Der Sturm
Nicht alle Stürme kommen um
unser Leben zu zerstören,
manche kommen,
um uns neue Wege zu eröffnen.
Die Nacht war bereits vor einer guten halben Stunde angebrochen. Skip liegt zusammengerollt neben mir und atmet ruhig. Er hatte das Stück Fleisch gefressen und war kaum eine Sekunde später in einem tiefen Schlaf versunken. Auch wenn er nicht sonderlich ruhig zu sein scheint, ist er dennoch relativ genügsam. Langsam lasse auch ich mich in eine liegende Position gleiten. Skips ruhige Atemzüge sind erstaunlich entspannend. Sie erinnern mich daran, dass ich nicht immer alleine war, dass ich nicht alleine bin. Seine Atemzüge sind der Grund für den ruhigen Schlaf, den ich seit Jahren nicht mehr hatte. Sie geleiten mich in utopische Träume und Gegenden, nicht in Erinnerungen, sondern in neue Welten. Auf andere Planeten, vielleicht auch ins Jenseits.
An einen besseren Ort, als diesen hier.
Und das erste Mal, seit langem, träume ich.
Am nächsten Morgen werde ich von einem Bellen geweckt.
Skip ist aufgesprungen und steht neben mir. Er zieht seine Lefzen hoch und sein Fell sieht aus, als wäre es geladen. Sofort springe auch ich auf.
Nichts.
Weit und breit ist nichts und niemand zu sehen. Skip bellt etwas an, das nicht da ist.
Noch nicht.
Ich greife die Tüte, die mir der Mann gegeben hat. In ihr befindet sich mein gesamtes Essen.
„Komm Skip!", rufe ich.
Er wäre mir wahrscheinlich sowieso gefolgt, und keine Minute später rennt er bellend vor mir her. Er rennt anders, als noch am vorigen Tag. Gestern rannte er in wirren Kreisen umher, heute aber rennt er geradewegs Richtung Süden. Ich weiß, ich muss ihm folgen. Der tierische Instinkt ist tausendmal besser, als der des Menschen. Nur ein Idiot würde in die entgegengesetzte Richtung laufen. Also folge ich Skip, der immer schneller wird. Auf einem kleinen Hügel hält er an und blickt zurück, beginnt lauter zu bellen als zuvor. Ich drehe mich nicht um. Wenn ich es tue, werde ich etwas sehen, das mir nicht gefällt. Tiere rennen nicht aus Spaß in eine bestimmte Richtung, ohne sich einmal umzusehen. Deshalb renne ich weiter, immer dem wuscheligen Kopf vor mir hinterher, der manchmal zwischen den Dünen hervorlugt. Der Boden beginnt langsam fester zu werden. Der Sand und der getrocknete Schlamm, werden von Teer und Steinen abgelöst. Früher war hier vermutlich einmal eine Straße gewesen. Heute ist diese jedoch nicht mehr als ein Häufchen Dreck. Um es genau zu nehmen ist heutzutage fast alles Dreck: Die früheren Wälder sind grau und die Wolken trüb. Dennoch ist die Straße ein gutes Zeichen für mich. Es heißt, in der Nähe gibt es ein Dorf oder eine kleine Stadt. Vielleicht gab es auch nur irgendwann einmal eine solche, die heute nur noch aus Trümmern besteht. Doch selbst wenn, jedes mögliche Szenario bedeutet ein möglicher Unterschlupf für mich, vor der Gefahr die bis jetzt nur Skip wahrnehmen kann. Die Landschaft verändert sich, doch ich habe keine Zeit auf sie zu achten. Es nähert sich.
Und dann höre auch ich es; Das bedrohliche Grollen und Donnern des sich nähernden Sturmes. Die hohe Luftfeuchtigkeit wird mir schlagartig bewusst und auch Skips Fell sträubt sich Richtung Himmel. Wir müssen weg von hier.
Das wohl Erste, das mir meine Eltern beibrachten als wir im Freien lebten, war, dass ich, sobald der Himmel von Blitzen und Donnergrollen beherrscht wurde, sofort Schutz suchen und soweit weglaufen sollte, wie nur möglich. Mittlerweile weiß ich wenigstens das besser. In einer der Gruppen, der ich einmal zugehörte, gab es eine Frau die früher einmal Lehrerin gewesen war. Sie erzählte mir, dass bei aufstehenden Haaren ein Blitzeinschlag in deiner Nähe stattfinden wird. Dies komme von der elektrischen Spannung in der Luft. Auf gar keinen Fall sollte man davonrennen, sagte sie. Stattdessen, erklärte sie mir, solle ich eines der alten Autos aufsuchen und mich dort verbarrikadieren. Dort sei man sicher. Beim Davonlaufen bestände die Gefahr einer ‚Schrittspannung', was genau das war erklärte sie mir nicht mehr. Aber sie sagte, dass, falls jemals einer von uns von einem Blitz getroffen werden sollte, jederzeit erste Hilfe geleistet werden darf, da der Körper die Elektrizität sofort wieder an den Boden abgeben würde.
Ich bin noch ein gutes Stück von der nächsten Stadt entfernt und Autos kann ich nirgends sehen. Das Einzige, das mir weiterhelfen würde, wäre eine Metallstange oder der hohe Baum, der nun auf der linken Seite der Straße steht. Es muss lange her sein, seit ich das letzte Mal einen so hohen Baum gesehen habe. Er sieht trocken aus und seine Äste und Zweige erscheinen spröde, doch er sollte der höchste Punkt im Umkreis sein. Ich selbst werde mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht getroffen, aber ich habe keine Ahnung welche Auswirkungen ein Blitzschlag in meiner unmittelbaren Nähe auf meinen Körper hat. Ich renne weiter, vorerst. Noch habe ich die Chance davonzukommen. Plötzlich biegt Skip nach rechts ab und auf einmal passiert alles sehr schnell: Ich höre es krachen und ein heller Strahl fährt in den Baum, den ich noch eine Sekunde zuvor im vorbeirennen betrachtete. Dann quietscht es hinter mir, der Baum ächzt und knarrt und Rauch steigt mir in die Nase. Er hat Feuer gefangen und kippt langsam taumelnd um.
In meine Richtung.
Und obwohl mich meine Beine bereits kilometerweit getragen und sich nicht einmal beschwert haben, geschieht es nun ausgerechnet jetzt: Ich stolpere und falle. Mein Gesicht wird in die Steine gedrückt und ich schürfe mir bestimmt beide Knie auf, denke ich noch bevor der Schmerz einsetzt. Als ich mich mühsam versuche aufzurappeln, ist es bereits zu spät: Der Baum ist keine Handbreit mehr von mir entfernt. Verzweifelt versuche ich davonzukriechen, irgendwie weg vom brennenden Baum. Jedoch ohne Erfolg. Mein rechtes Bein wird unter dem dicken Stamm begraben und ich spüre wie sich einer der Äste unsanft in meine Haut bohrt. Das Feuer hat mich noch nicht erreicht, doch es würde nicht mehr viel Zeit benötigen, um dies zu ändern. Auch meine kläglichen Versuche, den Stamm zur Seite zu schieben, schlagen fehl. Allein bin ich nicht stark genug. Nicht für diese Situation, nicht für diese Welt.
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