Kapitel 20
Es ist der Moment, in dem sich meine beiden Lebensabschnitte vermischen. Das ist alles, woran ich denken kann, während mein jüngeres Ich mit all seinen Sachen vor einer zu diesem Zeitpunkt noch fremden Wohnung steht und von einer derartigen Verzweiflung gezeichnet ist, dass sie mir im Nachhinein das Herz bricht.
Er klingelt an der Tür. Stille folgt. Noch immer kann ich die Nachwirkungen meiner Panik damals fühlen. Ich habe wirklich Angst gehabt, dass es Mika genauso ergangen ist wie meiner Mutter, wobei das natürlich Schwachsinn gewesen ist. Dieses Schweigen und das Warten, dass meine Freundin die Tür öffnet, hat mich wahnsinnig gemacht. Erst als sie vor mir gestanden hat, verlor sich die Angst.
Mein Leben vor und nach Mika verschmelzen in diesem Moment miteinander, wo sie mein Vergangenheits-Ich mit einem besorgten Blick und einem beinahe gehauchten »Was ist passiert? Solltest du nicht bei deiner Mutter in Dover sein?« empfängt. Erst im Nachhinein höre ich diesen beinahe stummen Vorwurf in ihrer Stimme. Als würde sie es mir eigentlich übel nehmen, dass ich nun vollkommen aufgelöst vor ihr stehe, da sie etwas Anderes vorgehabt hat. Damals bin ich vermutlich viel zu sehr mit mir und meiner Trauer beschäftigt gewesen, um dies zu bemerken.
Tränen rinnen über die bereits geröteten Wangen meines Abbildes. Hat Mika mich wegen meiner Emotionalität nicht oft als ‚Weichei' bezeichnet? Vermutlich hat dieser Moment einiges zwischen uns zerstört, allein weil ich vor ihren Augen geweint habe, was schließlich eine der gesellschaftlichen Todsünden für einen Mann darstellt. »Sie ist tot«, höre ich mich selbst brüchig flüstern, ehe alles wieder vom statischen Rauschen verschlungen wird. Was ist nur mit meinem Gedächtnis los? Will ich einfach nur nicht hören, wie ich damals, einem verdammten Nervenzusammenbruch nahe, erzählt habe, wie meine Mutter einfach feige aus dem Leben gesprungen ist, da sie dachte, wirklich alle hätten sie verlassen? Es würde vermutlich zu sehr wehtun – ich bin noch heute nicht über den Selbstmord meiner Mutter auch nur ansatzweise hinweg.
Doch eigentlich bin ich eher wütend als traurig. Genauso wie ich wütend auf Finnlay bin, dass er auf diesen verdammten Baum geklettert ist. Oder auf Mika, die mich in meiner Dunkelheit hat baden lassen, bis sie mich einfach allein gelassen hat. Und besonders wütend bin ich auf diesen beschissenen Fahrer der Karre, die mich aus dem Leben katapultiert hat, ohne dass ich etwas habe hinterlassen können, das an mich erinnert. Die Wut zerfrisst mich. Aber es ist immerhin besser, als würde die Trauer mich ertränken.
Meine nun Exfreundin hat die Kopie von mir derweil in den Arm genommen und streicht dieser durchs Haar, als wäre ‚ich' nicht mehr als ein Kind, das sich das Knie beim Spielen aufgeschlagen hat. »Weißt du schon, wie es ab jetzt weitergeht?«, flüstert die Blonde, vermutlich befürchtend, dass ein zu lautes Sprechen mich verschrecken könnte. Es hat damals nicht viel gefehlt, damit ich in ihren Armen einfach ohnmächtig geworden wäre. »Nein«, gibt mein vergangenes Ich als Antwort, die weinerlicher nicht klingen könnte, »Ich weiß ja nicht einmal, wo ich heute Nacht schlafen soll! Die Wohnung kann ich ganz bestimmt nicht halten mit dem Bisschen, was ich verdiene. Dabei sind unsere ganzen Sachen darin, die sie vermutlich wegwerfen werden, ohne nochmal nachzufragen, ob das vielleicht doch wichtig ist.« Das Häufchen Elend schnieft einige Male und versucht sich regelrecht an der jungen Frau festzuhalten, um nicht einfach zusammenzubrechen.
