Kapitel 22

Es ist ein Gefühl, als würde man mit dem Fahrstuhl abwärts fahren, als ich aus diesem totengleichen Schlaf erwache. Die Kinder sind samt ihrer kleinen Welt verschwunden. Ich bin allein und schwimme wieder in der Schwärze, die sich dieses Mal so viel materieller und näher anfühlt. Wie lange bin ich eigentlich zu Gast in diesem kleinen Randuniversum gewesen? Es ist sicherlich eine Ewigkeit vergangen, ohne dass ich überhaupt etwas davon mitbekommen habe. Wie habe ich nur so lange schlafen können, ohne irgendwann einfach mitten im Traum aufzuwachen? Hat das Leben etwa meine Seele wieder zurück in meinen eigenen Körper geschickt, ehe sie und ihr Bruder einfach fortgegangen sind?

Es ist so kalt hier. Ihre Umarmung fehlt mir, ebenso wie ihr warmes Lächeln. So federleicht ist alles an diesem fremden Ort gewesen. Hier fühlt sich alles taub und schwer an. Diese elende Schwärze wird mir zu viel. Meine Gedanken sind blockiert. Wo haben sie mich nur hingeschickt? Mein Körper fühlt sich zugleich so energiegeladen und abgestorben an, sodass ich nicht weiß, ob ich im Moment fähig bin, mich zu bewegen. Möglichst ruhig atme ich ein und aus. Ich muss meine Kraft sammeln und versuchen, nicht mit meinen Gedanken abzuschweifen.

Egal, wo ich momentan bin, ich bin am Leben. Mir ist eine zweite Chance zuteil geworden, die ich nicht verschwenden darf. Schließlich sind Menschen eigentlich dazu da, nur einmal zu leben. Ich hätte tot sein können, doch stattdessen bin ich gerettet und auf den rechten Pfad gebracht worden. Jedoch nicht von Gott oder dergleichen, sondern von meinen eigenen Vorstellungen vom Leben und Tod. Noch immer verstehe ich nicht ganz, dass sie zwei kleine Kinder haben verkörpern müssen, die trotzdem so viel mehr von dieser Welt gewusst haben als ich. Doch ich bin ihnen dankbar. Auch wenn alles sich nur wie ein Traum angefühlt hat, ist es doch für einen Moment real gewesen.

Sie haben mir gezeigt, dass die Vergangenheit nicht die Zukunft bestimmen muss, auch wenn sie diese formt. Das Leben fließt dahin wie ein Fluss, doch man kann stets dessen Richtung ändern, bis er schließlich ins Meer mündet.

Schrill zerreißt ein Piepen die schwarze Stille um mich herum. Meine Ohren beginnen zu schmerzen und dennoch klingt dieses Geräusch so vertraut. In regelmäßigen Abständen kehrt es wieder, als wäre es eine sonderbare Melodie, die mir zuliebe gespielt wird. Ist dieses Piepen schon die ganze Zeit dagewesen? Habe ich es einfach nur ausgeblendet, da ich zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen bin? Auch begreife ich erst jetzt, dass meine Augen noch immer geschlossen sind, weshalb die Schwärze so erdrückend ist. Meine Augenlider unterdrücken wie Sargdeckel meine Fähigkeit zu sehen und sind auch ebenso schwer und starr wie solche. Dennoch sammle ich meine Kräfte, um sie beiseite zu schieben. Ich habe lang genug geschlafen. Wird Zeit, dass ich meinen geschenkten Neuanfang wage.

Das Erste, was ich sehe, ist verschwommenes Weiß, das die endlose Dunkelheit ersetzt. Wie eine Wand aus Nebel breitet sich es vor meinen Augen aus und empfängt mich mit kalten, aber offenen Armen im Leben. Liege ich unter freiem Himmel? Wie soll das möglich sein, wenn man mich doch vom Unfallort hat wegschaffen müssen? War ich etwa nur wenige Sekunden dort oben bei den Kindern? Warum spüre ich dann keinen Luftzug und keinen Schmerz? Ich liege weich. Der Asphalt ist also fort und durch etwas anderes ersetzt worden, das ich nicht zuordnen kann.

Nur langsam klärt sich das Bild direkt vor mir, als sich der Schleier lüftet. Da ist kein kalter, wolkenverhangener Himmel über mir, sondern nur die schneeweiße Zimmerdecke eines Raumes, den ich nicht kenne. Für einige Momente starre ich diese Wand an, wobei wieder einmal die Verwirrung um sich greift. Wie bin ich hierher gekommen?

