Kapitel 19
Mikas Lachen lässt mich in den nächsten Abschnitt meiner Vergangenheit eintauchen. Dieses Lachen habe ich schon immer geliebt. Es ist meine persönlich liebste Melodie gewesen, bis ich mich in der Welt der Musik verloren und diese eine vollkommen vergessen habe. Heute schäme ich mich dafür. Sollte der Partner nicht der Mittelpunkt der Welt sein? Warum wird Liebe jedes Mal als solch einnehmendes und übermächtiges Gefühl beschrieben, wenn doch jemand Einfaches, wie ich, dieser Macht so einfach widerstehen kann? Oder stimmt nur etwas nicht mit mir, dass ich Melodien mehr liebe, als einen Menschen, der so viel für mich getan hat?
Seite an Seite werden meine Exfreundin und ich gezeigt, wie wir im ‚The Level', dem örtlichen Stadtpark in Brighton, auf einer Bank sitzen und einfach ein kleines Picknick veranstalten. Vermutlich habe ich gerade etwas ziemlich Witziges gesagt. Mika hat immer gemeint, dass sie meinen Humor allem anderen voran erst mögen und schließlich lieben gelernt hatte. Ebenso ist laut ihren Brief auch mein verschwundener Sinn für Humor einer der Gründe gewesen, warum sie sich schließlich von mir getrennt hat. Doch anstatt weiter darüber nachzudenken, wie es so weit hat kommen können, beobachte ich diese beiden Kopien lieber dabei, wie sie beieinander sitzen und einfach so glücklich wirken, als wären sie in ihrer vollkommen eigenen Welt gefangen, in der niemand sie stören konnte.
Schließlich verklingt Mikas Lachen und wieder dringt dieses leise Rauschen an meine Ohren, als könne mein Verstand nicht mehr zusammenfügen, was alles an diesem Tag gesprochen worden ist.
»Es tut mir so leid, dass das hier nichts Besonderes ist. Du bist vermutlich eine ganz andere Klasse von Verabredungen gewöhnt. Ich langweile dich bestimmt«, dringt schließlich eine meiner vielen unnötigen Entschuldigungsrede an meine Ohren. Ich weiß noch genau, wie unangenehm mir meine so miserable finanzielle Lage damals vor jemandem wie Mika gewesen ist. Für unser erstes Date habe ich mir nicht einmal ein richtiges Restaurant leisten können. Was hat sie nur von mir halten müssen?
»Ach was, das nicht nötig«, wirft die junge Frau ein, »Ich finde das hier wirklich toll. Außerdem bist du eine nette Abwechslung zu dem ganzen ‚Ich bin reich'-Gehabe, das ich sonst nur um mich herum habe. Du weißt gar nicht, wie anstrengend das ist. Das nächste Mal lade ich dich dann einfach ein. Damit du auch mal meine Welt kennenlernen kannst. Und weil ich dich echt nicht in Schwierigkeiten bringen will. Schließlich ist es nicht meine Absicht, dich durch Verabredungen so arm zu machen, dass du auf der Straße landest, weil du deine Miete nicht mehr zahlen kannst.«
Still weigere ich mich, diese versuchte Untergrabung meiner, vielleicht etwas durch die Gesellschaft vorgegebenen, Dominanz zu akzeptieren. Angegriffen fühle ich mich aber eher durch ihre Bemerkung, wie unterschiedlich wir doch letztendlich sind. Als wäre Geld ein Erkennungsmerkmal wie die Haarfarbe oder der Klang der Stimme. Solche Scherze, wie sie diese indirekte Art von Beleidigung immer genannt hat, hat sie noch öfters gebracht, wie unpassend sie auch sie gewesen sein mögen. Sonderlich viel Taktgefühl hat Mika eben noch nie besessen.
»Lass uns hinüber zum Spielplatz gehen«, höre ich sie sagen, nachdem wir unser kleines Mahl beendet haben. Mein Vergangenheits-Ich lacht nur. »Bist du betrunken?« Mika schüttelt vollkommen ernst mit dem Kopf. »Nein, nur ziemlich albern und kindisch«, erwidert sie, wobei diese Aussage im Gegensatz zu ihrem momentanen Gesichtsausdruck steht. »Neben dem ganzen Stress mit der Uni, meiner Familie und dieser ganzen Verantwortung brauche ich einfach mal etwas Spaß.« Noch ehe die Kopie meiner selbst noch etwas sagen kann, nimmt die junge Frau ‚meine' Hand und zieht mich mit. Ihre genauen Bewegungsabläufe kann ich nicht mitverfolgen, da alles wie im Nebel liegt. In Erinnerung ist mir von diesem Tag auch eigentlich nur unser Wettrutschen geblieben, obwohl ich eigentlich weiß, dass wir so viel mehr getan haben an diesem Tag. Vermutlich ist es genauso wie mit all den Gesprächen, die Mika und ich gemeinsam geführt haben. Ist etwas nicht erinnerungswürdig gewesen, wird es zu einfachem Rauschen. Mein Gedächtnis ist wohl doch nicht ganz so gut, wie ich bisher gedacht habe.
