Kapitel 16

»Warum kannst du mir nicht einfach zuhören?«, höre ich die anklagende Stimme meiner Mutter. Sie scheint direkt neben mir zu stehen, doch das Bild bildet sich erst später aus der Schwärze heraus. Auch klärt es sich nur langsam, als würde ich aus einem Traum erwachen und kurzzeitig nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können.

Dann steht sie direkt vor mir, die Frau, die mich aus der ersten Misere meines Lebens befreit hat. Dankbar bin ich ihr dennoch nie wirklich gewesen. Weil sie mich nicht vollkommen hätte entwurzeln müssen, um mir helfen zu können. Da ich so lange keine Gelegenheit mehr dazu gehabt habe, mustere ich sie nun eingehend, um jedes Detail in Erinnerung behalten zu können. Auch wenn diese Simulation längst vorüber sein wird und ich entweder ins Jenseits entschwunden oder wieder in mein altes Leben zurückgekehrt bin, will ich mich an sie erinnern, wie sie war. Ihre Haare sind so viel heller als meine gewesen. Beinahe hatten sie die Farbe, die auch Finns gehabt hatten. Sie sieht ihm generell sehr ähnlich. Oder sollte es nicht andersherum sein? Dass mein Bruder eher nach ihr kam? Denn unsere Mutter ist ja zuerst da gewesen.

Vielleicht habe ich auch wegen ihres Aussehens noch immer so oft an Finnlay gedacht. Hätte ich damals einfach bei meinem Vater bleiben sollen, um dem Schmerz aus dem Weg zu gehen? Denn schließlich hat sie mich vor die Wahl gestellt, auch wenn sie jemand war, der kein Nein akzeptiert hat. Doch meine Entscheidung ist vermutlich richtig gewesen. Wäre ich daheim geblieben, wäre ich vermutlich schon längst tot. Entweder, weil mein Vater oder meine Mitschüler mich totgeschlagen hätten, oder eben weil ich all die Schikanen nicht mehr ausgehalten und mich selbst aus dem Leben geworfen hätte. Meine Mutter hat mich am Leben erhalten. Auch wenn sich damals der Verlust der Heimat zugleich großartig aber auch so grauenvoll angefühlt hat.

Doch anstatt mich weiter von meinen Gedanken runterziehen zu lassen, wende ich mich nun lieber wieder dem Geschehen zu. »Ich höre dich laut und deutlich«, murrt mein noch etwas jüngeres Ich mit verschränkten Armen und dem Blick dem Boden zugewandt. Dieses Gespräch ist mir sichtlich unangenehm gewesen. Warum auch immer genau, da ich mich bisher nicht genau an diese Konversation und deren Thema erinnern kann. Ich nehme vermutlich bei jedem Gespräch, das ich gegen meinen Willen führen muss, diese Haltung ein. Allein schon, weil es mir so schwer fällt, Menschen in die Augen zu schauen und mit ihnen zwanglos zu reden. Ist wohl nicht so unangebracht, das viele in der neuen Schule mich hinter meinem Rücken Sonderling genannt haben.

Meine Mutter indes seufzt nur leise. »Ich frage dich doch nur, wen du alles zu deinem Geburtstag einladen willst, damit ich bereits alles vorbereiten kann. Schließlich wirst du achtzehn. Da sollte die Feier doch etwas besonderes werden.« Sie klingt fertig. Die dunklen Schatten auf ihrem Gesicht lassen ihre Augen so eingefallen und leblos aussehen. Diese Frau ist zu diesem Zeitpunkt mehr Leiche als Lebende gewesen. Warum habe ich das damals immer wieder übersehen?

Denn anstatt mich um den Zustand meiner Mutter zu kümmern, gibt mein Abbild nur leise zurück: »Mein Geburtstag muss nicht gefeiert werden. So wichtig ist das alles nicht. Achtzehn ist auch nur eine Zahl, die ein Jahr andauert und dann wieder vorüber ist. Also wie jedes andere Alter auch. Lass mich jetzt bitte damit in Ruhe.«

Jedoch denkt meine Mutter nicht einmal im Traum daran, meiner Bitte nachzukommen. »Du wirst dieses Thema nicht wieder so einfach unter den Tisch fallen lassen, Calin. Seit wir hierher gezogen sind, haben wir noch nicht einmal deinen Geburtstag gefeiert. Langsam habe ich ein echt schlechtes Gewissen deswegen. Liegt es daran, dass wir nicht so viel Geld haben, dass du deinen Geburtstag schon wieder nicht feiern willst? Darüber musst du dir nun wirklich keine Sorgen machen! Außerdem wäre es doch eine tolle Gelegenheit, mir deine Freundin vorzustellen. Wie hast du gesagt heißt sie? Mila?« Wie sehr mich dieses Gespräch genervt hat, ist deutlich an meiner Stimme zu hören, als "ich" ihr antworte. »Mika. Sie heißt Mika. Und sie kann nicht kommen, da sie mit ihren Eltern verreist ist. Und wegen des Geldes mache ich mir schon keine Sorgen. Ich will einfach nur nicht meinen Geburtstag feiern. Warum kannst du das nicht einfach so stehen lassen?«

