Kapitel 4
Wer meint, dass nach dem Tod nichts mehr folgt, lügt.
Ich weiß mit Sicherheit, dass ich gestorben bin. Warum sonst hätte ich all diesen Schmerz fühlen müssen, der nun so weit von mir entfernt zu sein scheint? Ich bin der Welt entrückt. Und dennoch liege ich hier, bei vollem Bewusstsein, zurück in meinem Körper, der sich nicht mehr anfühlt, als würde er augenblicklich zerbersten. Über mir der blaue Himmel, den ich ungläubig anstarre, und unter mir grünes Gras, das sich im sachten Wind neigt und sich so viel besser anfühlt, als der harte Beton zuvor.
Ist das das Paradies? Wohl kaum. Auch wenn ich an all diesen christlichen Schwachsinn glauben würde, wäre ich doch für meinen zuvor so gotteslästerlichen Lebensstil eher in das Reich Satans niedergefahren, als dass Gott mich bei sich aufgenommen hätte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnere ich mich an die Lehren, die meine Eltern mir versucht haben mitzugeben. Sie waren Christen, jedoch nicht in die Idee von einem göttlichen Herrscher und seinen veralteten Regeln verrannt. Sie haben mich frei entscheiden lassen, ob ich ihnen in den Glauben folgen wollte. Für einige Zeit habe ich dies sogar getan. Doch er ist mit der Zeit einfach verschwunden. So wie die meisten Straftäter erst im Gefängnis beginnen, zu glauben, habe ich genau zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben damit aufgehört. Es gibt keinen Gott. Und doch scheine ich gerade in seinem so friedlichen Reich gelandet zu sein. Obwohl der Wolf im Schafspelz wohl kaum hier sein sollte.
Erst als ich mich umblicke, bemerke ich, dass dieser so fremde Ort stark an meinen Heimatort erinnert. Diese, als Kind so unendlich scheinende, Wiese mit angrenzendem Wald dahinter hat hinter unserem kleinen Haus am Rande der Siedlung gelegen. Auch jetzt kann ich das Wäldchen sehen, wenn ich mich nur ein wenig aufrichte.
Als Kind bin ich recht oft dort gewesen. Dabei war ich schon immer eher ein Stubenhocker, der sich einfach nicht raustraute, da andere Menschen ihm Angst machten. Doch so sehr ich das Baummeer dort am Horizont als Kind mochte, jetzt wirkt es wenig einladend auf mich. Viel lieber will ich herausfinden, wo ich mich hier genau befinde, als mich im Schatten des Waldes zu verstecken. Warum hätte man mich nach Hause bringen sollen? Hier lebt keiner mehr, zu dem ich zurückkehren könnte. Zudem kann ich niemanden außer mir sehen. Selbst wenn ich an meinem Elternhaus vorbei schiele, wirkt die Straße wie leer gefegt, was ungewöhnlich ist, selbst für unsere abgelegene Wohngegend.
So richte ich mich schwankend auf, um diesen menschenleeren und mir so vertraut scheinenden Ort zu erkunden und vielleicht sogar einige Antworten auf meine Fragen zu finden. Vielleicht treffe ich am Ende sogar auf Gott höchstpersönlich – wer weiß das schon? Dann kann ich ihn wenigstens fragen, warum er mich genau jetzt hat sterben lassen.
Doch der Schwindel überwältigt mich, als ich wieder auf eigenen Füßen stehe, sodass ich mich an dem alten Apfelbaum zu meiner Rechten abstützen muss, um nicht zu fallen.
Mein Körper scheint zwar wieder im Ganzen zu sein, doch scheinbar hat das Sterben ihm doch etwas mehr zugesetzt, als ich gedacht hätte. Wobei dies eigentlich nicht mein Körper sein kann, sondern nur ein Abbild davon, das in meiner Erinnerung existiert. Schließlich bin ich ja gestorben. Da liegt meine eigentliche Hülle sicher zersplittert in irgendeiner Leichenhalle, darauf wartend, endlich verbrannt zu werden.