Unter Anstrengungen versuche ich meinen Kopf zu drehen, wobei mein Hals knackt, als hätte sich die Haut von diesem längst abgeschält und nur die einzelnen Gelenke zurückgelassen, die nun aneinander reiben. Ich habe wohl wirklich zu lange bewegungslos dagelegen. Jedoch lindert diese Erkenntnis nicht den Schmerz, der meinen nur langsam erwachenden Körper erfasst und erzittern lässt. Trotz aller Mühen sehe ich nur wenig von meiner Umgebung. Zu beiden Seiten von mir befinden sich weiße Streben, die mir die Sicht auf beinahe alles versperren. Im Hintergrund erkenne ich graue und weiße Kästen, die vermutlich mit mir verbunden sind. Von dem einen scheint auch das Piepen zu kommen. Hört sich so mein Herzschlag an? Ziemlich ruhig, wenn ich doch eigentlich so angespannt und fast schon nervös bin.

Als ich versuche, meinen Kopf noch ein Stück weiter zur Seite zu drehen, werde ich durch etwas Weiches und doch Unnachgiebiges daran gehindert. Sie haben mir eine durchsichtige Maske aufs Gesicht gesetzt, stelle ich fest, als ich auf die Mitte meines Gesichtes schiele. Habe sie mich damit die ganze Zeit, während ich geschlafen habe, beatmet? Wie bin ich eigentlich ernährt worden? Die etlichen Schläuche, die sich um meinen Körper winden, als wären es hinterlistige Schlangen, die danach trachten, mir ihr Gift zu injizieren und mich langsam und qualvoll daran sterben zu sehen, geben mir eine ziemlich klare Antwort. Wäre ich mir nicht bewusst, dass ich gerade erst wieder zum Leben erwacht bin, würde ich diesen Ort wohl als mein Sterbebett bezeichnen.

Vermutlich hat nicht einmal mehr jemand damit gerechnet, dass ich wieder aufwache. Doch hier bin ich. Und ich werde nicht mehr gehen, solange man mich nicht sanft im Schlaf erwürgt.

Allmählich frage ich mich, wie ich eigentlich genau hierher gekommen bin. Mir ist schon klar, dass mich die Sanitäter an diesen Ort gebracht haben, aber es ist einfach seltsam auf einem weichen Bett und umringt von lebenserhaltenden Maßnahmen aufzuwachen, wenn man doch ganz genau weiß, dass man auf Asphalt und in seiner eigenen Blutlache eingeschlafen ist. Ist eigentlich irgendjemand aus meinem Bekanntenkreis benachrichtigt worden? Mika müsste noch immer als mein zuständiger Unfallkontakt eingetragen sein. Zahlt etwa sie diesen ganzen Aufwand, um mich am Leben erhalten zu können? Wohl kaum – schließlich hat sie mich an unserem letzten gemeinsamen Abend angesehen, als wünsche sie mir Pest und Cholera gleichzeitig an den Hals. Warum also sollte sie dann nicht mit Freuden den Stecker ziehen lassen? Ist Mika auch nur einmal hier gewesen? Ist sie sich bewusst, dass ich fast wegen ihr und ihrem kindischen Gehabe gestorben wäre?

Ich habe genug vom ewigen Liegen. Mühsam schaffe ich es, mich ein wenig aufzurichten und mir so einen besseren Überblick über das Zimmer zu verschaffen.

Wie erwartet, bin ich allein. Doch da ist nicht diese Einsamkeit, die auf mich niederdrückt, wie es sonst immer der Fall gewesen ist. Stattdessen bin ich beinahe schon erleichtert. So muss ich wenigstens niemandem erklären, was alles während meines kleinen Schönheitsschlafes passiert ist. So habe ich auch die Zeit, zu versuchen, ob ich mich nicht vom EKG oder dem Beatmungsgerät lösen kann, ohne, dass mich jemand daran hindert. Ich muss aufstehen. Irgendetwas in mir treibt mich dazu an, meine Zeit in vollen Zügen zu nutzen. Ich habe so vieles nachzuholen, was ich in meinem ewigen Tran versäumt habe. Doch dafür muss ich aufstehen und von vorn beginnen. Wenn ich hier liegen bleibe, falle ich wieder in mein altes Muster zurück und diese ganze Reise ist umsonst gewesen.

Ein überrascht klingender Laut reißt mich aus meinen Gedanken. Sofort fährt mein Kopf zu der Krankenschwester herum, die soeben das Zimmer betreten haben muss, um ihrer Pflicht nachzukommen und sich um den bewegungslosen Knochensack, den sie hier eigentlich erwartet hat, zu kümmern. In all ihrer Aufregung fummelt sie einen kleinen dunklen Gegenstand aus ihrer Tasche und meint, dass ein gewisser Doktor Clarke ins Zimmer 304 kommen soll, da der sich darin befindliche Komapatient aufgewacht ist. Ich brauche einige Sekunden, um zu verstehen, dass sie mich mit besagtem Patienten meint.

