Kapitel 8
Wieder fühle ich mich, als wäre ich schwerelos und losgelöst von dieser Welt, die mir so fremd und gleichzeitig so vertraut ist. Da ist wieder dieser schwarze Raum um mich herum, der diesmal jedoch nicht halb so bedrohlich wirkt wie zuvor. Ich existiere einfach nur in seinem Inneren, ehe die Schwerkraft zurückkehrt und mich dem Boden entgegen wirft. Durch diesen plötzlichen Umschwung werde ich regelrecht gezwungen meine Augen aufzureißen und nach Luft zu schnappen, die schwer und doch so wohltuend in meine Lungen strömt und mir neues Leben einhaucht.
Meine Umgebung hat sich radikal verändert. Der Park samt den Kindern ist verschwunden, stattdessen umringen mich alte Bäume, durch deren Baumkronen nur spärlich das Sonnenlicht dringt. Wie bekannt mir all das hier doch auf den ersten Blick vorkommt. Dies ist ohne Zweifel der Wald hinter meinem Elternhaus. Doch was hat dieser jetzt genau mit meiner Aufgabe zu tun?
»Komm schon, Finn! Beeil dich!«
Als ich diese so vertraute, kindliche Stimme höre, flutet erschreckend kalte Nostalgie mein Inneres. Es ist meine eigene Stimme. Ich als Kind. Wie ist das möglich? Haben die beiden Kinder das gemeint, als sie sagten, sie würden mich mit meiner Vergangenheit konfrontieren? Ich bin hin und her gerissen. Auf der einen Seite möchte ich mich vor den nahenden Erinnerungen verstecken. Andererseits scheint dies ein schöner Tag in meinem Leben gewesen zu sein. Sie fangen wohl wirklich am Anfang an. Mit meinem kleinen Bruder Finnlay.
Ehe ich weiter nachdenken kann, kommen mir zwei Jungen entgegen. Sie scheinen mich jedoch nicht wahrzunehmen, wie ich hier auf dem Waldboden sitze und meinen Blick nicht von ihnen abwenden kann. Wie friedlich doch die beiden dort drüben wirken.
Meine Haare sind wirklich kurz gewesen damals und ich habe so gut wie die ganze Zeit dieses dämliche Grinsen im Gesicht getragen, weil ich einfach so sehr mit mir und der Welt um mich herum im Reinen war. Ich schüttle lächelnd den Kopf. Was ich doch für ein naives Kind gewesen bin. Ich bin an diesem Tag, der mir hier gezeigt wird, etwa neun Jahre alt gewesen, schätze ich.
Doch viel wichtiger ist mir im Moment mein kleiner Bruder, den ich ungläubig mustere. Wie lange habe ich Finn nicht mehr gesehen? Es ist eine Ewigkeit her. Bittersüße Schwere erdrückt mich, während ich meinen Blick einfach nicht von ihm abwenden kann. Er ist immer so klein und zierlich gewesen, wirkte jedoch alles andere als schwach. Seine Haare waren heller, lockiger und länger als meine, fast schon von einem blassen Goldblond und kaum zu bändigen. Nur die Augen haben wir gemeinsam gehabt. Sonst hätte man uns wohl kaum für Geschwister gehalten.
Während ich die beiden Jungen so betrachte, ist das Geschehen längst fortgeschritten. Sie blicken sich um, wie Kinder es tun, die verzweifelt nach einer Beschäftigung für ein paar Stunden suchen. Ich erinnere mich daran, dass wir uns immer hinausgeschlichen haben, da unsere Mutter uns strikt untersagt hatte, im Wald zu spielen, den sie ihn als viel zu gefährlich ansah.
»Hast du eine Ahnung, was wir heute machen können?«, unterbricht mein kleines Ich meine Gedanken, ohne dieses dümmliche Lächeln aus seinem Gesicht zu wischen.
Finn überlegt für einen Moment und schaut zum Himmel empor, der von all üppigen Baumkronen beinahe ganz verdeckt wird. »Lass uns eine Burg bauen«, antwortet der Blonde schließlich mit seiner so jungen Stimme, die mir beinahe in den Ohren schmerzt, da plötzlich so viele gegensätzliche Gefühle auf mich einwirken. Ich könnte mich nicht mehr freuen, Finns Stimme wieder zu hören, doch gleichzeitig ersticke ich beinahe an den Tränen, die sich in meinen Augenwinkeln bilden.
»Eine Burg?«, fragt mein jüngeres Ich verwirrt.
»Ja, wie in den Geschichten, die du mir immer vor dem Schlafengehen vorliest. Mit Türmen und einem großen Tor und ganz vielen Wachen. Oh, und drum herum ist ein ganz tiefer Burggraben und dahinter ein riesiges Königreich, das nur uns gehört!« Eine neue Welle des Schmerzes rollt über mich hinweg, als mein kleiner Bruder so kindlich und gleichzeitig schön lächelt. Er hatte ein Lächeln, das mich schon damals immer alle Zweifel hat ablegen lassen.
