Above The Clouds
TEIL II
„Zum Glück war es ein Tandemsprung. Ansonsten hätte ich mir wahrscheinlich in die Hosen geschissen bei viertausend Meter Höhe", erzählt Tim lachend von seiner ersten Begegnung mit einem Fallschirm, während ich meinen Koffer vom Gepäckband hieve. Natürlich war meiner wieder als letzter an der Reihe – was meinen Puls schon ganz unruhig werden lassen hat. „Boah, da dreht sich direkt mein Magen. Schon damals im Kindergarten fand ich es richtig schlimm, wenn die Schaukel zu hoch in der Luft war und sich fast überschlagen hat."
„Höhe ist echt nicht mein Freund, wenn ich keinen festen Boden unter den Füßen habe", schiebe ich noch hinterher. Zügigen Schrittes laufen wir durch den Flughafen in Richtung Ausgang. „Bin ich im falschen Film oder saßt du nicht eben noch völlig entspannt neben mir in einem Flugzeug?", zieht der Junge skeptisch seine Augenbraue in die Höhe. „Ich habe gesagt 'wenn ich keinen festen Boden unter den Füßen habe'", betone ich jedes Wort einzeln, „ein Flugzeug hat Wände, Boden und Anschnallgurte."
„Der Fallschirm hat auch Gurte, die du um dich schnallst", zwinkert mir Tim zu, bevor er schallend lacht. „Was würdest du denn gerne ausprobieren?", fragt er dann und lenkt somit zurück auf meine ursprüngliche Aussage, als wir angefangen haben über Extremsport zu quatschen. Selbst habe ich nämlich noch keinen ausprobiert – liebe es aber Dokumentarfilme darüber anzuschauen. „BMX-Freestyle", überlege ich. Währenddessen winkt der Braunhaarige einem Mädchen zurück, das ihn mit großen Augen anstarrt.
„Kennst du sie?", erkundige ich mich neugierig. „Nö", grinst er, „aber man darf ja wohl noch freundlich sein." Meine Zähne zeigend stoße ich den Jungen an seiner Schulter leicht zur Seite. Mir ist es definitiv peinlich, dass ich ihn zu Beginn unserer Flugreise so angepflaumt habe. „BMX-Freestyle", wiederholt Tim meine Worte, „da hast du aber auch keinen festen Boden unter den Füßen."
„Jetzt leg doch nicht alles auf die Goldwaage. Ich dachte, du hast BWL studiert und nicht Jura", beschwere ich mich lachend. Anderseits finde ich es irgendwie süß, dass er so aufmerksam zuhört. „Ja ne, Jura hätte ich mir echt nicht geben können", hebt Tim direkt abwehrend seine Hände. „Sag das bloß nicht zu laut", drehe ich mich zu meinen Freundinnen um, die hinter uns her trotten, „Pia hört nicht gerne, dass ihre Leidenschaft trocken ist."
Während ich noch überlege, ob man meine Aussage in irgendeiner Weise zweideutig sehen könnte, prustet der Junge neben mir los und stolpert dabei beinahe über seinen Koffer. Schon im Flugzeug habe ich bewundert, wie offen er über fast alles lacht. „Okay, also Luis hat mir gerade geschrieben, dass er da ist", steckt Tim sein Handy zurück in seine Hosentasche, nachdem er sich wieder beruhigt hat.
Im Laufe unseres Gesprächs über den Wolken ist nicht nur rausgekommen, dass Tim beinahe eine Stripper Karriere gestartet hätte, sondern auch, dass wir im selben Häuserblock wohnen. Bei der Größe von Berlins Häuserblöcken ist dies zwar relativ weit gefasst. Dennoch bietet es sich an, das gleiche Verkehrsmittel zu benutzen. Und wenn das Verkehrsmittel nicht einmal öffentlich ist, sondern ein bequemes Auto, dann erst recht.
Ich weiß, mein Vater hat mir damals zu Genüge gesagt, dass man nicht zu Fremden in ein Auto steigt. Aber wenn ich schon im Urlaub nicht so ein Abenteuer wie Tabea hatte, dann vielleicht zurück in meiner Heimat. „Ich verabschiede mich noch schnell", lasse ich meinen Koffer neben Tim stehen, um wieder in die andere Richtung zu laufen – den Schnecken entgegen.