Beinahe verzweifelt, versuche ich zusammen zu bekommen, was auf diesem Spielplatz alles passiert ist. Allein schon, weil ich das Gefühl habe, dass es irgendwie wichtig ist, um fortfahren und endlich hier rauskommen zu können. Schließlich ist es mein erstes Date mit der Person, die letztendlich dafür verantwortlich ist, dass ich hinausgegangen bin, eine neue Frau getroffen habe und schließlich überfahren worden bin. Es fühlt sich an, als würde dort vor mir ein Rätsel liegen, das ich nicht sehe und doch lösen muss, um voranzukommen. Es ist ein treibendes und zugleich niederschmetterndes Gefühl, das so deplatziert in meinem Inneren wirkt. Dennoch versuche ich mich auf meine Gedanken zu konzentrieren, egal wie schwer es auch ist, dieses Gefühl zu ignorieren.
Mika und ich sind nach den Rutschen zu den Schaukeln gegangen. Aus irgendeinem unbestimmten Grund glaube ich, dass an diesem Ort etwas Wichtiges gesagt worden ist, doch alles liegt im Dunkeln. Diese Ungewissheit schmerzt, obwohl mir doch bewusst ist, dass es nicht allzu viel Bedeutung gehabt hat, wenn ich es vergessen habe.
Schließlich lichtet sich der Nebel wieder und ich sehe die beiden Kopien gemeinsam das Klettergerüst erklimmen, um sich auf der kleinen, runden Plattform hoch oben nebeneinander zu legen und einfach nur in den Himmel zu starren, als würde dieser alle Antworten bereithalten und wie Sternschnuppen hinab zur Erde regnen lassen. Alles schweigt. Dieser Ort scheint wie von unsichtbaren Mauern umgeben zu sein, die jedes Geräusch der so lärmenden Stadt schluckt und eine neue Welt schafft, in der nur wir beide existieren. Zumindest habe ich mich so gefühlt. Mika wohl auch, da ich gerade ein geflüstertes »Es ist, als wären wir allein im Universum« von ihr vernehme, das noch sanft nachklingt und vom seichten Seewind schließlich hinfort getragen wird.
Es ist, als würde sie direkt neben mir liegen und nicht etwa dreißig Meter entfernt, da ich mich einfach nicht näher zu den beiden hintraue. Damals hätte ich auch nicht gewollt, dass einfach ein Fremder in diese so vertrauliche Situation eindringt und uns belauscht.
»Weißt du, was ich an diesem Leben so hasse?«, bricht Mika schließlich wieder das Schweigen, ohne auch nur einmal den Blick vom Sternenhimmel abzuwenden, um mein jüngeres Abbild anzusehen. Ich habe damals nicht geantwortet, da es sich nicht angehört hat, als erwarte sie wirklich eine Reaktion meinerseits. Schließlich setzt sie wieder zum Reden an und führt einen ganzen Monolog, an den ich mich Wort für Wort zu erinnern scheine.
»Es ist alles so vorgegeben. Du musst zur Schule gehen, allen gehorchen, die größer sind als du, und hast keine Stimme, da dir einfach niemand zuhört. Dann wirst du einen Lebensweg entlang gezwungen, den du selbst niemals gehen wolltest. In unserem Falle wäre das das Studium. Danach sollst du möglichst schnell einen Beruf mit dem größtmöglichen Profit finden, eine Familie gründen, ein Haus samt Hund und was weiß ich haben und einfach nur an das Geld und den Erfolg denken. Ist da wirklich nicht mehr in unserer Welt, wofür es sich zu leben lohnt?
Ich würde viel lieber reisen und die Welt sehen, bevor ich in diesem elenden Arbeitstrott versauere. Schließlich gibt es so viel zu sehen und zu erleben. Ich will sofort nach dem Studium abhauen und erst zurückkommen, wenn ich alles gesehen habe. Und ich wollte fragen, ob du mit mir mitkommst. Einfach weil Reisen zu zweit mehr Spaß macht und man dann immer etwas hat, worüber man mit dem Anderen reden kann, selbst wenn alles vorbei ist.« Erst jetzt wendet sie mir den Blick zu und schaut mich an, als dulde sie kein Nein und hätte diese Frage nur gestellt, um mir vorzuspielen, dass ich eine Wahl hätte.
Nur langsam nickend stimmt mein Vergangenheits-Ich zu. »Aber ich weiß nicht, ob das alles so funktioniert, wie du es dir vorstellst. Allein schon finanziell gesehen. Sonst würde ich gern mitkommen. Ich habe auch genug von allem hier«, gebe ich damals mein Einverständnis zu einer Sache, die wegen mir niemals stattfinden wird.