Die Schatten auf ihrem Gesicht scheinen noch dunkler zu werden und lassen sie noch viel älter aussehen, als ohnehin schon. »Was soll nur Finn darüber denken, dass du einfach nicht feiern willst? Deine Freunde sind sicher auch enttäuscht, wenn du einfach nichts machst.«

Erdrückende Schwere legt sich auf meiner Brust nieder. »Mum«, beginnt mein jüngeres Abbild, »Finn ist tot. Er kann nicht mehr denken. Oder etwas sagen. Und ohne Freunde macht es sich ziemlich schwer, eine Party zu feiern. Du musst dir also keine Sorgen machen, dass die Wohnung verwüstet wird.« Mit diesen Worten voller unterdrückter Wut steht mein Ebenbild auf und stürmt in sein Zimmer, ohne die vollkommen aufgelöste Frau noch eines Blickes zu würdigen.

Diese bleibt in der Stille zurück, vollkommen allein und niedergeschlagen. Und da verschwimmt diese Erinnerung schon wieder vor meinen Augen, begleitet von ihrem leisen Weinen, das mich ebenso quält wie der Gedanke, dass ich sie damals einfach mit all ihren Sorgen im Stich gelassen habe, obwohl ich nur hätte genauer hinsehen müssen, um zu merken, wie schlecht es ihr gegangen ist.

»Wie hast du nur ohne Freunde leben können?«, fragt das Leben fassungslos in die Schwärze hinein, die mich wieder wie ein Mantel umschließt. Ihr Unglaube bringt mich zum Schmunzeln. Selbst wenn sie eigentlich so viel mehr als nur ein Kind ist, kann sie sich ein halbes Leben ohne Freundschaft einfach nicht vorstellen.

»Na ja, dass ich keine Freunde gefunden haben, lag vor allem an mir. Denn durch das ganze Mobbing an der alten Schule habe ich mich kaum noch den anderen annähern können, ohne Angst zu haben, dasselbe noch einmal durchmachen zu müssen. Durch diese in sich gekehrte und stille Art habe ich immer als Außenseiter gegolten. Zudem haben mich all diese britischen Kinder wegen meiner Herkunft etwas kritisch beäugt, zumindest anfangs. Wirklich bösartig ausgegrenzt haben sie mich nie. Eher habe ich selbst mich aus der Gemeinschaft ausgeklinkt, vermutlich in der Hoffnung, dass jemand von sich aus auf mich zugehen und mich aus meiner Festung der Einsamkeit herausholen würde. Aber das hat eben niemals jemand getan. So haben mir Videospiele, Bücher und das fast schon krankhafte Niederschreiben Finns und meiner Geschichten gereicht, um mich halbwegs bei Laune zu halten.«

Für einen Moment baut sich einen Mauer des Schweigens zwischen mir und diesen Kindern auf, die jedoch sofort bröckelt, als der Tod wieder einmal eine seiner trocknen Feststellungen in den Raum wirft. »Dann bedeutet das wohl, dass dich so ziemlich niemand wirklich vermissen wird, oder?« Diese Aussage trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Es ist wirklich niemand mehr da, dem ich fehlen könnte.

Im Hintergrund höre ich wieder dieses mechanische Quietschen, als die Waage sich hinter meinem Rücken ihr Urteil bildet. Ob ich so jemals zurück in mein altes Leben kehren kann? Ich versuche doch, all das so neutral zu sehen, wie es nur möglich ist. All diese Gespräche, Schmerzen und die immerwährende Hilflosigkeit in meinem Innern können doch nicht umsonst sein. Ich habe doch noch so viel zu tun, was ich hier, je länger ich in dieser seltsamen Welt gefangen bin, manchmal schon vergesse.

Um das Eis wieder zu brechen, beginnt das Leben zu reden. »Kannst du meinem Bruder und mir vielleicht noch verraten, warum deine Mutter auf deinen kleinen Ausbruch hin sofort mit solch einer Verzweiflung reagiert hat? Das wäre wichtig, um das Urteil richtig bilden zu können.« Ihre Stimme wirkt so beruhigend auf mich. Beinahe mütterlich. Ob sie das mit Absicht macht?

»Sie hat vermutlich einfach Anzeichen für etwas gesehen, an das ich noch nie wirklich aktiv gedacht habe. Sie hielt mich wohl für eine ebenso leere Hülle wie sich selbst und hat glauben wollen, dass ich plane, was sie schließlich getan hat.«

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