„Ich muss los", umarme ich zuerst Pia. „Der Urlaub war echt schön. Wünschte, wir hätten etwas von der Sonne einpacken können." Während ich rede, lege ich meine Arme auch flüchtig um Tabea. Die Blicke, die sie Tim und mir – mehr Tim als mir – zuwirft, kann ich mir einfach nicht mehr viel länger geben. „Schreib mir, wenn du Zuhause angekommen bist", möchte mich Vale am liebsten gar nicht mehr loslassen, „Zahra, bist du sicher, dass du nicht mit uns fahren möchtest?"
„Dann muss ich ja von eurer Wohnung aus noch eine halbe Stunde mit dem Bus durch die Gegend juckeln", schüttle ich den Kopf. Darauf hatte ich schon heute Morgen am wenigsten Lust. „Bring doch lieber diese halbe Stunde auf als, dass du gar nicht mehr das Tageslicht siehst", fleht mich Vale schon beinahe an. „Jetzt mal doch nicht den Teufel an die Wand", lache ich, „er ist zwei Jahre jünger als ich – ich zeig dem schon, wo der Haken hängt."
„Das hat doch nichts mit dem Alter zu tun, Zahra", legt sie ihren Kopf – belehrend – schief. So als wüsste ich das nicht selbst. „Mensch Vale", entziehe ich meine Arme ihrem festen Griff, „du hast Tabea auch nicht in unserem Hotelzimmer festgekettet, als sie mit Julio verschwinden wollte. Der Spanier hätte sie sogar an vier Abenden um die Ecke bringen können." Schnell drücke ich meiner Freundin einen leichten Kuss auf ihre Wange, ehe ich zurück zu Tim renne. Dabei begleitet mich ihr leises „Pass auf dich auf!"
„Sorry", entschuldige ich mich dafür, dass die Verabschiedung so lange gedauert hat, „Vale glaubt, du wirst mich in den Kofferraum schmeißen und dann irgendwo im nirgendwo hinter einer abgelegenen Holzhütte vergraben." Vollkommen überrascht davon, dass Tim seine Hand auf meinen Rücken legt, taumle ich aus dem Flughafen. „Die Hütte ist ehrlich gesagt aus roten Ziegelsteinen", kräuselt der Braunhaarige seine Nase. „Hätte ich mal lieber auf Vale gehört", seufze ich.
„Joe Goldberg würde nämlich genau so einen Witz reißen, bevor er dir den Schädel einschlägt", blicke ich zu ihm auf, bevor ich so tue, als würde ich nach Fluchtmöglichkeiten suchen. „Zu spät", deutet Tim grinsend auf einen dunkelhaarigen Jungen, der vor einem schwarzen Auto steht. Wie er direkt vor dem Eingang einen Parkplatz bekommen konnte, ohne dass er weggejagt wurde, weiß wahrscheinlich nur der Fahrer selbst.
„Yo, wie war der Flug?", fragt Luis, nachdem sich die beiden überschwänglich umarmt und abgeklopft haben. „Unterhaltsam", sieht Tim schmunzelnd zu mir hinüber. „Das ist Zahra", stellt er mich dann seinem Kumpel vor. „Hi?", begrüßt mich der Dunkelhaarige irritiert. Die Verwirrung steht ihm definitiv ins Gesicht geschrieben. Plötzlich viel zu schüchtern, um etwas zu sagen, winke ich ihm lediglich zu.
Als unsere Koffer endlich verstaut und wir eingestiegen sind, kutschiert uns Luis durch Berlin. Dabei legt er teilweise einen bedenklichen Fahrstil an den Tag. „Vergiss das Backsteinhaus. Vale muss mich vom Rücksitz kratzen, anstatt ausgraben", hauche ich Tim in den Nacken, nachdem ich durch eine Vollbremsung nach vorne geschleudert wurde. „Hast du deinen Führerschein im Lotto gewonnen?", ruft Luis währenddessen einem anderen Autofahrer hinterher.