Die Vergangenheits-Mika lächelt nur, da sie sich noch nicht bewusst ist, dass sie einem regelrechten Traumzerstörer gerade die Erlaubnis erteilt hat, ihr Leben zu ruinieren. »Keine Sorge, Calin. Dafür werden wir beide schon noch eine Lösung finden.«
Wieder herrscht für einen Moment Schweigen, ehe sie weiter redet. »Wo würdest du als erstes hin wollen? Mir würde ja Australien gefallen, denke ich. Da ist es so warm und wir können Kängurus und Koalas sehen.« Mein jüngeres Abbild lacht nur auf. »Australien? Da gibt es echt jeden Scheiß, den man einfach nicht will. Zum Beispiel Riesenspinnen und Skorpione und alle möglichen Viecher, die dich einfach nur schreiend wegrennen lassen, wenn du nicht lebensmüde bist. Ich wäre eher für Schweden. Da ist es ruhig und wunderschön. Und kalt. Nicht nass-kalt wie hier, eher wirklich kalt. Ich liebe ...« Doch anstatt mich ausreden zu lassen, küsst Mika mich einfach.
Den Rest dieses Abends bekomme ich nicht mehr mit, da alles wieder in endlosen Nebel getaucht wird und die beiden Kinder aus ihren Beobachterrollen fallen. »Sie ist eine wirklich unbeständige Person«, meint das Leben in einer Tonlage, die abwertender und abgehobener klingt, als man es von einem kleinen Mädchen wie ihr jemals erwartet hätte. »Ständig ist sie auf der Suche nach etwas, was sie nicht finden kann und kann es einfach nicht ertragen, wenn Menschen das Spiel nicht nach ihren Regeln spielen.«
Etwas fassungslos blicke ich ins Nichts, da die beiden mich wieder einmal allein in der Schwärze lassen, ehe die nächste Episode meines Lebens beginnt. »Wie kannst du das nur so einfach sagen?«, frage ich mit brüchiger Stimme. Auf irgendeine unbestimmte Weise tut es weh, so etwas über eine Person zu hören, die so lange bei mir geblieben ist, obwohl ich doch ihre Träume zerstört habe.
Das Leben antwortet vollkommen nüchtern, als wäre es geistig nicht mehr anwesend. »Menschen, die viel reisen, oder eben immer etwas Neues brauchen, sind Suchende, die einfach nicht finden können, was sie wollen. Ebenso verhält es sich mit Menschen, die viel und gerne lesen. Sie verlangen nach Abenteuern, die sie aber eigentlich nicht selbst erleben wollen. Darum tauchen sie oft stundenlang in fremde Welten in Wortform ab, da ihnen ihre eigene zu eintönig ist.«
Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, Mika verteidigen zu müssen, so wie sie damals immer versucht hat, mich vor der Boshaftigkeit ihrer Familie zu schützen. »Aber trotz allem ist sie immer treu gewesen und ist bei mir geblieben, obwohl ich alles kaputt gemacht habe.«
Niedergeschlagen betrachte ich nun den Boden, während das Leben nur leise kichert. »Glaubst du wirklich, dass sie so ein Unschuldsengel gewesen ist, Calin? Wir wissen alles. Hör auf, dich selbst anzulügen. Und bitte zitiere nicht mehr diesen dämlichen Brief, den sie dir gegeben hat. Der ist voller Lügen, die sie sich zusammengestrickt hat, um gut vor sich selbst dazustehen.« Ich seufze nur. »Wie sollen das Lügen sein, wenn ich selbst daran glaube? Was sie geschrieben hat, stimmt. Ich bin der Fehler im System. Egal wie wechselhaft und untreu sie vielleicht war. Ich habe nur einen Seitensprung mitbekommen und der war okay. Schließlich habe ich sie allein gelassen.«
Nun schaltet sich auch der Tod ein. »Selbst ich sehe, dass sie dir die Schuld für alles zuschiebt, obwohl du nicht das Geringste falsch gemacht hast. Schließlich hattest du noch einige Geschehnisse in der Vergangenheit zu verarbeiten. Sie hätte dir helfen können, aber da sich ihre Welt ja nur um sie dreht und alle nur da sind, um für sie zu funktionieren, hat sie sich nie wirklich für dich interessiert. Oder hat sie dich jemals gefragt, wie du so ‚grau' geworden bist?« Auf mein stummes Kopfschütteln hin folgt ein zustimmender Brummlaut. »Na also. Endlich siehst du es ein. Jetzt schau dir den Rest an, viel ist es ja nicht mehr. Danach kannst du immer noch in Selbstmitleid ertrinken.«
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