Kapitel 18
Die nächste Episode beginnt mit den leer gefegten Gängen der Universität Brighton, an der ich bis vor einem Jahr noch Kreatives Schreiben als Hauptfach studiert habe, um einfach meine eigenen Geschichten verbessern und später vielleicht auch veröffentlichen zu können. Einen Moment lang nehme ich mir Zeit, diese hellen sauberen Gänge zu mustern und an die drei Jahre, die ich hier verbracht habe, zu denken. Gleichzeitig höre ich die Stimme meiner Mutter, die mir rät, doch etwas Ordentliches zu studieren, um später auch wirklich einen Beruf ergreifen zu können, der genug Geld zum Leben einbringen könnte.
Ich jedoch habe auf meine Entscheidung behaart und irgendwann hat sie schließlich nachgegeben – vermutlich in der Hoffnung, dass ich nach einem Jahr zur Vernunft kommen und beispielsweise Bautechnik oder ähnliches studieren würde. Doch ich bin von Natur aus stur, was mir wiederum bereits einige Male auf die Füße gefallen ist. Das jedoch ist eine andere Geschichte. Viel eher sollte ich mich nun auf das Geschehen, das sich dort vor meinen Augen abspielt, konzentrieren.
Ich sehe mich selbst, wie ich gehetzt durch die Gänge haste. Meinen Schreibblock und die Bücher habe ich mir vor die Brust geklemmt und ich umklammere sie regelrecht mit zittrigen Fingern, um sie in der stetigen Schaukelbewegung meines Laufes nicht noch zu verlieren. Ein einzelne Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mal wieder zu spät zu einer meiner Vorlesungen komme, was auch die vereinsamten Gänge erklärt.
Dann kommt noch jemand anderes in Sicht, mit dem mein Abbild auch prompt zusammenstößt. Dumpf klatschen die Bücher mithilfe des Bodens Applaus, während die einzelnen Blätter wie Konfetti in alle Himmelsrichtungen auseinander stieben und das reinste Chaos auf dem zuvor so nahezu sterilen Flur anrichten. Sofort beginnt mein jüngeres Abbild, seine Unterlagen schnellstmöglich zusammen zu klauben, um seinen Weg in den Unterricht weiter bestreiten und diesen Zwischenfall schon im nächsten Moment vergessen zu können.
»Hey, brauchst du irgendwie Hilfe?«, fragt die Person, die mit diesem Zusammenstoß in mein Leben trat und die Ursache für jede nachfolgende Turbulenz in meinem Leben. Gleichzeitig richten mein Abbild und ich den Blick auf die junge Frau, die dort wie ein Fels in der Brandung mitten im Gang steht und mit beinahe besorgtem Lächeln auf den Lippen zu ‚mir' hinunter sieht. Doch ihre Hilfe ist nicht nötig, da mein Vergangenheits-Ich bereits das Chaos auf dem Boden wieder beseitigt und sich aufgerichtet hat. Für einen Moment erwidert es sogar ihr Lächeln, einfach weil es so hypnotisch auf mein Abbild wirkt, wie ich heute weiß.
»Bist du auch zu spät?«, fragt die Junge weiter. Beide Versionen von mir nicken synchron. »Ehrlich gesagt, habe ich gar keine Lust mehr da rein zu gehen. Dieser Dozent ist wirklich einfach nur ätzend«, höre ich mich nun selbst drauf los klappern. Es ist wohl das erste Mal seit Jahren gewesen, dass ich einem Fremden gegenüber meine ehrliche Meinung über etwas gesagt habe. Die junge Frau lacht daraufhin nur. »Hast du etwa auch Englische Literatur und Sprache bei Mister Robinson?« Wieder bejaht mein Abbild sofort. Die Studentin nickt ebenfalls, jedoch nicht um etwas zu bejahen. »Verstehe. Der Kerl ist wirklich die reinste Folter. Hätten meine Eltern nicht gemerkt, dass ich heute doch keinen freien Tag habe, wäre ich wegen dem wohl einfach Zuhause geblieben.«
Für einen Moment legt sie den Kopf schief und lächelt dann wie ein Kind, das gerade erfolgreich einige Süßigkeit aus dem Vorratsschrank gestohlen hat, an den es eigentlich nicht hätte gehen dürfen. »Lass uns heute einfach mal schwänzen. Bringt doch eh nichts, jetzt noch in die Vorlesung rein zu platzen und alle anderen zu stören. Wir könnten ja einfach einen Kaffee trinken gehen. Nur wenn du willst, natürlich.«
Ich erinnere mich, mit welcher Geschwindigkeit die Gedanken durch meinen Kopf gerast sind. Auf der einen Seite habe ich unbedingt mit diesem Mädchen Zeit verbringen, auf der anderen habe ich mein Studium nicht auf die leichte Schulter nehmen wollen, allein schon, um das hart erarbeitete Geld meiner Mutter nicht zum Fenster rauszuwerfen. »Aber ich kenne dich doch nicht einmal«, habe ich darum eingeworfen, woraufhin sie nur wieder kurz aufgelacht hat. »Dann ist das doch die perfekte Gelegenheit einander kennenzulernen, nicht wahr?« Schließlich habe ich ihrem Vorschlag zugestimmt. Einfach weil dieses Mädchen mich von Anfang an fasziniert hat und mir an diesem Tag die Motivation fehlte, mir Mister Robinsons todlangweiliges Gerede über tote Dichter und Autoren anzuhören.
