick vermummt und hatte einen Schal um.
Er malte offensichtlich.
Viel Geld schien er nicht zu haben. Zumindest, wenn man seine Kleidung betrachtete. Aber er sah unglaublich gut darin aus. Es passte irgendwie zu ihm. Seine Haare umspielten sein wirklich hübsches Gesicht. Er hatte blaue Augen. Das konnte ich sehen, als unsere Blicke sich im Deutschunterricht trafen. Außerdem wurden sie von dichten, schwarzen Wimpern umrahmt. Sie haben mich gleich magisch angezogen. Er hatte trotz Winter eine leicht gebräunte Haut. Es schien sein natürlicher Teint zu sein.
Langsam ging ich auf ihn zu. Da ich schräg von der Seite auf ihn zulief, sah er mich nicht kommen.
Ich versuchte, einen Blick auf seinen Block zu erhaschen, aber da bemerkte er mich schon und zuckte zusammen. Den Block klappte er schnell zu.
„Entschuldigung", sagte ich, ebenfalls zusammenzuckend, "ich wollte dich nicht erschrecken! Was malst du?"
„Nichts."
Er sprach!
Aber gleichzeitig stand er auf und wollte gehen. Er steckte den Stift und den Block in seine Schultasche.
„Ich bin Kathi!", sagte ich schnell.
„Schön." Er nahm seine Tasche endgültig auf und ging einfach, ohne mich anzuschauen.
Ist ja super gelaufen, dachte ich frustriert. Ich blieb wie angewurzelt unter dem Baum stehen.
Immerhin zwei Worte, für den Anfang nicht schlecht! Er hatte eine raue, aber schöne Stimme, sofern man das bei zwei Worten überhaupt erkennen konnte!
Nachdem ich einen Augenblick ratlos unter dem Baum stehen geblieben war, machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Es war kalt. In Gedanken verloren setzte ich mich ins Wartehäuschen und erst einen kurzen Augenblick später bemerkte ich, dass es Niall war, der neben mir saß und die Augen geschlossen hatte. Er lag in dem Sitz und hatte die Hände in den Taschen vergraben. Die Kaputze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Kleine Wölkchen schossen aus seinem Mund beim Ausatmen.
„Oh, du musst auch mit diesem Bus fahren?", entfuhr es mir.
Nein, er genießt hier nur die Sonne.
Er riss die Augen auf und starrte mich unter der Kaputze heraus an. Der Bus kam in diesem Moment und er stand wieder ohne ein Wort auf und stieg ein. Er setzte sich direkt vorne auf den Einzelplatz. Wütend darüber ließ ich mich hinter ihm nieder.
Meine Güte, man wird doch mal ein paar Worte wechseln können, ohne dass einem ein Zacken aus der Krone fällt!
Was hatte er denn gegen mich? Er kannte mich doch gar nicht!
Mir fielen Claires Worte ein.
Er sprach mit niemandem, es lag also nicht allein an mir. Beruhigt ließ ich mich nach hinten, an die Rücklehne fallen. Wo er wohl ausstieg? Ich war plötzlich brennend interessiert daran, herauszufinden wo und wie er lebte. Irgendwie war er geheimnisvoll.
Zu meinem Bedauern musste ich früher aussteigen als er. Somit erfuhr ich heute nicht mehr, wo ungefähr er wohl wohnte. Aber ich sah aus den Augenwinkeln, wie er mich durch das Fenster beobachtete. Na, wenigstens eine Reaktion!
Am nächsten Tag sah ich ihn nur im Unterricht, aber natürlich wechselten wir kein Wort miteinander. Er schien auch nicht mit dem Bus zu fahren, jedenfalls stand er nicht an der Bushaltestelle.
Heute war Mittwoch und nach der Pause, als ich zum Sport wollte, sprach mich Frau Kreuz an. Sie fing mich vor der Turnhalle ab.
„Kathi, warten Sie mal einen Augenblick!" Sie kam auf mich zu gelaufen. Abwartend bleib ich stehen.
„Ich habe mit Niall gesprochen und ihm nahe gelegt, bei Ihnen Nachhilfe zu nehmen.
Er ist mehr oder weniger einverstanden. Sie sollten mit ihm also eine Zeit und einen Ort ausmachen, wenn Sie es immer noch wollen!"
Natürlich wollte ich.
„Er hat gesprochen? Mehr wie zwei Worte habe ich von ihm noch nicht gehört!", sagte ich gespielt erstaunt.