Kann ich dann nicht eigentlich meinen Körper verändern, wie es mir passt? Vielleicht sollte ich mir ein paar Muskeln dazu denken, um nun besser meinen Weg bestreiten zu können. Ein hübscheres Gesicht wäre sicher auch nett, auch wenn ich es selbst nicht werde sehen können. Sollte ich mir vielleicht auch die Haare anders färben? Ich bin dieses viel zu dunkle Schwarz allmählich leid. Vielleicht sollten sie wieder hellbraun werden. Sollte ich dem ach so allmächtigen Hirten nicht gegenübertreten, wie ich geboren worden bin? Wäre doch auch ziemlich unhöflich, seine Schöpfung einfach so zu verunstalten.
Langsamen Schrittes lasse ich nun meinen Heimatort hinter mir. Nicht weit entfernt davon erstreckt sich ein Park, wie ich ihn aus der Stadt kenne, in der ich buchstäblich bis zum bitteren Ende gewohnt habe. Verwirrt werfe ich einen Blick zurück zu meinem Elternhaus, dass nun nicht einmal vierhundert Meter entfernt ist. Wie ist das möglich? Zwischen beiden Orten liegen in der Realität Massen an Wasser und Land. Wie also können sie plötzlich so nahe beieinander liegen?
Was ist das hier für ein seltsamer Ort, der hunderte von Kilometern einfach so zusammenschrumpfen lässt? Diese beiden Schauplätze meines Lebens haben einfach nicht das Geringste miteinander zu tun. In dem kleinen Haus in Irland haben wir als Familie gelebt, bis ich zwölf Jahre alt gewesen bin. Dieser Park hingegen ist der Ort gewesen, wo ich Mika vor fünf Jahren zu unserem ersten Date ausgeführt habe. Diesen jetzt wieder vor mir zu sehen, ja sogar inmitten der Straßenlaternen, gepflasterten Wege und Rasenflächen zu stehen, ruft so viele schmerzhafte Erinnerungen hervor. Ich werde nie wieder die Möglichkeit haben, in diese so glückliche Zeit zurückzukehren. Nie wieder wird alles in Ordnung sein. Mika wird mich ersetzen und vergessen, als hätte ich niemals existiert.
Tränen ersticken mich. Die Gedanken an all meine Verluste nehmen Überhand. Meine Hände graben sich in den Stoff meines Oberteils, damit ich nicht nicht schon wieder fallen muss. Ich habe alles verloren. Warum, Gott? Du hättest mich doch auch sterben lassen können, nachdem ich alles wieder in Ordnung gebracht habe! Wäre das wirklich zu viel verlangt gewesen? Ich hätte Liebe, Freunde und Vergebung finden können. Aber nein, du hast nicht warten können. Wo versteckst du feiger Sack dich? Erkläre mir doch wenigstens, warum ich gerade jetzt habe gehen müssen. Was hat dir an mir nicht gepasst? Bin ich etwa schlussendlich doch für meine Sünden bestraft worden? Zeig' dich, Gott! Ich will nicht mehr im Dunkeln herumirren.
Doch die von mir ersehnte Antwort bleibt aus. Stattdessen richtet sich nun meine Aufmerksamkeit auf die ersten Menschen, die ich an diesem Ort erblicke.
Wie habe ich nur die beiden Kinder bisher außer Acht lassen können, die dort hinten auf dem Spielplatz auf der Wippe sitzen und so in ihr Spiel vertieft zu sein scheinen, dass nur noch sie selbst und nichts weiter in ihrer Welt existiert? Können sie mir vielleicht erklären, wo genau ich hier bin? Sie sind nicht allzu weit entfernt und dennoch haben sie mich noch nicht bemerkt. Vielleicht ignorieren sie mich auch nur, wie ich es zuvor mit ihnen gemacht habe. Fragen werde ich sie dennoch. Sie scheinen sich schließlich damit abgefunden zu haben, hier zu sein. Warum also nicht? Vielleicht wären sie ebenso froh darüber wie ich, zu wissen, dass noch andere Menschen außer ihnen an diesem gottverlassenen Ort gestrandet sind.
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