8. Dezember
~Türchen 8~
8. Dezember
Es war fast schon ironisch, dass er sie - anstatt zu töten - gerettet hatte. Draco konnte es immer noch nicht fassen. Er verstand nicht, warum er so dumm gewesen war. Die perfekte Gelegenheit hatte sich ihm geboten. Hermine Granger war direkt vor ihm gewesen, verwundbar, ein leichtes Ziel. Wenn er sie getötet hätte, hätte er seiner Mutter das Leben gerettet, das wusste er. Es wäre die einzige Möglichkeit gewesen, die Bedrohung zu beenden, die sich immer weiter über seine Familie legte.
Aber er hatte es nicht getan.
Warum nicht?
Er hatte sie gesehen, so schwach und verletzt, fast nicht mehr am Leben. Ihre blassen Züge, der blutrote Fleck, der sich in ihren zerrissenen Kleidern ausbreitete.
Sie hatte ihn ausgesehen wie ein Schatten der Person, die sie einst gewesen war - und das hatte etwas in ihm geweckt, das er nicht zuordnen konnte. Irgendetwas, das seine Entschlossenheit erschütterte.
Er hatte die Wand des Zorns, die er um sich herum aufgebaut hatte, nicht einfach durchbrechen lassen können. Es war, als würde sich eine Mauer in ihm verformen, die er jahrelang aufgebaut hatte, um solche Gefühle fernzuhalten. Was war passiert?
Was war er plötzlich für ein Mensch? Diese Frage ließ ihn keine Ruhe, während er die Antwort immer weiter in sich verdrängte. Die Unwiderstehlichkeit des Augenblicks, das Gefühl, das Leben eines Menschen in den eigenen Händen zu haben - das musste es gewesen sein.
Er schüttelte den Kopf, als versuche er, das Bild von ihr aus seinen Gedanken zu verbannen. Die Erinnerung an ihre stillen Augen, die so hilflos auf ihn gerichtet waren. In diesem Moment hatte das Gefühl gehabt, dass sie nicht mehr seine Feindin war. Es nie wirklich gewesen war.
Sie war nur noch ein Mensch, zerbrochen und einsam wie er, der in einem verloren Krieg gefangen war.
Und er hatte sie gerettet.
Er hatte es nicht kommen sehen. Kein Teil von ihm hatte damit gerechnet, dass er in diesem Moment anders handeln würde. Kein Teil von ihm hatte geglaubt, dass er eine Wahl gehabt hätte, die jenseits von Zorn und Rache lag. Aber hier war er, mit der unfassbaren Tatsache, dass er sie nicht getötet hatte. Und noch seltsamer: Er fühlte keine Reue. Keine. Er bereute nicht, sie gerettet zu haben, nicht ein bisschen.
Es war, als ob eine Entscheidung, die er nie getroffen hatte, ihn jetzt zu einem anderen Menschen gemacht hatte. Die Wut war verschwunden, der Hass hatte sich aufgelöst. Und er wusste, dass es zu spät war, zurückzukehren. Er konnte nicht mehr der sein, den alle in ihm sehen wollten. Ein Mörder. Ein Mann, der seiner Familie zuliebe alles und jeden aufgab.
Jetzt hatte er sie gerettet. Und die Konsequenzen dieser Entscheidung wurde er wohl früher oder später zu spüren bekommen. Allein wenn er daran dachte, seine Mutter...schnürte es ihm die Kehle zu. Nein er würde sich später darüber Gedanken machen.
Wichtig war, dass sie lebte.
Doch so sehr er auch wollte, dass sie das alles überlebte, so wusste er, dass er sie früher oder später töten müsste. So wie er es ursprünglich geplant hatte.
Es war seine Aufgabe. Alles -wirklich alles, was ihm wichtig war- stand auf dem Spiel. Denn wenn er sie nicht dem dunklen Lord brachte, würde seine Mutter mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen.
Seine eigene Mutter stand auf dem Spiel. Narcissa Malfoy, die ihn immer beschützt hatte, die alles riskiert hatte, nur um ihn zu retten. Die Frau, bei der der Dunkle Lord nicht zögern würde, sie zu töten, wenn Draco scheiterte. Der Gedanke an sie, kniend vor Voldemort, bettelnd um Gnade, ließ seine Brust sich zusammenziehen, als hatte ihm jemand die
Luft geraubt.
Er ballte die Hände zu Fäusten, während er durch die Dunkelheit des Hauses starrte.
„Warum, Granger?" murmelte er leise zu sich selbst, seine Stimme heiser. „Warum bringst du mich dazu, so etwas Dummes zu tun?" Es war lächerlich, sie verantwortlich zu machen, aber es war einfacher, den Zorn nach außen zu richten, als sich einzugestehen, dass er es war, der schwach gewesen war. Er hatte sich in ihren Anblick verloren. In den Anblick von etwas, das ihm völlig fremd war: Verletzlichkeit, ungeschützt und roh. Er hatte Hermine auf dem kalten Boden liegen sehen, die Lebensgeister kaum noch in ihr, der Atem flach, ihre Haut bleich wie Marmor. Das Blut, das durch ihre zerrissene Kleidung sickerte, hatte ihn an eine Wahrheit erinnert, die er immer zu verdrängen versuchte - dass sie nicht nur eine Feindin war, sondern ein Mensch.
Ein Mensch, den er hätte töten müssen.
