Kapitel 7
Aus meinen Schuldgefühlen und fehlenden Alternativen heraus beginne ich meinen Blick wieder über den mir so wohl vertrauten Ort schweifen zu lassen, an dem wir uns momentan befinden und den wir achtlos entfremden. Alles hier erinnert mich an Mika, wo doch dieser Park hier wie jeder andere auf der Welt aussieht. Ich weiß noch, wie wir gemeinsam die Rutschen hinunter gesaust sind, um herauszufinden, wer von uns schneller ist. Es ist alles so kindisch gewesen, doch es hat mich immerhin kurz aus meiner Starre aufwachen lassen.
Übrigens habe ich unser kleines Rutschwettrennen gewonnen und dafür nicht nur einen Kuss bekommen. Der Höhepunkt des Abends wurde jedoch erst beim Klettergerüst, das nun unbeachtet hinter mir vor sich hin träumt, erreicht. Mika und ich kletterten bis zur Spitze und genossen unsere hervorragende Sicht auf den sternenklaren Himmel über uns. Mehr ist an diesem Tag nicht passiert. Dennoch würde ich ihn als einen der schönsten meines Lebens bezeichnen.
Dann wende ich meinen Blick ab von der nahezu geisterhaften Atmosphäre dieses weitestgehend leeren Spielplatzes und wende mich wieder den Kindern vor mir zu, die gedankenverloren auf und ab wippen, als hätten sie kein anderes Spielgerät zur Verfügung. Und da mir diese Frage sowieso schon die ganze Zeit im Kopf umherschwirrt, fasse ich sie nun einfach in Worte. »Warum wippt ihr eigentlich die ganze Zeit, wenn ihr doch so eine große Auswahl an anderen Geräten habt?«
Beinahe schon gelangweilt blickt der Tod mich an und verdreht die Augen, wobei er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht pustet. Wäre er älter, würde diese Geste sicher halbwegs attraktiv auf andere wirken. »Ist das nicht offensichtlich?«, stellt der Junge auf überhebliche Weise eine Gegenfrage, die ich nicht beantworten kann. Warum sollte ich auch fragen, wenn ich die Antwort bereits wüsste?
Das Leben seufzt daraufhin nur. »Entschuldige bitte meinen Bruder. Er weiß so viel, dass er manchmal vergisst, dass nicht alle so toll sind wie er.« Sie wirft dem Schwarzhaarigen einen vernichtenden Blick zu, ehe sie sich räuspert und wieder ein so ungezwungenes Lächeln aufsetzt.
»Wir wippen, um das Gleichgewicht aufrechterhalten zu können. Würden wir damit aufhören, wäre es mit dir auch bald vorbei. Schließlich sind wir alle hier, um zu entscheiden, wie weiter mit dir verfahren wird. Es hängt von deiner Kraft und deinem Willen ab, wie wir uns letztendlich entscheiden.«
Allmählich fühle ich mich diesen Kindern wirklich geistig unterlegen. Was sollen nur immer diese kryptischen Antworten? »Und was genau soll mir das jetzt sagen? Ihr habt vorhin von einer Aufgabe gesprochen, die ich erfüllen muss. Was soll ich verdammt nochmal tun, um endlich von hier weg zu können?« Ich glaube, dass das Leben beleidigt etwas von ‚Gefällt es dir hier etwa nicht?' murmelt, ehe dann der Tod wieder das Wort ergreift und meine volle Aufmerksamkeit auf sich lenkt.