Mein kleines Ich stimmt diesem Vorschlag zu, angesteckt von Finnlays endlos naiver Begeisterung. So sehe ich mit einem beinahe schon bitteren Lächeln zu, wie diese Kinder ausschwärmen, um Äste, Zweige und mitunter sogar etwas Lehm heranzuschaffen, damit sie ihre Burg bauen können, die man nur mit sehr viel kindlicher Fantasie als solche erkennen kann. Damals habe ich doch wirklich eine echte Ritterburg in diesem windschiefen Gebilde gesehen, das dort nach einiger Zeit auf dieser kleinen Lichtung prangt.
Sicher vergehen Stunden, in denen ich einfach nur hier sitze und sie beim Spielen beobachte. Die beiden bauen ihr kleines Traumkönigreich, das mir bis heute lebhaft im Kopf geblieben ist. Ein trockener Burggraben entsteht, ebenso wie Felder aus Moos und kleine Kieselsteinhütten für ihre Untertanen außerhalb der Burg. Noch währenddessen denken die Jungen sich Geschichten aus ihrem Königreich aus, die sie einander aufgeregt erzählen. Welche Kriege geführt worden sind, um dieses Reich so groß und mächtig werden zu lassen. Wer sie sind und wie sie herrschen. Welche Prinzessinnen sie später einmal heiraten werden, wie viele Kinder sie irgendwann haben werden. Wie ihre Untertanen leben.
Erst als diese zwei Geister fertig mit dem Errichten ihrer Fantasiefestung sind, bleiben sie stehen, betrachten stolz ihr Werk und versuchen vergeblich die Massen an Schmutz von der Kleidung und Haut zu wischen. Sie grinsen sich gegenseitig an – die Erschöpfung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Wie willst du es nennen?«, fragt der jüngere Calin und beugt sich kurz hinunter, um einen Kieselstein zu seiner Zufriedenheit zu verschieben.
Wieder richtet sich Finns Blick gen Himmel. Dies hat er so oft getan, wenn er angestrengt nachgedacht hat. Meist hat er sich dabei auch auf die Unterlippe gebissen. Mein Bruder ist einfach immer schon ein kleiner Denker gewesen. So viel intelligenter als ich. Aber auch sehr viel unsicherer.
»Lonracht«, bringt er schließlich beinahe ehrfürchtig hervor. Wieder ziert ein Lächeln, das irritiert wirkt, ‚mein' Gesicht. »Wie kommst du denn darauf?«
Finnlay schaut meine Kopie beinahe schon so an, als hätte sie den Verstand verloren. »Siehst du etwa nicht, wie das Sonnenlicht unser Königreich schimmern lässt? Außerdem geht es uns dort doch allen gut. Deshalb glänzt es.«
Ich kann nicht verhindert, dass die ersten Tränen über meine Wangen rinnen. Wie sehr ich doch meinen kleinen Bruder vermisst habe. Ich habe so lange nicht an ihn gedacht. Wie konnte ich nur? Ich schäme mich sehr dafür, ihn beinahe vergessen zu haben, obwohl er so ein wichtiger Teil meines Lebens war.
Schweigen herrscht, während die beiden Jungen einfach nur wie erstarrt nebeneinander stehen. Irgendwann ergreift schließlich wieder Finn das Wort. »Wir bleiben für immer zusammen in Ardee und die besten Freunde, oder Calin?« Der größere Junge nickt. »Natürlich.« Doch Finn wirkt von meiner Antwort nicht überzeugt. »Und streiten werden wir uns auch nie, ja?« Wieder nicke ‚ich', bleibe aber dieses Mal stumm. »Klar. Ich will auch gar nicht mit dir streiten. Warum fragst du das alles?«
Beinahe verlegen schaut mein kleiner Bruder zu Boden und seufzt. »Ich habe einfach Angst, dass wir irgendwann durch unser Königreich wie Ferdia und Cú Chulainn* werden. Aber das wird nicht passieren, richtig?«
Die Furcht, die er eben noch beschrieben hat, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Kinder-Calin jedoch lächelt nur beschwichtigend und schließt den kleineren Jungen in eine beinahe schon beschützend wirkende Umarmung. »Nein, niemals. Das verspreche ich dir.«
Plötzlich gefriert die Welt um mich herum. »Was genau an dieser Erinnerung hat dich so geprägt?«, höre ich die trockene Stimme des Todes in meinem Kopf, ohne ihn sehen zu können. Er will wohl wissen, was gerade in mir vorgeht. Also beginne ich knapp zu erzählen.
»Mein Bruder ist der beste und einzige echte Freund gewesen, den ich je hatte. Er hat mir einfach alles bedeutet.«
Nun schaltet sich auch das Leben in diese kleine Konversation ein. »Warum sprichst du von ihm immer in der Vergangenheit?« Doch bevor ich antworten kann, übernimmt das der Schwarzhaarige für mich. »Das werden wir wohl nur herausfinden können, wenn wir schnell zur nächsten Erinnerung übergehen.«
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* Ferdia und Cú Chulainn sind Figuren einer irischen Sage, in der der Krieger Ferdia von seinem König an den Fluss Dee geschickt wird, um gegen seinen besten Freund Cú Chulainn, mit dem er sogar aufgewachsen ist, in einer der bedeutendsten Schlachten der irischen Sagenwelt zu kämpfen. Der Kampf dauert laut der Sage drei Tage an, wobei die Kämpfenden nachts gegenseitig ihre Wunden versorgt haben sollen. Am Ende stirbt Ferdia in Cú Chulainns Armen.
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