»Kennst du eventuell jemanden, der mich bei sich schlafen lassen würde? Nur bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe nicht für immer, natürlich.«
Auf diese so verzweifelte Anfrage hin bringt die Mika-Kopie nur ein beinahe hysterisch klingendes Lachen zustande, während sie meinem zweiten Ich weiterhin übers Haar streicht. »Ob ich jemanden kenne? Natürlich kannst du bei mir schlafen, Dummerchen! Ich habe dich sowieso schon länger fragen wollen, ob du bei mir einziehen willst. Schließlich sind wir ja ja schon ziemlich lange zusammen und ich will einfach nicht, dass du dauernd im Motel schlafen musst. Ist das okay für dich? Ich fühle mich auch immer noch schuldig, dass ich zu deinem Geburtstag in Italien war, doch dazu später. Aber komm erst einmal rein.«
Noch während die beiden Kopien hineingehen und die Tür leise hinter sich schließen, als solle niemand bemerken, dass sie nun zusammen sind, nicke ich ein wenig. »Seht ihr jetzt, dass ihr bei Mika falsch lagt?«, frage ich die Kinder, ohne ihre Reaktion weiterhin direkt sehen zu können. »Es spricht doch definitiv für sie, dass sie mich einfach so aufgenommen hat.«
Ein missbilligendes Schnalzen ertönt, doch dringt nur als schwaches Echo zu mir vor, als wären die beiden in einer vollkommen anderen Welt als ich gefangen. »Du weißt selbst, dass das nicht aus reiner Herzensgüte geschehen ist. Schließlich hat sie dir doch später vorgeworfen, dass du dich trotz der Nähe noch weiter von ihr distanziert hast. Sie hat dich nur bei sich einziehen lassen, um dich besser kontrollieren zu können.« Die Worte des Todes fühlen sich an, als würde man mir Messer in die Brust rammen. Das kann er unmöglich ernst meinen. Mika hat mich geliebt. Egal, wie seltsam sie das manchmal gezeigt hat. Oft ist sie wütend auf mich gewesen, hat mich wegen Kleinigkeiten angeschrien oder ignoriert und hat mich auch eher mit ihren ständigen Neckereien ziemlich verletzt. Aber sie ist geblieben. Bis sie einfach gegangen ist.
Doch noch ehe ich etwas erwidern kann, greift das Leben ein, um alle zu beschwichtigen. »Bitte fangt nicht an zu streiten. Wir müssen weiter. Schließlich sind wir noch nicht am Ende dieser Reise angekommen.«
Wieder verändert sich die Szenerie, als wäre sie wirklich nicht mehr als ein bewegliches Bühnenbild im Laientheater. Eine Diskussion ist zu hören, ehe sich überhaupt ein Bild materialisiert. »Siehst du nicht, dass er ein Nichtsnutz ist?« Wieder hallen diese lauten, durchdringenden Worte von den unsichtbaren Wänden um mich herum wider. Ich kenne diese Stimme zu gut. Sofort senke ich den Blick wie ein gescholtener Hund. Warum muss nun Mikas Vater wieder alles zerstören? Es ist bisher doch so harmonisch gewesen. Müssen diese Kinder mir diesen peinlichen Moment wirklich noch einmal zeigen? Es reicht doch, dass ich ihn einmal erlebt habe. Aber wer hört schon auf mich? Die anderen Episoden sind trotzdem abgespielt worden wie schlechte Kurzfilme, egal wie schlecht ich mich dabei gefühlt habe.
Endlich wird mir auch das Bild zum Ton gezeigt. Es ist unverkennbar Weihnachten. Der lange Tisch ist reich gedeckt mit Truthahn, Plumpudding und ähnlichen typisch englischen Köstlichkeiten. In der einen Ecke des Raumes präsentiert sich ein beinahe schon überladend geschmückter Baum in all seiner Pracht und strahlt so hell, dass man keine weitere Beleuchtung braucht, um alles bestens sehen zu können.
Mikas Eltern haben schon immer ihren Reichtum fast schon provokant zur Schau stellen müssen. Einfach um jemandem wie mir zu zeigen, wie viel toller sie doch als ich und meine unterdurchschnittlich wohlhabende Familie sind. Ich erinnere mich noch daran, dass Mikas Mutter mich einmal gefragt hat, ob ich denn schon mal einen Truthahn gesehen habe. Dabei hat sie diese Stimme aufgelegt, die man nur benutzt, wenn man entweder mit einem Tauben oder einem geistig Zurückgebliebenen spricht. Ich habe nur leise seufzen und nicken können. Natürlich habe ich schon einmal einen Truthahn gesehen. Manches Weihnachten hatten meine Mutter und ich auch einen auf dem Tisch, der dann aber fast eine Woche lang für uns gereicht hat und nicht, wie es in den ach so gehobenen Kreisen sicherlich Gang und Gebe ist, nach einem Tag einfach weggeschmissen wurde, obwohl noch ungefähr die Hälfte übrig gewesen ist. Dekadenz ist kein feines Verhalten, es ist reine Dummheit. Anstatt sich nur um sich selbst und seinen Reichtum zu drehen, sollte man daran denken, wie wenig doch andere haben und sich an dem erfreuen, was man von Gott oder sonst wem geschenkt bekommen hat.
Jedenfalls sehe ich nun dabei zu, wie Mika und ihr Vater sich gegenseitig an genau dem Tag, der eigentlich der Nächstenliebe und Gemeinschaft gewidmet sein sollte, streiten. Mittendrin sitze ich in mich zusammengesunken und halte den Blick gesenkt, als wäre ich nicht mehr als ein ungezogenes Kind. Um uns herum sitzen die üblichen Verdächtigen, die sich vermutlich alle insgeheim gegen mich verschworen haben, da ich nicht in ihre Reihen passe. Da wäre eben Mikas Mutter, ein Freund der Familie, samt seiner Frau und Mikas Bruder und seine ebenfalls reiche Freundin, die mich allesamt immer wieder anblicken, als wäre ich nicht mehr als nur Staub an ihren Fußsohlen.