»Das hier ist dein persönliches Reich. Wenn es dir nicht gefällt, gestalte es um. Du bist, wie bereits erwähnt, nur hier, um über dein Schicksal zu entscheiden. Dazu musst du uns mit Geschichten über dich überzeugen. Ihr Menschen würdet es vermutlich mit einer Gerichtsverhandlung vergleichen. Je nachdem wie viel du zu erzählen hast, wird sich dein Verfahren in die Länge ziehen. Kurzfassen solltest du dich jedoch nicht. Denn Auslassungen von Fakten haben noch nie zu einem gerechten Urteil geführt. Außerdem wissen wir eigentlich bereits alles, was es über dich zu wissen gibt. Du bist nur hier, um die Chance zu bekommen, deine Geschichte aus deiner eigenen Sicht erklären zu können. Fühle dich also geehrt, dass du einen fairen Prozess bekommst. Ihr nennt das ‚das jüngste Gericht', wenn ich mich nicht irre. Seltsame Wortwahl, wenn es dabei auch mit dir zu Ende gehen kann.«
Erwartungsvolles Schweigen herrscht für einen Moment, ehe der kleine Junge fortfährt, da er wohl spürt, dass ich zwar den Sinn seiner Worte verstanden habe, aber die Antwort auf meine Frage nur indirekt und verwaschen ausmachen kann. »Du musst einfach nur alles Wichtige in deinem bisherigen Leben zusammenfassen und so beleuchten, wie du es in Erinnerung hast. Die Waage wird dann entscheiden, was dich am Ende erwartet, was wiederum daran gemessen wird, ob du beispielsweise deine schlechten Taten bereust oder die Schuld daran auf andere schiebst. Davon hängt dann ab, ob du wieder ins Leben zurückkehrst, oder ob du stirbst. Vielleicht geben wir dir sogar noch einen kleinen Ausblick darauf, was du hättest haben können, oder ähnliches. So schwer ist dieses Prinzip doch nicht zu verstehen.«
Ich seufze leise auf. Über mein eigenes Schicksal soll ich also entscheiden, indem ich ein bisschen über meine Vergangenheit erzähle? Das scheint mir doch etwas viel Verantwortung für jemanden zu sein, der sich noch nie wirklich mit Worten umgehen konnte. Welches Ergebnis erhoffen sich der Tod und das Leben nur? Schlimm genug, dass ich ihnen mein gesamtes Leben zu Füßen legen muss, damit sie dann über mich und all meine bisherigen Handlungen urteilen können. Nein, ich muss mich auch noch verteidigen können, als wäre ich ein verdammter Verbrecher auf der Anklagebank. Wo bleibt nur mein unsympathischer Anwalt im Tausend-Dollar-Anzug, um mich aus dieser Sache rauszuhauen?
»Und wie soll ich das alles genau anstellen? Ich habe doch keine Ahnung, was in meinem Leben nun wichtig für euer Urteil ist und was nicht. Was ist, wenn ich alles in ein vollkommen falsches Licht rücke und ihr am Ende deswegen falsch entscheidet?«
Die beiden Kinder kichern nur verhalten. »Typisch Mensch«, murmelt das Leben leise, ehe sie wieder von ihrem Bruder abgelöst wird. »Glaubst du wirklich, dass wir dir bei solch einer wichtigen Aufgabe vollkommen freie Hand lassen würden? Das würde nur zu Chaos führen, wie du schon sagst. Deshalb werden wir einfach dein Unterbewusstsein anzapfen und dich mit den für uns relevanten Geschehnissen konfrontieren. Du hast dann Zeit, deine Handlungen zu dieser Zeit zu rechtfertigen oder uns gewisse Randinformationen zu geben, von denen du glaubst, dass sie wichtig für unser Verständnis wären.
Sobald du bereit bist, dich uns und deiner Vergangenheit zu stellen, musst du nur deine Augen schließen. Den Rest erledigen wir schon für dich«, erklärt der Tod überheblich wie eh und je. Ich hingegen kann nur nicken. Was soll ich auch schon groß tun, um das alles hier zu stoppen? Ich habe bisher schließlich keinen Notausgang hier gesehen, durch den ich diese Welt einfach verlassen könnte.
Das Leben wirft mir einen etwas besorgten Seitenblick zu. »Vielleicht solltest du dich vorher setzen. Mit den eigenen Taten konfrontiert zu werden, wird von den meisten nicht allzu positiv aufgefasst.« Beinahe schon resignierend leiste ich dem indirekten Befehl des Mädchens Folge und setze mich auf den überraschend bequemen und angenehm warmen Boden direkt neben der Wippe. Gleichzeitig besorgt und gespannt, was mich genau erwarten wird, schließe ich meine Augen und warte ab, was diese seltsamen Kinder mit mir vorhaben.
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