Frau Kreuz lächelte. „Immerhin, und außerdem hat er Ihnen schon mal in die Augen geschaut. Das ist schon mehr, als den anderen Mädchen vergönnt war!"
Ich errötete. Frau Kreuz lachte.
„Also, ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie miteinander klar kommen, er braucht Ihre Hilfe und es täte ihm gut, wenn er mal mit einem menschlichen Wesen seinen Tag verbringen würde! Er kapselt sich sehr ab, das tut ihm nicht gut."
Sie verabschiedete sich, da sie ebenfalls zum Unterricht musste.
In Gedanken an das Bevorstehende ging ich zur Umkleidekabine. Wir Mädchen hatten getrennt Sport, da wir zurzeit tanzten und die Jungen Handball spielten.
Nachdem ich mich umgezogen hatte, ging ich zur Tribüne des Hallenteils, wo die Jungen Handball spielten. Ich war noch nicht dran mit Vortanzen, da es nach Alphabet ging, also beschloss ich mal zu schauen, was Niall machte.
Er spielte zumindest mit. Und das gar nicht schlecht. Er schien sportlich zu sein. Seine kräftigen Waden ließen mich zumindest zu diesem Entschluss kommen. Claire setzte sich zu mir.
„Beobachtest du Niall?"
„Ja."
Gab ich zu.
„Ich soll ihm Nachhilfe in Deutsch geben, außerdem habe ich das Gefühl, Fr. Kreuz möchte, dass sich jemand seiner annimmt! Er wäre zu viel allein, wie sie sich ausdrückte!"
„Hm, würde mich eigentlich auch mal interessieren, warum er so introvertiert ist. Aber er ist immer so schnell verschwunden, dass man keine Chance hat, an ihm heranzukommen."
„Er fährt mit demselben Bus wie ich", merkte ich an und überlegte, wie ich ihn wegen der Nachhilfe ansprechen sollte.
Plötzlich fühlte ich, dass er mich ebenfalls ansah. Er hatte kurz sein Spiel unterbrochen, als er zur Tribüne hoch blickte. Doch sein Gesicht verriet nichts. Dann wandte er sich auch schon wieder seinem Einwurf zu.
Schnell gingen wir wieder zu den anderen Mädchen in die Halle. Nach den zwei Stunden Sport ging ich duschen und hoffte, dass Niall wieder unter dem Baum saß, damit ich ihn ansprechen konnte.
Aber leider war dem nicht so. Ich lief schnell zum Bus, der auch schon an der Haltestelle stand und stieg ein.
Er saß widererwarten schon darin. Dieses Mal aber nicht auf dem Einzelplatz.
Zögernd ging ich auf ihn zu. Wie sollte ich anfangen?
Plötzlich setzte der Bus sich in Bewegung und ich fiel durch die ruckartige Bewegung auf den leeren Platz neben ihm. Dabei stützte ich mich versehentlich auf seinem Oberschenkel ab. Unwillkürlich ergriff er mein Handgelenk und versuchte mich zu halten, damit ich nicht gänzlich auf ihn fiel. Dabei kam ich ihm so nahe, dass ich seinen Geruch in die Nase bekam. Er roch nach einem herben Duschgel, welches mich an Meeresluft und reiner Wäsche erinnerte. Tief atmete ich ihn ein. Dann richtete ich mich schnell auf. Genauso schnell, wie er zugepackt hatte, ließ er mich wieder los, so, als ob er sich verbrannt hätte und starrte auf seine Hände.
„Entschuldigung", murmelte ich verlegen und setzte mich ordentlich auf den leeren Platz. Er drehte sich von mir weg. Immerhin saß ich jetzt schon mal neben ihm.
„Schon gut", brummte er und sah aus dem Fenster. Da ich wusste, dass ich zuerst aussteigen musste, überlegte ich krampfhaft, wie ich anfangen sollte.
„Niall, ich ... soll dir ein wenig ... Nachhilfe in Deutsch geben, wie du wohl weißt", fing ich an, aber er reagierte nicht darauf. Also versuchte ich es weiter.
„Wie wäre es, wenn ... ich vielleicht ... später oder morgen ... zu dir komme und ich schaue mir an, was du ... für Schwierigkeiten hast?", stotterte ich herum.
Herje, warum war er auch so abweisend? Kein Wunder, dass sich alle abwendeten.
Plötzlich schaute er mich an.
Ich schluckte, seine Augen funkelten dunkel, er senkte den Blick, als er endlich anfing zu sprechen.
