Kapitel 12
»Wir sind nach Dover gezogen. Sogar recht nah an den Hafen und das Meer. Woher meine Mutter das Geld hatte, um diese Wohnung zu kaufen, weiß ich bis heute nicht. Doch ich war wirklich froh darüber.
Endlich starrten mich die Leute nicht mehr an, wenn ich einfach nur an ihnen vorüber ging. Die Beleidigungen hörten natürlich auch auf. Oder die stummen Verurteilungen. In Ardee haben mich alle zum Teufel geschickt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, einfach nur über die Straße zu gehen und von allen angeschaut zu werden, als wärst du das letzte Stück Dreck, für das sie nicht mehr als brennenden Hass und erstickende Abscheu übrig haben. Sie sehen dich an, als wärst du so viel weniger wert, obwohl sie nicht einmal wissen, was du getan hast.
Du weißt insgeheim, dass sie einfach viel zu schnell urteilen und nicht einmal die halbe Wahrheit wissen, aber trotzdem hast du das Gefühl, dass du das alles verdient hast. Weil du glaubst, dass sie das Recht haben, dir einen Stempel aufzudrücken und dich dafür zu hassen. Denn du wirfst es dir ja selbst vor. Und damit können die Leute auf den Straßen, deiner Meinung nach, ja nicht falsch liegen.«
Vor mir sehe ich, wie meine Mutter und ich unsere wenigen Habseligkeiten in unsere neue Wohnung transportieren. Die alten Treppen haben wirklich unter jedem noch so leichten Schritt geknarzt und geklungen, als würden sie demnächst einfach wegbrechen.
Dennoch habe ich dieses Haus die sechs Jahre lang, die ich dort gewohnt habe, geliebt. Es ist etwas Neues gewesen. Dieser Umzug hat mich von all den Qualen und Sorgen befreit, die mit Finnlays Tod in mein Leben getreten waren. Zudem haben ich nicht mehr ständig an ihn denken müssen. Jeder Winkel unseres alten Heims hat mich an an ihn erinnert und immer wieder die Wunden aufgerissen, die so niemals die Chance hatten, zu heilen. In England hat sich alles geändert. Vermutlich hat es mir deshalb so weh getan, als ich später aus diesem Haus wieder ausziehen musste.
Immer wieder läuft mein halbwüchsiges Ebenbild an mir vorbei, mit Kartons beladen und mit einer zum einen unsicheren und zum anderen erwartungsvollen Miene, die für den Einzug in ein neues Haus wohl typisch ist. Dieser Junge wirkt schon sehr viel grauer als noch in der letzten Episode dennoch scheint er noch nicht vollkommen verloren zu sein. Schon irgendwie seltsam, dass ich mein eigenes Leben und mich selbst langsam nicht mehr als echt wahrnehme, sondern nur noch als eine Serie, die so nebenbei durchläuft.
Währenddessen führe ich meinen Monolog fort.
»Außerdem hatten sowohl meine Mutter als auch ich genug von dem traditionellen Alltagstrott in Irland, aus dem wir einfach nicht ausbrechen konnten, solange wir dort waren.
Dover besitzt den wichtigsten Hafen Englands. In der Stadt blüht der Handel und die Menschen vertrauen auf die Wirtschaft und Profit, nicht auf Aberglauben und Gott. Sie sind offener und vielleicht verurteilen sie, aber sie hassen nicht, ohne zu wissen warum. Zumindest haben sie mich das niemals spüren lassen. Oder meine Mutter.
Sie schien auch glücklicher zu sein. Sofort nach unserem Einzug hat sie begonnen, wieder als Krankenschwester zu arbeiten, was mein Vater ihr in der Zeit, in der sie mit ihm verheiratet war, verboten hatte. Das brachte uns mehr Geld, als wir zuvor hatten, aber reich waren wir dennoch nicht. Doch es hat gereicht, um uns ein Leben aufzubauen. Zumindest ist nichts mehr für Alkohol und Zigaretten draufgegangen.«
Ich spüre eine unsichtbare Hand, die sich auf meine Schulter legt. »Hast du denn jemals wieder etwas von deinem Vater gehört?«, fragt der Tod nüchtern und leise, als hätte er die Sorge, zu viele Emotionen durchdringen zu lassen, würde er auch nur minimal lauter sprechen. Ich wende meinen Blick betroffen dem Boden zu. »Nicht direkt. Hin und wieder habe ich eine Postkarte zum Geburtstag oder zu Weihnachten bekommen, aber sonst herrschte Funkstille. Das Ritual mit den Karten ist auch irgendwann abgeebbt.«
Für einige Zeit herrscht Schweigen. Die Welt um mich herum ist eingefroren. Nichts bewegt sich mehr. »Was ist dir in dieser Zeit noch wichtig gewesen, wenn du vorher nur deinen Bruder hattest?«, fragt das Leben weiter und wirkt wieder so, als wäre sie kurz davor zu weinen.
