Kapitel 23

»Und wie geht es jetzt bei dir weiter?«, fragt mich Béla und blickt mich mit seinen großen Rehaugen an, als würde sein Leben von meiner Antwort abhängen. Ich zucke nur mit den Schultern. »Ich werde sehen, dass ich meinen Job wiederbekomme, mir eine eigene Wohnung suche und einfach wieder ein Leben aufbaue, ohne meine Zeit zu verschwenden. Irgendwie schon traurig, dass mir erst das Koma die Augen geöffnet hat.«

Der Lockenkopf nickt nur und lächelt ein wenig. »Du scheinst wirklich viel verpasst zu haben, oder?« Ich kann daraufhin nur nicken. »Ich habe ganze elf Jahre meines Lebens einfach nur vor mich hinvegetiert, die Zeit an mir vorbeiziehen lassen und gehofft, dass es bald zu Ende mit mir geht. Doch damit ist jetzt Schluss.

Danke übrigens, dass du mir deine Wohnung leihst, bis ich was Eigenes habe. Das ist unglaublich nett von dir.« Béla winkt ab, als wäre es nichts. »Gerade wohnt doch eh niemand drin. Ich werde noch einige Zeit lang hier bleiben müssen und ich vertraue dir, dass du mich nicht ausnutzt. Denn egal was für verrückte Dinge du mir schon erzählt hast, irgendetwas sagt mir, dass du ein guter Freund werden wirst. Also hör endlich auf mir zu danken. Einmal ist schon zu viel, aber tausendmal macht es nicht besser.«

Ich erwidere sein Lächeln ein wenig unsicher. »Du willst wirklich einem Verrückten deine Wohnung anvertrauen?«

Der schmächtige Ungar schaut mich vollkommen ernst an und legt seine Hand auf meine. »Wenn dein Traum hilfreich war und du etwas dadurch gelernt hast, ist nichts Verrücktes daran.« Ich kann nur nervös auflachen. »Ich bin kein Kind mehr. Es muss nicht hinter allem eine Moral stecken.« Mein Gesprächspartner schüttelt nur mit dem Kopf. »Ich meine das ernst. Das Gehirn denkt sich oft die wahnsinnigsten Dinge aus, um Traumata verarbeiten und sich Dinge erklären zu können. In Träumen werden manchmal ganze Universen erschaffen, die nur einer Sache dienen und uns verwirrt zurücklassen. Wie enttäuscht wir doch alle sind, wenn wir aufwachen und die Realität so ernüchternd ist, dass wir am liebsten wieder zurück in unsere Träume sinken würden, um nie wieder aufwachen zu müssen.«

Aus einem Impuls heraus umarme ich meinen neuen Freund. »Danke«, nuschle ich ein wenig verlegen, »Dass du mir glaubst, ist wirklich großartig. Die Ärzte tun das nicht. Du bist ein unglaublich guter Freund, Béla. Ich hoffe, dass du bald rauskommst und wir einfach mal essen gehen können oder so.« Auf den Wangen meines Gegenüber zeichnet sich eine leichte Röte ab. »Das würde mich wirklich freuen.«

Ein lautes Hupen zerreißt die so vertraute Atmosphäre. »Mein Taxi wartet«, meine ich leise und schaue Béla beinahe schon entschuldigend an. Er nickt leicht. »Dann solltest du gehen. Ich komme schon allein klar.«

Für einen Moment mustere ich den Jungen vor mir, der doch nur wenige Jahre jünger ist als ich. Bei unserer ersten Begegnung haben Platzwunden und blaue Flecken sein Gesicht geziert, er hat nicht einmal gelächelt und so traurig ausgesehen, als hätte er keinerlei Lebenswillen mehr. Nun sind von all den Wunden nur blasse Spuren geblieben und er hat in den letzten Monaten, seit wir uns kennen, seinen Frohsinn wiedergefunden. Er ist einer dieser Menschen, mit denen sich die Welt verdunkelt oder erhellt, sollte er den Raum betreten und ist eine wahre Bereicherung für alle, die sich auf ihn einlassen. Wie sein Vater ihn allein wegen seiner Sexualität krankenhausreif hat prügeln können, verstehe ich noch immer nicht. Die Welt hat größere Probleme als Männer, die andere Männer küssen. Niemand sollte wegen Dingen wie seiner Hautfarbe, seiner sexuellen Orientierung oder ähnlichem angefeindet und gar verletzt werden.

Schweren Herzens löse ich mich von Béla, wünsche ihm noch viel Glück und eile samt meiner Sachen hinaus, um meine Mitfahrgelegenheit zu erwischen, die freundlicherweise von einem der Pfleger organisiert worden ist. Der Taxifahrer, ein Mann mittleren Alters und definitiv südamerikanischer Abstammung, wartet bereits außerhalb seines Wagens auf mich. Als er mich sieht, steigt er ein und wartet, bis ich auf der Rückbank Platz genommen habe. »Wohin?«, blafft er mit einer derartig rauen und bellenden Stimme, dass ich zusammenzucke.

Eine kurze Zeit lang bin ich vollkommen überrumpelt und will dem Fahrer schon die Adresse, die Béla mir aufgeschrieben hat, durchgeben, doch dann fällt mir wieder ein, dass ich mir noch etwas vorgenommen habe, bevor ich direkt in meinen Neuanfang starten kann. So nenne ich der Bulldogge in Menschengestalt meine alte Anschrift und lehne mich zurück, während der Fahrer den Wagen startet und auf direktem Weg zu meinem Bestimmungsort fährt.

Die Stadt zieht grau und doch so voller Leben an mir vorbei. Zuvor habe ich nur den Einheitsbrei und nicht all die Farben gesehen, die nun in Massen vor mir aufblinken. Wie viel habe ich eigentlich bisher verpasst? Wie habe ich nur teilnahmslos da sitzen können, während einfach alles an mir vorbeigezogen ist?