»Er ist ein Versager, Kleines! Der wird nie etwas Anständiges auf die Reihe bekommen und dir und uns höchstens auf der Tasche liegen!«, keift der Mann mittleren Alters. »Aber Calin ist unglaublich intelligent«, wirft Mika ebenfalls aufgebracht ein. »Er wird sicher bald einen Job finden und damit so viel Geld verdienen, dass du grün vor Neid wirst!« Sie reden, als wäre ich nicht anwesend. In diesem Moment habe ich auch einfach nur von der Bildfläche verschwinden wollen.
Ihr Vater hört jedoch währenddessen nicht auf, zu widersprechen. »Ach was, aus dem wird nie etwas. Du solltest ihn einfach rausschmeißen und dir einen anständigen Freund suchen. Was war denn so falsch an ... Wie hieß er noch gleich? Niclas? Der war höflich, hat dich gut behandelt und seine Eltern hatten Geld wie Heu. Was hast du also für einen Grund, dir solch ein Pack anzuschaffen? Am Ende müssen wir noch für seine ganze Familie aufkommen. Willst du uns ruinieren?«
In diesem Moment wird ein Stuhl lautstark zurückgeschoben. Sofort hört das Streiten auf, während alle meine Kopie anstarren, die aufgestanden ist und einfach vollkommen ruhig im Raum steht. Nur langsam dreht mein zweites Ich den Kopf, um das Oberhaupt dieser Familie anzusehen und zu sagen: »Zumindest ist das Pack nicht so falsch und lädt jemanden ein, der nicht erwünscht ist, nur um sich über ihn zu beschweren.«
Kurz legt Calin 2 eine Pause ein, in der alles in vollkommenes Schweigen gehüllt ist. »Außerdem müssen Sie sich keine Sorgen um das finanzielle Wohl meiner Familie machen. Mika wird sie sicher gerne aufklären.« Es ist das erste Mal, dass ich all meine Bitterkeit als Außenstehender zu Gesicht bekomme. Gleich darauf stürmt die Kopie einfach aus dem Raum. Einige Momente später ist das Zuschlagen einer Tür zu hören, wobei die Szene wieder um mich herum gefriert.
»Erinnerst du dich noch, wie dieser Tag ausgegangen ist?«, fragt das Leben ebenso leise wie meine Exfreundin vorhin, als ich kurz vor dem Zusammenbruch gestanden habe. Ich nicke. »Ich bin in eine Bar gegangen, die zufällig offen hatte. Mika ist mir nicht gefolgt, obwohl ich es irgendwie gehofft hatte. Dann habe ich mich so lange betrunken, bis ich kaum noch geradeaus sehen und stehen konnte. Währenddessen habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich einfach umzubringen, da mich eh niemand vermissen würde und Mika und ihre Familie mich dann nicht mehr ertragen müssten.«
Wieder höre ich den Tod beinahe knurren. »Das spricht wohl für so ziemlich alles, was an dieser Beziehung schlecht war. Wieso sollte man seine Familie über seine Zukunft mit dem Menschen, den man angeblich über alles liebt, stellen? Das ist falsch. Sie hat nie an dich, sondern nur an das Geld gedacht.«
Ein Schnipsen ertönt und wieder wechselt die Szene. Jedoch wird nun keine bestimmte Episode gezeigt, sondern es werden alle Streits, die Mika und ich in den letzten fünf Jahren hatten, im Schnelldurchlauf runtergerattert, ohne mich wirklich das Thema jeder einzelnen Auseinandersetzung begreifen und reflektieren zu lassen.
Ich spüre eine Hand auf meiner ruhen, ohne sie zu sehen. »Sie hatte dich nicht verdient«, versucht das Leben mich auf diese schwache Weise zu trösten. Daraufhin kann ich nur mit dem Kopf schütteln. »Wir sind beide schuld. Schließlich ist es normal, dass eine Beziehung ihre Höhen und Tiefen hat. Dabei kann man nicht nur einem von beiden die Verantwortung für die Trennung zuschreiben. Vor allem wenn man sie dem anderen zuschiebt, macht man es sich zu einfach. Durch alles, was in der Vergangenheit passiert ist, bin ich sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Somit habe ich nicht wirklich für Mika da sein können. Aber sie hat mir auch niemals damit helfen wollen, obwohl sie doch hat sehen müssen, dass etwas mit mir nicht gestimmt hat. Wir haben beide falsch reagiert. Deshalb hat alles so ein böses Ende genommen.«
Dann verfalle ich in Schweigen, schüttle endlich die Hand des Lebens ab und frage mich, wie es wohl wäre, in einer Welt zu leben, die nicht so sehr auf Äußerlichkeiten und Familiengeschichten achtet. Kann so eine Welt überhaupt für uns existieren? Nein, vermutlich eher nicht. Denn eine perfekte Welt wäre eine, die keine Menschen kennt, die in ihrer Gier alles zerstören, was sie für falsch halten.
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