Kapitel 14

Ich kann nicht mehr. Auch wenn dieses kleine Mädchen versucht, mir einen Sinn in dieser Misere aufzuzeigen, sehe ich doch keinen. Und so folgt meine übliche Kurzschlussreaktion, wenn ich aufgebracht bin: Ich wende mich ab und laufe schnellstmöglich davon, einfach um weg zu kommen. Gut im Lösen von Konflikten bin ich noch nie gewesen.

Ich erinnere mich noch, wie besorgt meine Mutter anfänglich immer war, wenn wir uns stritten und ich einfach aus der Wohnung stürmte. Das hat nachgelassen mit der Zeit. Einfach weil sie gewusst hat, dass ich immer wieder zurückkehre. Meistens sogar unverletzt. Ich unterliege einfach häufig meinem Kontrollverlust und lasse dies auch andere Menschen spüren, die wiederum nicht begeistert davon sind, dass ich sie einfach so von der Seite belästige.

So bewege ich mich halb laufend, halb rennend voran. Weg von diesem elenden Park, diesen so pflichtbewussten Kindern und meiner Vergangenheit, die mich einfach auseinanderbrechen lässt.

Sie könnten mir genauso gut für jede Erinnerung ein Messer in die Brust rammen, das würde genauso schmerzen. Das Recht dazu haben sie nicht. Mir egal, ob sie wirklich Leben und Tod sind, oder ob das alles nur ein Fiebertraum ist. Ich werde gehen. Und sie können mich nicht davon abhalten.

Nur wenige Momente braucht es, bis die Wippe und der gesamte Spielplatz hinter mir liegen. Die hellen, menschenleeren Rasenflächen werden auch achtlos von mir zertreten. Es herrscht Ausnahmezustand in meinem Inneren. Blind ist die Panik, die mein Herz flattern, und meinen Atem so stockend dahin gehen lässt. Ich will einfach nur weg.

Als würde ich von irgendetwas gejagt werden, verfalle ich in einen regelrechten Sprint. Zu viel Angst habe ich vor allem was bisher passiert ist. Da ist einfach zu viel, das nicht wieder ans Licht gebracht werden sollte. Doch diese Kinder haben es getan. Und sie werden auch vor dem Rest sicherlich keinen Halt machen. Sie werden meinen Verstand nicht schonen. Nein, diese Kinder wollen mir helfen.

Als wäre mir damit wirklich geholfen! Nie wieder werde ich ein ganzer Mensch sein. Warum also foltern sie mich, um das zu ändern?

Wieder rückt mein Elternhaus in greifbare Nähe.

Jedoch dringt mit jedem Schritt ohrenbetäubender Lärm mehr zu mir vor, der aus dieser kleinen Hütte kommt. Lautes Geschrei zerreißt die Stille. Die gesprochenen Worte kann ich nicht verstehen, da die Streitenden eher wie Löwen klingen, die sich gegenseitig in aller Feindseligkeit anbrüllen. Hin und wieder schlägt irgendein Gegenstand dumpf auf dem Boden auf.

Sie haben oft mit irgendwelchen Dingen geworfen, die gerade griffbereit herumstanden.

Nun kann ich das, durch den erdrückenden Lärm kaum noch wahrnehmbare, Splittern von Glas hören. Wie oft hat meine Mutter nach einer ihrer Auseinandersetzungen auf dem Küchenboden gesessen, weinend und die Scherben mit bloßer Hand aufsammelnd, da sie sich in diesem Moment so minderwertig vorkam, dass auch ein paar Schnitte nichts mehr geändert haben?

Mit diesem Bild vor Augen ziehe ich schnell weiter, um an all diese Grausamkeit nicht mehr erinnert werden zu müssen.

Jedoch lässt mich dann ein gellender Schrei zusammenfahren. Zu oft habe ich meine Mutter vor Schmerz schreien gehört, wenn meinem Vater wieder die Hand ausgerutscht ist. Vor uns Kindern hat sie dann immer versucht ihre Wunden zu verstecken. Erfolglos.

Doch auch als ich meinen damaligen Wohnort hinter mir lasse, wird es nicht still.

Denn ein leises, so niederschmetterndes Weinen begleitet mich nun und scheint aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen.

Es schmerzt in meinen Ohren und verursacht Kopfschmerzen und Ängste, wie damals als Kind, wo ich nachts in meinem Zimmer lag, versuchend einzuschlafen, und genau dieses Schluchzen und Wimmern von nebenan gehört habe.

Viel zu lange hat meine Mutter gebraucht, um sich von meinem Vater zu trennen. Sie ist sicherlich so viel kaputter gewesen als ich.

In der Richtung, aus der ich bei meinem ersten Erwachen an diesem Ort gekommen sein muss, suche ich nun nach einem Ausgang. Doch hier scheint nichts zu sein, außer weite Flur und eine Straße, die vermutlich ins Nichts führt, da mein Verstand sicherlich nicht so weit gedacht hat, sollte das hier wirklich nur eine verdammte Illusion sein.

Als ich versuche, einfach weiter ins Blaue hinein zu laufen, pralle ich von einer unsichtbaren Wand ab, die die Konsistenz von Gelee zu haben, und doch vollkommen statisch zu sein scheint. Fast schon so, als wäre das alles nur ein Videospiel, das durch die Faulheit des Entwicklers nicht fertig programmiert worden ist.

