Kapitel 2
Tonlos wirken meine bleiernen Schritte auf dem unnachgiebigen Gehweg durch die Musik, die mit voller Lautstärke durch meine Gehörgänge dröhnt. Sie lenkt mich ab und errichtet gleichzeitig einen undurchdringlichen Wall rund um meine Gedanken, um diese nicht einfach im Sande verlaufen zu lassen. Musik ist schon immer mein bester Freund gewesen. Egal wie ausweglos und beengt die Welt um mich herum auch manchmal ausgesehen haben mag, ein paar Minuten allein mit diesem regelrechten Lebenselixier haben immer ausgereicht, um mich alles Negative wieder vergessen zu lassen.
Warum nur kann ich nicht auf ewig in diesem Gefühl der Euphorie und der Schwerelosigkeit gefangen sein, das ich so dringend zum Atmen brauche? Alles wäre viel einfacher. Ich könnte für immer glücklich sein, ohne von meiner persönlichen Droge jemals ablassen zu müssen. Nie wieder würde ich hinter meinem Rücken hören, dass die Menschen mich als seltsam oder eigenartig bezeichnen. Sie haben doch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, sämtliche Sinne von all den Melodien dieser Welt betäuben und sich einfach von ihnen in eine vollkommen andere Welt tragen zu lassen, in der nur man selbst mit der Musik existiert. Hätte Mika dies nur auch einmal versucht –dann hätte sie sicherlich nicht so sehr darauf bestanden, dass ich stundenlange Gespräche ohne Aussage führe.
Von zwischenmenschlichen Beziehungen bin ich ab heute wohl sowieso auf unbestimmte Zeit freigesprochen. Schließlich ist mit meiner Freundin auch so ziemlich mein gesamtes soziales Leben gegangen. Es sind schließlich immer ihre Eltern und Freunde gewesen, die zu Geburtstagen oder sonstigen Festen erschienen sind. Seit dem Tod meiner Eltern stehe ich allein auf weiter Flur. Sonderlich tiefe Freundschaften habe ich auch nie gepflegt; flüchtige Bekanntschaften sind für mich eher typisch gewesen. Die einzige Konstante in meinem Leben ist die Musik. Alles andere ändert sich so rasant, dass mein Kopf schmerzt, wenn ich nur daran denke, was mich wohl als nächstes aus der Bahn werfen wird.
Bin ich vielleicht selbst an meiner Einsamkeit schuld, die mich jedoch, ehrlich gesagt, nicht im Geringsten stört? Wenn ich ein anderer Mensch wäre, könnte ich ein Leben führen, das meine Mitmenschen als erstrebenswert erachten würden? Würde ich als stumpfes Arbeitstier wirklich besser sein als jetzt, als ewiger aber leidenschaftlicher Versager? Wohl kaum. Sollen sie doch alle gehen. Solange ich die Musik habe, werde ich schon glücklich genug sein.
Als gerade irgendein Lied endet und das nächste beginnt, bringe ich schließlich die Kraft auf, meinen Kopf zu heben, um mir darüber klar zu werden, wohin mich nun meine vollkommen automatisierten Beine letztendlich geführt haben. Ein beinahe schon unscheinbares Gemäuer, das nicht einmal durch das penetrante Gelb, das die Fassade aufweist – um vermutlich in allen Betrachtern den Wunsch aufkommen zu lassen, sich selbst die Augen auszukratzen – gerettet werden kann, hat sich ungefragt in mein Sichtfeld geschoben. Die blau-weiß gestreiften Markisen, die sich über die Fenster spannen, verschlimmern eher das Äußere noch, als dass sie irgendwas besser machen. Nur ein recht nebensächlich wirkendes Schild gibt bekannt, dass dieses Monstrum von einem Etablissement ‚Big Apple' getauft worden ist und wohl eine Bar darstellen soll.
Für einen Moment spiele ich wirklich mit dem Gedanken, jedes Klischee eines einsamen Tölpels zu erfüllen und meinen Kummer in bitterem Alkohol zu ertränken. Doch dafür ist mir mein Verstand doch noch ein wenig zu schade, um ihn wegen eines kleinen Fehlschlages schleichend zu zersetzen. Auf dieser Ebene des Niveaus bin ich noch längst nicht angekommen. Nur weil Mika weg ist, heißt das nicht, dass mein Leben endgültig vorbei sein muss. Zumindest generell. Die finanzielle Seite dieses Schicksalsschlags sieht noch immer nicht sonderlich rosig aus.
Plötzlich werde ich von einer unerwarteten Fremdeinwirkung vollkommen aus der Bahn geworfen. Jemand scheint mir einfach dreist auf die Schulter getippt zu haben. Sofort zeigt mein Körper die entsprechende Abwehrreaktion und versucht diesen Fremden durch Zittern und gelegentliches Zucken zu vertreiben. Ich hasse es, berührt zu werden. Vor allem von Menschen, zu denen ich nicht die geringste Bindung habe. Doch auch meine wenigen Angehörigen haben mich seit Jahren nicht mehr umarmen dürfen. Und da kommt einfach dieser Fremde daher und tippt mich an, als wäre es ganz normal? Reflexartig pausiere ich die so hypnotische Musik, ziehe grob die Kopfhörer aus meinen Ohren, dass ein kurzer aber heftiger Schmerzimpuls durch letztere zuckt, und wende mich aufgebracht und noch immer unter Strom stehend dieser so achtlosen Person zu.
»Hey, alles in Ordnung?«, fragt mein Gegenüber mich schneller, als ich meiner Gereiztheit Ausdruck verleihen kann.