„Ich glaube, er hatte Vorfahrt", inspiziert Tim die Verkehrsschilder. „Ich glaube, du trägst schon wieder deine Brille nicht", entgegnet sein Kumpel schnippisch. Meinen Mund zuhaltend unterdrücke ich das Glucksen, das aus meinem Mund entfliehen will. „Ihr benehmt euch wie ein altes Ehepaar", kann ich mir jedoch nicht verkneifen zu sagen. „Bisher musste noch keiner aus diesem Auto gekratzt werden", antwortet der Braunhaarige verspätet auf meine vorherige Aussage.
„Von welchem Backsteinhaus reden wir?", will Luis wissen, während er schon wieder die anderen Verkehrsteilnehmer an hupt. Langsam bekomme ich den Eindruck, dass die beiden alle Aussagen von mir erst in einem großen Auffangbecken zwischenlagern, bevor sie darauf reagieren können. „Nicht so wichtig", winkt Tim ab. „Kannst du da vorne auf der Ecke kurz anhalten und uns rauslassen?", bittet er dann unseren Fahrer, als unser Häuserblock in Sicht kommt.
Während ich überlege, ob Tim einfach nur möglichst schnell dem Fahrstil seines Kumpels entfliehen möchte oder, ob ich hoffen soll, dass er noch etwas Zeit zu zweit mit mir verbringen will, schmeißt Luis sein Warnblinklicht an. „Danke für's Mitnehmen", stecke ich meinen Kopf noch einmal in das Innere des Autos. „Kein Problem, ich spiele gerne das Taxi", richtet Luis seine Aussage eher an seinen Kumpel als an mich. Beinahe rutscht mir ein „So fährst du auch" raus. Stattdessen schnappe ich meinen Koffer und entferne mich so schnell es geht von diesem Fahrzeug mit Mordpotenzial.
Lachend sehe ich dabei zu, wie Tim einen Geldschein aus seiner Hosentasche zieht und ihn selbstgefällig auf den leeren Beifahrersitz fallen lässt. „Bis später, du Mimose", verabschiedet er den Dunkelhaarigen. „Hast du Lust noch einen Kaffee mit mir zu trinken?", beißt sich der Junge etwas verlegen auf seine Unterlippe, „der Latte Macchiato hier ist echt gut."
Erst da wird mir bewusst, dass wir direkt vor einem Café stehen. Die Straße rechts herunter liegt mein Zuhause, linksherum müsste irgendwo die Wohnung von Tim zu finden sein. „Bist du oft hier?", betrachte ich das Geschäft, das mit seinen höchstens fünfzig Quadratmetern der Schnittpunkt unserer Straßen ist. „Joa, schon ab und zu. Aber meistens hole ich mir nur einen Coffee to Go", kratzt er sich unsicher an seinem Hinterkopf.
„Ohje, ich habe noch gar nicht ja oder nein gesagt", fällt mir auf. Schmunzelnd stimmt mir Tim zu, „war mir jetzt echt nicht sicher, ob ich noch einmal nachfragen oder lieber nach Hause gehen soll." Lachend umfasse ich den Griff meines Koffers fester und mache einen Schritt auf das Café zu. „Ich würde sehr gerne mit dir noch einen Kaffee trinken. Ich war nur viel zu geflasht von der Tatsache, dass wir uns schon viel früher über den Weg hätten laufen können, wenn ich nicht so eine gute Kaffeemaschine Zuhause hätte."
„Verflucht sei die gute Kaffeemaschine", hält mir Tim die Tür auf. „Verflucht seist du, Perry das Schnabeltier", murmle ich automatisch. „Ich liebe diese Serie", überrascht mich der Junge mit seiner Aussage. Dabei sollte mich wahrscheinlich gar nichts mehr überraschen – so viele Gemeinsamkeiten wie wir haben. „Dauergast in meinen Top Drei Kindheitsserien. Hinter Hotel Zack & Cody, vor Scooby-Doo", grinse ich ihn an, bevor wir uns an einem Zweiertisch am Fenster niederlassen.