Die schwarzhaarige Frau, die wirkt, als hätte sie gerade erst ihre Ausbildung hinter sich gebracht, scheint wirklich vollkommen durcheinander zu sein, kommt dann jedoch auf mich zu, umarmt mich, als wären wir alte Bekannte und fragt mich in etwa tausendmal, ob es mir auch wirklich gut geht und ich nicht etwas brauche.

Wie kann sie sich so sehr darüber freuen, dass ich nicht gestorben bin, wenn sie mich nicht einmal kennt? Muss aber auch irgendwie ein deprimierender Anblick gewesen sein, all die Zeit um eine lebende Leiche herumgeschlichen zu sein, um sie künstlich zu ernähren und zu waschen. Für einen kurzen Moment steigt mir die Schamesröte ins Gesicht, wenn ich daran denke, dass diese Fremde vermutlich jeden Zentimeter meines Körpers kennt, obwohl ich sie nicht dazu eingeladen haben, sich das anzuschauen. Und nun zerdrückt sie mich nahezu durch diese viel zu lange und viel zu vertraute Umarmung.

Sie löst sich erst wieder von mir, als der Arzt ins Zimmer tritt und geschäftig beginnt, mich und meine Armee an Apparaten zu inspizieren. »Wie fühlen Sie sich, Mister Kavanagh?«, fragt der Mann Mitte vierzig und allmählich schwindendem Haaransatz, wo sicher einst noch eine dunkle, prachtvolle Lockenmähne jedes Friseurenherz hat höher schlagen lassen. Wie so oft schon in meinem Leben ignoriere ich die unbeholfene Aussprache meines nicht einmal so komplizierten Nachnamens und räuspere mich kurz, da ich meinen eingerosteten Stimmbändern einfach nicht zutraue, sofort beim ersten Versuch zu funktionieren. »Den Umständen entsprechend, schätze ich mal«, erwidere ich leise und unter erneuten Schmerzen, da mein Hals sich anfühlt, als hätte man mich mit Salzwasser vollgepumpt und dann einmal kräftig durchgeschüttelt. »Ich hätte nur gern die Möglichkeit, mich zu bewegen.«

Doktor Clarke schenkt mir ein überhaupt nicht überheblich wirkendes Lächeln. »Bedauerlicherweise werden Sie mit den Spaziergängen in Eigenregie warten müssen, bis Sie den durch das Koma bedingten Muskelschwund wieder aufgearbeitet haben. Dabei wird Ihnen die Physiotherapie helfen. Zudem sind Sie sicher noch ein wenig durcheinander, weshalb ich Ihnen raten würde, sich in therapeutische Obhut zu begeben, allein schon um den Unfall verarbeiten zu können. Des Weiteren stehen meine Kollegen und ich Ihnen gern zur Verfügung, sollten Sie irgendwelche Beschwerden haben. Doch zunächst einmal werde ich Sie allein lassen. Ordnen Sie Ihre Gedanken und rufen Sie mich, sollten Sie mich brauchen.« Mit diesen Worten verschwindet er wieder und lässt mich allein mit der quirligen Krankenschwester.

»Ich freue mich wirklich, dass Sie aufgewacht sind. Ich habe so oft gebetet, dass Sie nicht sterben. Denn wissen Sie, Sie sind mein erster Patient gewesen. Deshalb bin ich froh, dass es Ihnen gut geht. Ich heiße übrigens Beth Hall. Falls Sie interessiert, wer ihnen sechs Monate lang die Katheter gewechselt und die ganze ‚Drecksarbeit' gemacht hat.«

Auch sie schenkt mir ein Lächeln, jedoch wirkt es sehr viel ehrlicher als das ihres Vorgesetzten. Ich habe aber keinen Nerv mehr für diese belanglosen Konversationen, da ich viel zu sehr getrieben von meinem wiederentdeckten Tatendrang bin. Sechs Monate habe ich einfach nur da gelegen und vor mich hin geträumt. Nun ist es an der Zeit, diese kleine Ewigkeit an verlorener Zeit aufzuarbeiten.

»Könnten Sie mir einen Gefallen tun, Miss Hall?«, frage ich noch immer unter Schmerzen. Die junge Frau nickt eifrig, woraufhin ich fortfahre, »Wären Sie so nett mir ein Diktiergerät zu besorgen? Ich würde gern etwas festhalten, um es später besser aufschreiben zu können.«

Mit leisem Gemurmel ist auch sie verschwunden, womit ich wieder Zeit habe, an die Decke zu starren und darüber nachzudenken, für wie verrückt mich wohl die Leute halten würden, wenn ich ihnen von zweiten Chancen, allmächtigen Kindern und Wippen, die das Schicksal bestimmen, erzählte.

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