Es ist eine junge Frau, die dort vor mir steht und durch den immensen Größenunterschied zu mir aufschauen muss, um mir halbwegs in die Augen blicken zu können. Dunkelrot gefärbte Haare umrahmen ihr herzförmiges Gesicht, aus dem mich freundliche, haselnussbraune Augen direkt anschauen und scheinbar versuchen, einen Draht zu mir aufzubauen. Sie lächelt unbefangen, doch wirkt zur gleichen Zeit so besorgt, als wäre ich ein bereits langjähriger Vertrauter ihrerseits. Ihr Mantel ist ebenso rot wie ihre Haare. Vermutlich mag sie alles, was diese Farbe trägt.
Dazu neigen Menschen doch, oder? Die Dinge zu mögen, die mit zumindest einer ihrer Interessen übereinstimmen? Warum also lächelt sie mich an? Mika hat mich einmal als grauen Menschen bezeichnet. Wieso sollte jemand wie diese Fremde auch nur einen Gedanken an mich verschwenden, wo sie sich doch scheinbar zu intensiven und lebensfrohen Dingen hingezogen fühlt? Oder zu gefährlichen. Wie man es eben sehen will.
Auf ihre, noch immer im Raum stehende, Frage hin nicke ich nur. Was geht es diese Unbekannte schon groß an, was in meinem Leben vorgeht? Von meiner stummen Antwort wirkt die junge Frau nicht sonderlich überzeugt. Als ich mich schon wieder abwenden, und meines Weges gehen will, redet sie einfach weiter auf mich ein und hält mich somit in dieser ‚Konversation' gefangen.
»Sicher? Warum stehst du denn sonst mitten vor dem Eingang und versperrst allen anderen den Weg?«
Ihr Versuch, mich in ein Gespräch zu verwickeln, könnte kaum deutlicher sein. Allein aus Dankbarkeit, dass sie mich für diesen Moment von meinen finsteren Gedanken abgelenkt hat, gehe ich auf sie ein. Wieso sollte ich auch eine der Wenigen, die mit mir reden wollen, abweisen?
»Ich wusste einfach nicht wohin mit mir«, murmle ich wahrheitsgemäß und sehne mich bereits wieder nach meinen Antidepressiva in Musikform.
Allmählich wirkt das Lächeln der Rothaarigen fast schon gezwungen. Dennoch streckt sie mir ihre Hand entgegen, als müsse sie dieses förmliche Begrüßungsritual, wo doch der Start so holprig gewesen ist, nachholen.
»Na ja, ich bin jedenfalls Stella. Dürfte ich den Namen des jungen Mannes erfahren, der selbst an einem so schönen Abend so traurig aussieht?«
Sie versucht wirklich also mit mir zu reden. Von ihrem so tiefsitzenden Interesse bin ich derart überrascht, dass ich nur langsam meine Antwort formulieren kann. »Calin. Ich heiße Calin. Freut mich, dich kennenzulernen.« Auf diese unpersönliche Floskel hin lächelt sie noch ein wenig mehr. »Ganz meinerseits«, erwidert die Frau in Rot und wendet ihren Blick von meinem Gesicht ab und dem Handy in meiner Hand zu.
»Ich darf doch sicher, oder?«
Ehe ich etwas erwidern kann, hat Stella mir schon auf diese seltsam sanfte Art mein Handy entrissen, meine spärliche Kontaktliste geöffnet und begonnen, sehr konzentriert einige Zahlen einzutippen. Mit einem weiterhin besorgten, jedoch nun fast triumphierenden Ausdruck im hübschen Gesicht, händigt die Rothaarige mir mein Handy wieder aus. »Falls du darüber reden willst, bin ich für dich da.«
Schon im nächsten Moment verliere ich sie aus den Augen, da sie von einer anderen Frau, vermutlich einer Freundin, von mir fort, und in dieses so wenig einladend scheinende Gebäude gezogen wird. Ich kann währenddessen nur auf den noch immer hell erleuchteten Handybildschirm starren und mich darüber wundern, dass ich gerade von einer vollkommen Fremden die Nummer bekommen habe, ohne auch nur einmal wirklich danach gefragt zu haben. Hätte ich das getan, wäre ich eh abgewiesen worden. Vermutlich sehe ich aber auch einfach so unglaublich bemitleidenswert aus in all dem Grau, das mich wie eine Wolke umschließen muss, dass Stella mir einen kleinen Gefallen tun und mich aufheitern wollte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffe ich es schließlich, mich von diesem Ort loszureißen und meinen Weg fortzusetzen; ohne Musik diesmal. Viel zu sehr bin ich noch mit dem Gedanken an Stella beschäftigt. Wie hat diese eine Frau es nur geschafft, mich so sehr aus der Fassung zu bringen?
Wie von selbst bewegt sich mein Körper voran, ohne dass mein Geist von der soeben erfolgten Begegnung loslassen kann. Erst eine Kreuzung samt rot aufleuchtender Ampel lässt mich anhalten. Rot wie Stellas Haare. Ein seichtes Lächeln breitet sich wie fremdgesteuert auf meinem Gesicht aus. Es ist ein seltsames Gefühl, dass eine Fremde sich mehr um mein Wohlergehen zu sorgen scheint, als ich selbst.
Die Ampel wird grün und ich laufe los. Wohin gehe ich eigentlich? Sollte ich nicht umkehren und weiter mit dieser so nett wirkenden Frau sprechen? Nun, vermutlich ist sie gerade beschäftigt. Ich werde einfach noch eine Weile laufen und sie dann morgen früh anrufen. Und ich werde ehrlich sein. Sie wirkt wie jemand, dem man einfach jedes Geheimnis anvertrauen kann, ohne befürchten zu müssen, dass sie es am Ende gegen einen verwendet.
Und gerade als ich mir bereits die Worte zurecht lege, die ich morgen zu ihr sagen würde, erfasst mich das Auto.
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