Draco wusste, dass er keine Zeit hatte, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Er musste handeln. Er musste den Fehler korrigieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das tun musste, was von ihm verlangt wurde. Denn wenn er es nicht tat, würde Voldemort nicht zögern, die Drohung wahrzumachen.
Seine Mutter würde sterben.
Es war wie ein Mantra. Verfolgte ihn Tag und Nacht, ließ ihm keine Ruhe.
Das Gewicht dieser Gewissheit war erdrückend. Dass er- Draco Malfoy es tun musste.
Es war ein Fluch, den er nicht abschütteln konnte.
Hermine Grangers Leben gegen das seiner Mutter - das war die unausweichliche Rechnung, die er lösen musste. Und Draco wusste, dass es nur eine Antwort gab. Sein Atem ging schwer, und er presste die Lippen zusammen, um das Zittern in seinem Inneren zu unterdrücken.
Der Slytherin lehnte sich gegen die Schränke der Küche und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wusste nicht, warum er hier bei ihr blieb. Eigentlich sollte er wegsehen, sich abwenden, den Raum verlassen – alles wäre einfacher gewesen, wenn er es nicht mit ansehen müsste. Aber er konnte nicht. Sein Blick klebte an ihr, an jeder noch so kleinen Bewegung.
Hermine saß noch immer am Esstisch dem Boden, während sie langsam das Brotstück in ihren Händen auseinanderbrach. Ihre Finger zitterten, und er konnte sehen, wie viel Mühe es sie kostete, selbst diese einfache Handlung auszuführen. Ihre Bewegungen waren abgehackt, fast mechanisch, und doch zögerlich, als würde sie sich erst wieder daran erinnern müssen, wie man aß. Sie wirkte, als hätte sie vergessen, wie man soetwas simples, wie Essen tat – oder als wäre sie zu müde, um sich daran zu erinnern.
Draco schluckte schwer. Es war ein absurder Anblick. Diese Frau, die er einst als die verkörperte Stärke und Intelligenz gekannt hatte, saß nun hier, zerbrochen, schwach und leise, und kämpfte mit etwas so Grundlegendem wie Nahrung. Es war schwer, zuzusehen, und doch konnte er den Blick nicht abwenden.
„Mach schneller, Granger," knurrte er, seine Stimme scharf vor Ungeduld. Sie hatte seit, weiß Merlin wann, nichts mehr gegessen, und nun wirkte es, als würde sie jeden Bissen in Zeitlupe durchkauen. „Das ist Brot, kein Rätsel."
Sie hob den Blick zu ihm, ihre Augen müde und stumpf, sagte aber nichts. Ihre Finger brachen ein weiteres Stück ab, führten es langsam zu ihrem Mund. Es war, als hätte sie Angst davor, zu hastig zu sein, als würde sie befürchten, dass ihr Körper die Nahrung ablehnen könnte.
„Das dauert ewig," murrte er, schob sich von der Tür weg und machte zwei Schritte in den Raum, bevor er abrupt stehen blieb. Er wollte ihr keinen Grund geben, noch nervöser zu sein, als sie ohnehin schon wirkte. „Du wirst verhungern, wenn du in diesem Tempo weitermachst."
„Das geht dich nichts an," murmelte sie schließlich, ihre Stimme leise und heiser, als hätte sie lange nicht gesprochen. Ihre Worte hatten keine Schärfe, nur eine müde Abwehr, die ihn mehr so traf, wie sie es einst getan hatten. Früher, als ihr Schicksal noch nicht so aussichtslos gewesen war.
„Doch, Granger," erwiderte er, diesmal ruhiger. „Es geht mich etwas an. Ob es dir gefällt oder nicht."
Sie antwortete nicht. Stattdessen nahm sie einen weiteren Bissen, diesmal etwas schneller. Ihr Körper war abgemagert, ihre Wangen eingefallen, ihre Hände so dünn, dass er die Knochen darunter sehen konnte. Draco biss die Zähne zusammen, spürte die Wut in sich aufsteigen – nicht auf sie, sondern auf alles, was sie hierher gebracht hatte. Auf Voldemort, auf diese verfluchte Aufgabe, die ihm auferlegt worden war.
Er lehnte sich gegen den Tisch, ließ seinen Blick über ihre schmalen Schultern und den hageren Rücken wandern. „Wann hast du das letzte Mal richtig gegessen?" fragte er schließlich, seine Stimme fast unmerklich weich.
Sie hielt inne, als müsste sie überlegen. Doch sie antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf und brach ein weiteres Stück Brot ab. Es war Antwort genug.
Draco seufzte und rieb sich mit einer Hand über das Gesicht. „Du musst mehr essen," sagte er dann, scharf, aber nicht unfreundlich. „Sonst wird das hier keinen Unterschied machen."
„Was meinst du mit ‚das hier'?" Ihre Stimme war immer noch leise, aber da war ein Hauch von Herausforderung in ihren Worten, der ihn innehalten ließ.
„Dass ich dich am Leben halte," sagte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. „Also tu mir den Gefallen und gib dir ein bisschen mehr Mühe, Granger."
Er hatte nicht vorgehabt, das laut zu sagen. Doch jetzt, wo die Worte einmal heraus waren, konnte er sie nicht mehr zurücknehmen. Und in dem kurzen Moment, als sich ihre Blicke trafen, spürte er, dass sie die Bedeutung dahinter verstand – vielleicht besser, als ihm lieb war.
tbc...
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