Doch viel zu schnell endet die Fahrt, bevor ich weiter über mein Leben philosophieren kann. »Wir sind da«, spricht die Bulldogge das Offensichtliche aus. Ich nicke und öffne die Tür, um auszusteigen. »Könnten Sie vielleicht hier warten? Ich werde nur ein paar Minuten brauchen und werde Ihnen natürlich auch Trinkgeld geben.« Auf das ansatzweise zustimmend klingende Murmeln des Fahrers hin steige ich aus und klingle an der Tür. Für einige Momente herrscht Stille, ehe die Gegensprechanlage knistert und schließlich das Geräusch ertönt, wenn die Tür geöffnet wird.

Leere erfüllt mich, als ich die Treppen hinauf laufe und mich letztendlich nicht Mika, sondern irgendeinem Typen gegenüber sehe, der mich skeptisch und nahezu abschätzig mustert. »Und wer bist du?«, fragt der Affe und verschränkt die Arme vor der Brust. »Mein Name ist jetzt vollkommen nebensächlich und ich bin nur hier, um mit Mika zu reden. Nicht um mit ihr zu schlafen oder so. Das ‚Vergnügen' hatte ich schon und will es nicht wieder. Also keine Sorge. Deine drei Gehirnzellen sollen ja nicht noch mit unbegründeter Eifersucht ausgelastet werden.«

Noch bevor der Hirnathlet etwas auf meine scharfe Bemerkung hin erwidern kann, ertönt ein leises »Calin?« im Hintergrund, ehe sich Mika an ihrem neuen Stecher vorbei schiebt und mich fassungslos anstarrt. »Was willst du hier? Glaubst du echt, dass du nach fast einem Jahr einfach so ankommen und mich zurückhaben kannst?«

Daraufhin kann ich nur müde lächeln. »Du bist also nicht informiert worden. Gut zu wissen.« Für einen Moment halte ich inne, um mich zu sammeln. »Ich will dich nicht zurück, Mika, sondern will nur reden. Du musst mich nicht einmal hereinbitten. Was ich zu sagen habe, ist nichts, was nicht auch alle im Haus hören können.« Sie ahmt nun ihren Stecher nach und verschränkt die Arme vor der Brust. »Dann rede endlich. Eine Erklärung wäre nett.« Sie klingt so, als hätte ich sie verlassen und nicht sie mich. Wie gut sie doch im Vergessen sein kann, wenn sie will.

Wieder mit dem Beigeschmack, dass ich springe, wenn sie pfeift, beginne ich mich auszusprechen: »Du hast ein Jahr lang nichts mehr von mir gehört, weil ich an dem Tag, an dem du dich von mir getrennt hast, von einem Auto überfahren worden und ins Koma gefallen bin. Aber weißt du was? Die Trennung und das Koma sind die besten Dinge, die mir hätten passieren können.

Denn mir ist klar geworden, dass nicht ich das Problem in unserer Beziehung gewesen bin. Ja, ich habe mich immer mehr zu einem Geist entwickelt und mich emotional gehen lassen, aber du hast nicht verstanden, dass man einem Partner nicht nur Dinge vorwerfen sollte, sondern auch versuchen kann, mit ihm darüber zu reden und ihm zu helfen. Aber deine Welt dreht sich nur um dich, nicht wahr? Wenn sich Menschen nicht deinen Vorstellungen anpassen, werden sie einfach aussortiert. Jemand wie du kann keine langanhaltende Beziehung führen. Du suchst immer nach diesem Kick, den dir niemand auf Dauer verschaffen kann.

Ich bemitleide dich. Vielleicht hast du Geld, eine dich liebende Familie und ein von außen betrachtet perfektes Leben, aber von innen du bist leer und ausgebrannt. Du siehst Menschen als Mittel, um dein Ziel zu erreichen, nicht als das was sie sein sollten und so wirst niemals finden wonach du suchst. Du bist einer dieser Menschen, die einsam unter Tausenden sind und sich eigentlich nur für sich selbst interessieren.

Hättest du jemals daran gedacht, mich zu fragen, woher meine ganzen Fehler kommen? Du hast es einfach akzeptiert und bist mich bei der nächstbesten Gelegenheit losgeworden. So wird es auch dem Intelligenzabstinenzler hinter dir und jedem anderen Mann gehen, der mit dir sowas wie eine emotionale Bindung eingehen will. Wenn dir was nicht passt, ist es nicht mehr gut genug für dich. Doch du solltest wissen, dass du damit Menschen zerstörst. Übernimm einfach Verantwortung, Mika. Nicht nur für dich, sondern auf für andere.«

Noch ehe sie sich eine ihrer sonst so schlagfertigen, zickigen Antworten überlegen kann, drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe davon. Ich habe endlich einen Schlussstrich gezogen. Die Kinder haben recht gehabt, ich muss mit der Vergangenheit endlich abschließen. Ab jetzt bin ich ein neuer Mensch. Auch wenn niemand diese Veränderung sehen wird, werde ich sie beibehalten.

So zücke ich auch sofort mein Handy als ich wieder im Taxi sitze und in die Richtung meiner geliehenen Wohnung gefahren werde, um den letzten Schritt zu meinem Neuanfang anrufen zu können. Wieder lege ich mir die Worte zurecht und atme tief durch, als ich ihre Stimme am anderen Ende der Leitung vernehme. »Stella? Calin hier. Der Typ, den du damals vor dem Big Apple angesprochen hast. Ist schon eine Weile her, aber können wir uns treffen? Ich habe jetzt ziemlich viel zu erzählen.«

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