„Ich weiß, fahr einfach 3 Haltestellen weiter und steige dann aus. Der Bus hält direkt am Strandhaus. Bin zu Hause."
Ich klappte den Mund auf und starrte ihn an. Das waren zwei ganze Sätze!
Er hatte wirklich eine wunderschöne tiefe Stimme. Vermischt mit irgendeinem Akzent, nur ganz leicht, aber er war da. Er hatte einen ausländischen Nachnahmen, Horan, genau, er klang irisch. Ob sein Vater Ire gewesen war? Mir fiel plötzlich ein, dass seine Eltern ja tot waren. Wieder erfasste mich eine Welle des Mitleids. Was er wohl schon alles durchgemacht hatte?
Leider hielt der Bus und ich musste aussteigen.
„Bis später dann", brachte ich nur heraus und ging.
Einen Augenblick schaute ich dem Bus hinterher. Ach, wir hatten gar keine Zeit ausgemacht!
Aber er wäre zu Hause, hatte er gesagt. Er war wirklich schwer zu knacken. Aber hatte ich echt erwartet, dass er sich mir mehr öffnen würde, als den Anderen? Wer war ich denn schon!
Nachdenklich ging ich noch ein Stück, bis ich bei mir daheim ankam. Meine Mutter war im Garten und schaute nach den Blumen. Der Winter war dieses Jahr sehr milde. Sie überlegte wohl, wie sie den Garten nach ihrem Geschmack gestalten wollte. Schließlich werden wir hier noch ein paar Jahre wohnen!
„Hallo Mama, hast du heute frei?", fragte ich sie erstaunt, da sie sonst um diese Zeit in einer Arztpraxis arbeitete.
„Ja, habe ich!", sagte sie lächelnd. „Wie war die Schule?"
„Wie immer halt. Ich werde gleich zu einem Mitschüler fahren, um ihm Deutschnachhilfe zu geben", gab ich ihr zu verstehen und wollte ins Haus.
„Ist gut, sei nicht zu spät zurück", antwortete sie und widmete sich wieder der Botanik.
Aber es waren wohl keine Blumen und Büsche verfroren, da sie zufrieden schien. So brauchte sie nicht so viele neue Blumen anpflanzen!
Zunächst machte ich meine eigenen Hausaufgaben. Mein Zimmer war recht groß, aber gemütlich. Ich hatte einen eigenen Fernseher und auch einen Laptop. Das Haus hatten wir gekauft, es ging uns gut.
Dann packte ich ein paar Unterlagen in meine Tasche. Ich aß noch eine Kleinigkeit und lief wieder zum Bus.
Ich fuhr die angegebenen drei Haltestellen weiter und stand tatsächlich vor einem alten kleinen Strandhaus, an einem großen See. Es war etwas außerhalb von München. Im Sommer musste es herrlich sein, so nahe am Wasser zu leben. Ich war beeindruckt. So etwas hatte ich nicht erwartet. Ich stieg aus dem Bus und ging ein paar Meter den Bordstein entlang.
Dann bog ich nach rechts auf einen kleinen Weg ab, der direkt zum Haus führte.
Langsam lief ich den Kiesweg entlang. Das Strandhaus sah schon ziemlich alt und verwittert aus, aber es hatte einen gewissen Charm.
Irgendwie gab es keine Haustür, also lief ich um das Häuschen herum und stand plötzlich vor einer Art Terrasse. Dort war eine Bank, auf dieser saß ein alter Mann und rauchte eine Pfeife. Er sah ein bisschen aus wie ein Seemann. Ob ich hier richtig war?
„Guten Tag, ich bin Kathi Timmer. Ich bin mit ... Niall verabredet, wohnt er hier?", fragte ich höflich den alten Mann.
Er schaute mich mit freundlichen Augen an. „Davon hat er gar nichts erzählt!"
Das konnte ich mir vorstellen, dann hätte er ja sprechen müssen, dachte ich resigniert.
„Oh, ist er denn da?", fragte ich enttäuscht. Aber wir hatten ja auch keine Zeit klar gemacht.
„Nein, Mädchen, er ist einkaufen, aber du kannst gerne hier warten, er wird sicherlich gleich wieder da sein!", erwiderte der Mann freundlich. Ich setzte mich zu ihm auf die Bank.
„Ich bin Paul, sein Großonkel!" Er hielt mir seine Hand hin. Ich nahm sie und er schüttelte sie kräftig.
„Wohnen Sie auch hier?" fragte ich neugierig, vielleicht würde ich noch ein wenig über Niall erfahren.