Für einen langen Moment sieht mich Tim mit aufmerksamen Augen an, deren Farbe ständig zwischen braun und grün wechselt. Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her, weil ich die Situation nicht recht deuten kann. „Ich versteh nicht, wieso Tabea dich nicht mag", platzt es schließlich aus dem Jungen heraus. Überrumpelt öffne ich meinen Mund, nur um ihn sofort darauf wieder zu schließen.
Die Tatsache, dass er meint, Tabea möge mich nicht, stört mich nicht im Geringsten, da er damit sogar recht hat. Es ist eher der Fakt, dass Tim mir indirekt gesagt hat, dass er mich mag, der mich aus dem Konzept bringt. „Also was ich meine", setzt der Junge zu einer Erklärung an, „ihr seid vielleicht zusammen im Urlaub gewesen. Aber ich habe gesehen, wie sie dich ansieht – ganz anders als Vale zum Beispiel. Sie glaubt sicher, dass sie es mehr verdient hätte, meine Sitznachbarin gewesen zu sein."
„Okay sorry, das klang jetzt mega eingebildet. Wer bin ich, dass man neben mir sitzen wollen würde?", tippt er sich an die Stirn. „Ein supersüßer herzensguter Mensch", rutscht mir raus. „Es stimmt schon, was du sagst", strecke ich meinen Rücken durch, „Tabea glaubt, sie müsse mir immer unter die Nase reiben, wie viele Männer sie haben kann. Dass ich heute neben einem richtig attraktiven Typen saß, passt ihr bestimmt ganz und gar nicht." Schmunzelnd sieht der Braunhaarige zu mir hinüber. Über meine Ehrlichkeit lachend erwidere ich seinen Blick.
Nachdem wir beide einen Latte Macchiato bei der Bedienung bestellt haben, beugt sich Tim etwas über den Tisch. „Wieso seid ihr zusammen in den Urlaub geflogen?", fragt er neugierig. „Darum halt", zucke ich mit meinen Schultern, „mit Pia und Vale bin ich schon eine halbe Ewigkeit befreundet. Und Tabea wohnt mit den beiden in einer WG. Nur weil ich mich nicht mit ihr verstehe, kann ich ja nicht sagen, dass ich ohne sie in den Urlaub fliegen möchte."
„Kannst du schon", behauptet Tim, „Urlaub ist heilig. Da hätte ich auf sowas gar keinen Bock." Leicht lächelnd schüttle ich meinen Kopf. „Gar nicht auszumalen, was das geben würde, wenn nur einer meiner Jungs so blöd wäre", schiebt er hinterher, „da wäre ich wahrscheinlich ohne Fallschirm die viertausend Meter runtergesprungen."
„Ich hätte dich unten aufgefangen", strecke ich ihm meine Zunge entgegen, bevor ich so tue als würde ich jemanden auf meinen Armen tragen. Lachend wuschelt sich Tim durch seine Haare. „Das nenne ich Einsatz", zeigt er mit dem Finger auf mich, „der muss auch ausreichend belohnt werden." In einer fließenden Bewegung legt der Junge sein Handy auf den Tisch und öffnet TikTok, „ich poste die beiden Videos jetzt, ja?"
Da ich mir im Flugzeug die Videos bestimmt schon fünfzig Mal angesehen habe, verkneife ich mir, zu fragen, ob ich sie noch einmal sehen kann. Sie sind wirklich gut und irgendwie kann ich es kaum abwarten, dass Tim sie hochlädt. „Ich kauf mir ein BMX, wenn auch nur eins der beiden viral geht", lache ich ausgelassen. „Such dir schon einmal eine Farbe aus", zwinkert mir der Braunhaarige zu, „TikToks sind oben."
Etwas an der Art, wie er den ersten Satz ausgesprochen hat, veranlasst mich, mein Handy hervorzuholen und zum ersten Mal seinen Benutzernamen in die Suchleiste einzutippen. Vor Schreck verschlucke ich mich an meiner eigenen Spucke. Entsetzt blicke ich zwischen meinem Handy und Tim hin und her, ehe ich wahrscheinlich das halbe Café zusammenbrülle, „du hast 3,8 Millionen Follower?"
Fortsetzung folgt...
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Auf einer Skala von 1 bis 10, wie sehr musstet ihr bei dem neuen YouTube Video lachen? Was war eure Lieblingschallenge? 👀
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