Wie ein Bühnenbild verändert sich nun die Umgebung. So werden die leeren Universitätsflure vom schwarzen Abgrund verschlungen und durch das kleine Café in der Nähe ersetzt, dessen Namen ich niemals habe in Erfahrung bringen können. Diesen kleinen gemütlichen Raum, in dem wir uns von diesem Zeitpunkt an noch öfter treffen würden, betreten wir nun zu zweit, tauschen eine kurze Begrüßungsfloskel mit dem Mann an Tresen aus und setzen uns schließlich an einen der vielen freien Tische. So früh am Morgen ist eben in den wenigstens Lokalen etwas los. Belauscht hätten wir höchstens vom Personal oder der einen etwas älteren Frau an einem der Einzeltische am Rand werden können, doch darum haben wir uns damals nicht im Geringsten geschert.
Als wir schließlich unsere Getränke bestellt haben und der Kellner gegangen ist, beugt sich mein jüngeres Abbild ein wenig vor und mustert seine Gegenüber für einen Moment. »Wie heißt du eigentlich, fremde Person, mit der ich im Gang zusammengestoßen bin und die mich dann zu einer Straftat überredet hat?« Sie lächelt schief. »Das ist ein ziemlich langer Name, findest du nicht? Den wird doch niemals jemand ganz aussprechen können. Nenn mich einfach Mika. Wo das geklärt wäre, dürfte ich dann auch den Namen meines Komplizen erfahren?« Mein Vergangenheits-Ich erwidert erneut ihr Lächeln. »Du kannst mich Calin nennen. Wenn dir nicht was Besseres einfällt.« Sie scheint für einen Moment zu überlegen, schüttelt dann jedoch lachend mit dem Kopf. »Nein. Calin ist vollkommen in Ordnung. Ein hübscher Name für einen hübschen Jungen.« Ich weiß noch, wie sehr mich das Wort ‚hübsch' gleichzeitig irritiert und aufgebracht hat.
Aus diesem Grund habe ich schnell versucht, eine Überleitung für unser bereits im Flur angeschnittenes Thema zu finden – Dozenten und wie sehr sie uns jeden Nerv rauben. Sofort steigt Mika, oder zumindest diese Kopie von ihr, auf diese Chance zum Lamentieren ein und hält ganze Monologe über ihren so fürchterlichen Unialltag. Den genauen Wortlaut habe ich wohl nicht in Erinnerung behalten, denn wenn sie redet, dringt nur leises Rauschen an meine Ohren, das entfernt eine tiefere Bedeutung erahnen lässt. Vermutlich habe ich ihr auch damals einfach nicht direkt zugehört, da es irgendwann langweilig geworden ist, nur negative Dinge über einen Ort zu hören, gegen den ich bisher nicht wirklich etwas gehabt habe.