Frustriert schlage ich gegen dieses transparente Hindernis und sofort werde ich mit einem elektrischen Schock belohnt, wie damals, als ich versucht habe, das Leben zu berühren. Doch dieser seltsam juckende Schmerz kümmert mich nicht mehr. Ich will nur noch hier raus. Durch diese Mauer komme ich mir erst recht wie ein Gefangener meines eigenen Verstandes vor.

Und so schlage ich mit bloßen Fäusten auf diese seltsam weiche und nachgiebige Masse ein; die fast schon regelmäßigen Schmerzimpulse ignorierend, die daraufhin durch meinen Körper jagen.

Erst als wieder ohrenbetäubende Schreie in meinen Ohren klingeln, höre ich auf und ziehe die Hände ruckartig zurück. Diese Mauer schreit. Mit der Stimme meines Bruders. Habe ich etwa ...?

Mein Blick fällt ungläubig auf meine Hände. Dunkles Blut klebt an ihnen. Nein! Das kann nicht sein! Wie in Trance stolpere ich zurück. Das ist alles nicht wahr. Nichts von alledem ist echt.

Im nächsten Moment finde ich mich im Wald wieder. Wie bin ich hierher gekommen? Ich habe kaum genug Zeit, mich von dem Schock eben zu erholen, als ich schon wieder dieses Knacken höre, dass klingt als würden Knochen brechen. Er fällt. Finnlay segelt wie ein Blatt im Wind durch die Luft. Ich will ihm entgegen laufen und ihn auffangen, bevor mein Bruder wieder sterben muss.

Doch meine Beine scheinen mit dem Boden verwachsen zu sein. Als würde ich durch Wasser laufen, bewege ich mich viel zu langsam voran, um ihn rechtzeitig erreichen zu können. Gerade will ich die Hand nach ihm ausstrecken, da schlägt er schon direkt vor meinen Füßen auf dem Boden auf.

Nun sehe ich auch aus nächster Nähe wie der Stein sich in seinen Schädel bohrt und dieser einfach aufplatzt. Ich unterdrücke den Drang mich zu übergeben. Meine Knie zittern. Alles fühlt sich so real und zugleich so unwirklich an.

Spätestens dann, als mein Bruder sich einfach wieder aufrichtet und ungerührt den Stein aus seinem Kopf zieht. Diesen betrachtet er zunächst fasziniert, wie er zu Lebzeiten alles halbwegs Interessante gemustert hat. Nur dass dies nun viel zu morbide wirkt, als dass es Nostalgie in mir wecken könnte.

Dann wirft er den Stein achtlos zur Seite und starrt mich anklagend und kalt an, wobei seine Augen zugleich noch immer starr und glanzlos ins Leere blicken, wie es bei einem Toten eben üblich ist.

»Warum hast du mich einfach sterben lassen? Ich habe gedacht, wir wären Freunde!«, krächzt dieses untote Ding, dass meinem Bruder so ähnlich sieht, aber doch mit jeder vergehenden Sekunde mehr zu zerfallen und verrotten scheint.

»Du bist schuld an allem! Warum hast du mich umgebracht, Calin? Ich habe dich doch immer lieb gehabt, obwohl du so ein schlechter großer Bruder warst! Warum hast du mich nur auf diesen Baum geschickt? Wolltest du mich loswerden? Was habe ich dir nur getan? Es hat so wehgetan, als ich gestorben bin. Ich hätte am liebsten geschrien. Doch ich konnte nicht. Ich bin so einsam. Hier unten ist alles kalt und dunkel. Ich ersticke. Hilf' mir! Warum hast du mich nur umgebracht?«

Die Stimme dieses Wesens wird mit dem immer weiter fortschreitenden Verwesungsprozess immer kratziger und unmenschlicher, bis sie schließlich nur noch einem Surren gleich. Dann verfällt mein kleiner Bruder einfach zu blutrotem Staub, der über den Boden zu mir hin kriechen zu scheint.

Wieder laufe ich so schnell ich kann. Es ist zu viel. Mein Herz ist kurz davor einfach still zu stehen.

Die Schmerzen, die bei jedem Schritt durch meine Nervenbahnen zucken, übergehe ich. Ich kann das nicht mitansehen. Er lügt mich an.

Es war ein Unfall, Finn! Ich habe dir nicht befohlen, auf diesen verdammten Baum zu klettern und abzustürzen. Das warst du allein! Ich hätte dir geholfen. Aber du hast mich nicht gelassen.

Hinter mir höre ich dieses so wohl vertraute, gehässige Lachen und ihre Rufe. »Mörder!«, »Du bist schuld!«, »Wir hassen dich!«, »Bring' dich doch einfach um!«

Wie Schatten verfolgen sie mich auf meiner ziellosen Flucht vor mir selbst. Das Echo ihrer Stimmen hallt in meinem Kopf wider, während sie einfach weiter zischen wie scharfzüngige Schlangen. Es ist beinahe ein Sprechgesang.

Deutlich spüre ich die Schläge und Tritte ihrer unsichtbaren Hände, die zugleich versuchen, mich zurück zu Finns Asche zurück zu drängen. Meine Haut platzt auf. Kleidung wird in Fetzen gerissen. Blut fließt in Strömen. Doch ich laufe weiter. Ich kann nicht einfach aufgeben.

Zugleich spüre ich, wie alles Leben einfach schlagartig aus mir raus zu fließen scheint. Meine Welt besteht nur noch aus diesen so hypnagogisch auf mich wirkenden Stimmen und Schmerz.

Mein Kampfgeist schwindet ebenso schnell, wie er gekommen ist. So breche ich schlussendlich auf dem Boden zusammen und warte nur noch darauf, dass mich diesen Bestien endgültig verschlingen.

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