Erst jetzt wird mir klar, wie befreiend es doch ist, über all das zu reden, was zuvor auf meiner Seele gelastet hat. Warum ist mir das nicht früher eingefallen? So viele haben doch heutzutage einen Therapeuten. Da hätte ich nicht warten müssen, bis ich hier lande, um mit dem Leben und dem Tod über meine Probleme zu sprechen.
»Ich habe ab diesem Zeitpunkt angefangen, die Geschichten, die Finnlay und ich uns damals für unser Königreich ausgedacht haben, aufzuschreiben. Einfach weil ich ihn nicht direkt durch diesen Umzug loslassen wollte. Auch wenn sein Grab so weit weg ist, und ich eigentlich weitermachen sollte, wollte ich ihn trotzdem nicht einfach hinter mir lassen. Ich bin sogar mit der Zeit fertig geworden, alles aufzuschreiben, zu sortieren und als Geschichte zusammenzufassen. Ob sie gut ist, weiß ich nicht, aber es hat sich einfach gut angefühlt, die Erinnerungen mit ihm in Worte zu fassen und sich an all das Positive vor dem Unfall zu erinnern.«
Ein helles Seufzen dringt an meine Ohren. »Ich könnte mir niemals vorstellen, so lange von meinem Bruder getrennt sein zu müssen. Ich würde ihn viel zu sehr vermissen, als dass ich einfach weitermachen könnte«, kommentiert das Leben mit solch einer niederschmetternden Trauer in der kindlichen Stimme, dass auch sie nun sehr viel älter wirkt, als sie eigentlich ist.
Daraufhin huscht der Anflug eines bittersüßen Lächelns über mein Gesicht. »Vorstellen konnte ich mir all das alles auch nicht. Dann ist er gegangen und ich habe damit leben müssen, ohne es rückgängig machen zu können. Da hat niemand gefragt, ob ich nun damit klarkomme oder nicht. Es ist einfach passiert und irgendwann musste ich einfach drüber hinwegkommen. Wie oft habe ich mir im Nachhinein vorgestellt, wie er und ich Seite an Seite aufwachsen und immer Freunde bleiben, egal wie unterschiedlich wir auch sind? Daraus ist einfach nichts geworden. Aber daran denkt niemand, wenn alles gut und er noch da ist. Er als Finn tot war, kamen diese ganzen ‚Was wäre wenn'-Gedanken auf.
Er fehlt mir mehr als alles andere. Dieses Gefühl der Schuld und der Nutzlosigkeit geht einfach nicht weg. Denn ich habe nie die Chance bekommen, meine dummen Fehler wieder gut zu machen. So lange Zeit habe ich mich gefragt, warum ich habe überleben und aufwachsen dürfen und er nicht. Es fühlt sich einfach nicht richtig an.«
Für einen Moment verfalle ich wieder in Schweigen und kämpfe gegen die Tränen an. Ich will nicht mehr weinen, auch wenn gerade wieder alles zu viel ist.
Wer wird eigentlich die Geschichten bekommen, die ich aufgeschrieben habe? Für andere sind sie sicher wertlos, aber mir bedeuten sie einfach alles, da es das Letzte ist, was mich mit Finn verbindet. Ich muss verhindern, dass sie einfach weggeschmissen werden. Sie gehören mir allein und nur, weil sie vielleicht schlecht sind, sind sie doch wichtig, um mich zu erinnern. Und wenn ich jemals wieder in die echte Welt zurückkehre, werde ich das Grab meines Bruders besuchen und ihm die Geschichten erzählen, damit er mich genauso wenig vergisst wie ich ihn. Können Tote überhaupt durch die ganzen Erdschichten hören, was die Lebenden zu ihnen sagen?
Doch dann fällt mir eine viel bessere Variante ein, Finn wiederzusehen. »Ist es eigentlich möglich, dass ich hier kurz mit meinem Bruder spreche? Es wird wirklich nicht lange dauern. Versprochen.«
Meine Stimme zittert. Ebenso wie mein Innerstes vor Verzweiflung und Trauer vibriert. Leben und Tod schweigen mich an. »Ist es möglich, verdammt?«, wiederhole ich ungeduldig, während ich die Arme um mich selbst schlinge, um mich festhalten und stehen bleiben zu können. Andernfalls würde mein Körper wohl einfach auseinanderbrechen. »Das hängt ganz von deinem Urteil ab, ob du ihn wiedersehen kannst. Finn ist schließlich schon längst an einem anderen Ort«, antwortet das Leben schließlich, wobei sie dem Tod vielsagende Blicke zuwirft.
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