„Ja. Es ist mein Haus. Nun wohnt auch Niall hier, er hilft mir bei der Arbeit. Die alten Knochen wollen nicht mehr so, bin lange zur See gefahren. Das Wetter hat meinen Körper kaputt gemacht. Bist du mit ihm auf der Schule?"
„Wir sind im selben Jahrgang, ich bin erst vor ein paar Wochen hier her gezogen. Mein Vater ist bei der Bundeswehr. Ich komme wegen... Nachhilfe in Deutsch!", sprudelte ich heraus.
In diesem Moment sah ich Niall aus dem Bus steigen mit einem großen Rucksack auf dem Rücken und noch zwei Taschen in der Hand. Es gab wohl kein Auto zum Einkaufen.
Ich stand auf.
„Hallo Niall!", sagte ich nur, ich war mir nicht sicher, wie ich reagieren sollte. Wusste er noch, dass ich heute kommen wollte?
„Hi", sagte er nur und ging an mir vorbei ins Haus. Ich schaute Paul an. Der deutete an, ihm ins Haus zu folgen. Zögernd stand ich auf. Aber er hatte gesagt, ich solle kommen.
Also ging ich entschlossen Niall hinterher. Er ging durch die kleine weiße Tür, die wie eine Hintertür aussah und ich folgte ihm. Es gab eine Klingel auf der zwei Namen standen. "Johnson" und „Horan".
Ich trat durch diese Tür und stand in einer Art Wohnküche, es gab eine Küchenzeile und einen Tresen davor, an der man Sitzen und essen konnte, und davor wiederum stand ein altes Sofa mit Blick auf einen Fernseher, der vor dem Fenster stand. Wenn man rein kam, ging links eine Tür ab und zwischen Küchezeile und Tür gingen zwei Stufen hoch zu einer weiteren Tür und rechts davon ging eine Treppe ins obere Stockwerk.
Niall legte die Tüten auf den Tresen und nahm den Rucksack vom Rücken. Er zog seine Jacke aus und hängte sie ordentlich an eine Garderobe neben der Tür rechts. Ich überlegte kurz und zog ebenfalls unaufgefordert meine Jacke aus. Wenn er dachte, ich würde einfach wieder gehen, wenn er nicht sprach, hatte er sich aber getäuscht!
„Soll ich dir auspacken helfen?", bot ich an und griff nach der Tüte. Er zuckte mit der Schulter und nickte. Während ich also alles auf dem Tresen verteilte, ging er zu einem kleinen Ofen neben der Haustür und machte ein Feuer an. Fasziniert beobachtete ich ihn dabei.
Er trug nur ein graues Muskelshirt über seiner Jeans. Man sah seine kräftigen Oberarme und wie die Muskeln arbeiteten, als er das Holz geschickt stapelte. Schnell brannte das Feuer und eine wohlige Wärme machte sich breit.
Er stellte anschließend einen Wasserkessel auf den Herd.
„Magst du Tee?", fragte er plötzlich und schaute mich durchdringend an.
„Äh, was? ... Ja, ... ja gern!", stotterte ich. Ich hatte ihn so dermaßen verzückt angestarrt, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie er sich an mich gewandt hatte.
Er ging zum Küchenschrank und nahm zwei Tassen heraus. Zucker und zwei Teebeutel folgten.
Während das Wasser begann zu kochen, räumte er den Einkauf weg. Dann goss er das Wasser in die beiden Tassen und stellte sie auf dem Tisch vor dem Sofa.
„Was ... braucht du... für die Nachhilfe?"
Ich bat um seine Schreibhefte und setzte mich auf das Sofa. Er ging die Treppe hoch und kam kurze Zeit später mit zwei Heften wieder. Offensichtlich hatte er sein Zimmer oben. Wortlos hielt er mir die Hefte hin und setze sich auf den kleinen Hocker neben dem Sofa.
Er mochte wohl keine Nähe.
Ich nahm das erste Heft und blätterte es durch.
„Es ist wohl hoffnungslos", seufzte er und schaute mich an.
„So schnell gebe ich nicht auf!", sagte ich zweideutig und lächelte ihn an.
Nein, ich werde ihn definitiv nicht aufgeben. Ich werde seinen Panzer knacken.
Das erste Kapitel meine lieben.
Wie findet ihr Niall?
Habt ihr schon Vermutungen wie es weiter gehen kann?
Ich bin wirklich gespannt auf eure Kommentare.
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