Schließlich endet ihr Wortschwall, als mein Abbild wieder eine Frage stellt, um geringfügig vom Thema abzulenken. »Warum bist du noch an der Uni, wenn du nicht gerne hingehst?« Mika seufzt leise und senkt den Blick beinahe schuldbewusst. »Ich hasse das Medizinstudium. Aber ich kann es auch nicht einfach abbrechen, da mein Vater von mir verlangt, dass ich, ebenso wie er, ein erfolgreicher Arzt werde und die Familientradition somit fortführe. Wenn ich ihm aber sage, dass ich eigentlich lieber Journalistin werden wollen würde und mich eher für Literatur als für Medizin interessiere, würde ich ihn nur enttäuschen. Und das will ich einfach nicht.« Bei ihren Erzählungen stockt mein Vergangenheits-Ich sichtlich. »Du kommst aus einer ziemlich reichen Familie, oder?«, habe ich damals vorsichtig gefragt, da ich sofort eingeschüchtert gewesen bin. Was sollte auch jemand wie sie von jemandem wie mir wollen? Dieser Gedankengang lässt eigentlich auch nur darauf schließen, dass ich mich viel zu schnell verliebe.
»Ja. Wieso? Ist das ein Problem?« Ihre Stimme lässt wieder diese Mischung aus Verwirrung und Verärgerung mitschwingen, die ich von diesem Augenblick an noch einige Male hören würde. Sie hat nie wirklich verstanden, dass es auch Menschen gibt, die keine teuren Autos fahren und nicht jeden Monat genug Geld haben, mehr als nur die elementarsten Bedürfnisse, wenn überhaupt, zu befriedigen. So lächelt mein Abbild entschuldigend, als es seinen groben Fehler, der eigentlich keiner gewesen ist, bemerkt und versucht, sie zu beschwichtigen. »Nein, ganz und gar nicht. Dann sollte ich dir vielleicht nur gleich vorne weg sagen, dass ich eben nicht reich bin. Ich habe ja oft kaum genug Geld, um meine Rechnungen zu bezahlen.« Die Mika-Kopie schaut ihren Gegenüber so fassungslos an, dass es beinahe schon amüsant aus meinem Blickwinkel ist. »Bezahlen deine Eltern etwa nicht dein Studium?« Mein jüngeres Ich kann nur mit dem Kopf schütteln. »Na ja, meine Mutter ist alleinerziehend und zahlt zwar einen Teil, aber ich will sie nicht ganz allein damit belasten. Deshalb finanziere ich mir den Rest durch Nebenjobs.«
Für einen Moment scheint Mika wieder nachzudenken, ehe sie aus heiterem Himmel meint: »Ich könnte dich doch unterstützen.« Nun ist es an meinem Abbild, vollkommen fassungslos drein zu blicken. »Wirklich? Ich meine, sollten wir uns nicht erst einmal richtig kennen lernen, bevor du mich aus welchem Grund auch immer durchfüttern willst?« Anstatt zu antworten, lächelt Mika nur vor sich hin. Dann zieht sie einen Zettel und einen Stift aus ihrer Tasche, schreibt einige Zahlen auf und schiebt das Stück Papier schließlich zu mir hinüber. »Du hast wohl recht. Dafür hast du ja jetzt meine Nummer. Ruf mich einfach an, wenn du bereit bist, mich kennenzulernen.«
Noch während die Blonde geht, bemerke ich all die Parallelen zwischen dieser Episode meines Lebens und dem ersten Treffen mit Stella, das bereits wieder Jahre her zu sein scheint. Wie lange bin ich eigentlich schon an diesem Ort?
»Das ist eine unglaublich langweilige Kennlerngeschichte«, wirft der Tod in den Raum und unterbricht somit meine Gedanken. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln. »Für dich vielleicht. Ich bin eher ziemlich froh gewesen, dass nach all dem Schlechten zuvor mal etwas Gutes in mein Leben getreten ist.«
Nun schaltet sich auch das Leben wieder ein. »Warum hast du eigentlich zuerst von dem Selbstmord deiner Mutter erzählt, wenn das Treffen mit Mika doch etwas früher war?« Diesmal kann ich nur mit den Schultern zucken. »Ich weiß es nicht genau. Vermutlich muss eine Geschichte zuerst beendet werden, bevor man die nächste erzählen kann. Ich bestimme die Reihenfolge dieser Erinnerungen ja nicht. Mein Leben lässt sich wohl einfach in zwei Abschnitte teilen, die nicht miteinander vereinbar sind, auch wenn sie auf irgendeine Weise zusammenhängen.
Am Ende ist wohl Mika der Schlüssel zu allem. Schließlich ist sie ja auch der Grund, warum ich letztendlich hier gelandet bin. Doch selbst wenn ich all das schon vorher gewusst hätte, hätte ich sie wohl trotzdem einige Tage nach unserem ersten Treffen angerufen. Einfach weil ich das alles für Schwachsinn gehalten hätte.«
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