Weinberg: 21 - Nick
Becky hatte darauf bestanden, dass Tom sie erst vor der Freien Trauung sehen sollte. Also wartete ich mit ihr im Auto. Es war ein kalter Oktobertag, aber die Sonne schien. Die Blätter hatten sich prächtig verfärbt und als ich Becky die Tür aufhielt leuchteten ihre roten Haare mit dem Herbstlaub um die Wette.
Die Trauung sollte auf der Wiese hinter der Scheune von Georg Adams Weingut stattfinden, einem guten Freund unserer Mutter. Die Weinberge der Bergstraße stiegen direkt hinter der Wiese steil an und in der alten hinter dem Weingut Scheune fand die Feier statt. Rustikal, ein bisschen verwunschen und verrückt, genauso wie Tom und Becky.
„Warte." Becky hielt mich am Arm fest und blieb stehen.
„Was ist?"
Sie holte tief Luft. „Ich bin nervös...", murmelte sie, als sie sich vor mir aufstellte.
„Wieso, meinst du, er sagt nein oder was?"
„Nein..."
„Na, also..." Ich schluckte und betrachtete sie. „Wirklich, Becky... das würde er gar nicht fertig bringen, wenn er dich sieht..." Ich holte tief Luft und spürte einen riesigen Kloß im Hals. Schon damals als ich mit ihr und Lea zur Brautkleidanprobe gewesen war, hatte ich diesen Kloß gespürt. Jetzt war er wieder da.
„Was ist? Hab ich...? Bin ich...?" Sie strich sich nervös durch die Haare, durch den Schleier.
„Du bist perfekt", sagte ich leise. „Ich musste nur gerade... Ich bin stolz auf dich. Papa... wäre stolz auf dich."
Sie hob den Kopf und ich sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Hör auf... bitte."
Becky und ich waren immer Papa-Kinder gewesen, unsere Schwestern eher Mama-Kinder. Als unser Vater vor ein paar Jahren an Krebs gestorben war hatte uns das alle schwer getroffen, aber Becky und mich hatte es umgeworfen.
Sie wedelte mit der Hand vor ihren Augen herum, um die Tränen zu bremsen und sah mich panisch um. Ich hatte kein Taschentuch, verdammt.
„Ah!"
Becky griff zu ihrem Schleier und ---
„Nein, mach das nicht!"
Jemand stieß mich unsanft beiseite und kramte in einer sehr kleinen Handtasche nach einem Taschentuch. Jemand mit hellen, blonden Haaren, die zu einem Knoten geschlungen waren. Jemand, der mir sehr vertraut vorkam.
„Hier..." Ich starrte sie an und... was zu Teufel?
Becky griff nach dem Taschentuch und tupfte sich die Augen trocken. „Danke...", murmelte sie. „Hi... wie schön dich zu sehen..."
Pi lächelte meine Schwester an. „Du siehst umwerfend aus..." Dann drehte sie sich kurz zu mir. „Hi..."
Ich starrte sie perplex an. „Was ... machst --" du hier? Das wollte ich fragen, bekam die Frage aber nicht raus. Stattdessen starrte ich sie mit offenem Mund an. Sie. Unglaublich schön.
In diesem atemberaubendem, engen blauen Kleid, in diesen Schuhen, diesem eleganten Knoten und dem taillierten Mantel, der sie aussehen ließ wie... wow...
Pi lächelte mich an. „Du bist nicht gut vorbereitet – und das als Trauzeuge, tsts, Nicki." Sie reichte mir die Taschentücher. „Hast du wenigstens den Perso und die Ringe?"
War das echt? War sie wirklich hier?
Ich wurde blass. „Was?"
„Nick!!!" Becky riss die Augen auf, als ich mir panisch an die Hosentasche griff und dann erleichtert aufatmete. Pi lachte trocken.
Was machte sie hier?
„Oh Gott... ich brauch noch einen Gin Tonic... jetzt..." Becky stöhnte.
„Viel Glück, Becky..." Damit ging Pi der Beschilderung nach.
Ich starrte ihr nach. Registrierte jeden ihrer Schritte. Wow...
Ich meinte...
Ich hatte sie neulich gesehen, und ich ... Aber sie so unvermittelt hier zu sehen, auf dieser Hochzeit, war...
„Hey! Konzentration, Nick!!" Becky schlug mir gegen die Hinterkopf. „Sag mal, ist dir das Blut gerade direkt in den Schwanz gesackt, oder was?"
„Pfui! Schäm dich, Becky!" Ich schüttelte mich. „Das ist dein Hochzeitstag!"
„Ja, und du stehst hier, starrst einem Hintern nach und sollst gleich mein Trauzeuge sein und hast vermutlich einen Ständer." Sie zog eine Augenbraue hoch. „Idiot." Sie rollte die Augen und griff nach meiner Hand. „Wie ist euer Beziehungsstatus?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Es ist kompliziert."
„Glaub ich nicht." Sie schob meinen Ärmel hoch und sah auf meine Uhr. „Sie ist hier. Und das sicher nicht wegen mir." Sie küsste mich auf die Wange und lächelt. „Happy Birthday, kleiner Bruder..."
„Ich hab noch nicht Geburtstag...", sagte ich verwirrt, während das trommeln Organ in meiner Brust fast durchdrehte.
„Ich weiß, aber morgen." Becky strich mir sanft mit dem Daumen über die Wange. „Sie ist mein Geschenk für dich. Ich habe sie eingeladen. Ich hoffe, das ist okay für dich...?"
Mein Herz machte einen gewaltigen Satz, bevor es ziemlich schwer wurde und meine dämlichen Augen zu brennen begannen. Ich liebte diese Frau. So sehr. Und damit meinte ich Becky. Ich konnte gar nicht in Worte fassen, was Becks in den letzten Monaten alles für mich getan hatte.
„Tanz nachher mit ihr. Und zwar eng und langsam, okay?"
„Erst mal musst du heiraten..."
Sie strahlte. „Ja... ich heirate." Becks sah mich verblüfft an
"Du heiratest."
„Lass uns gehen..."
Becky nickte und lief an meinem Arm langsam Richtung Scheune. Dann reichte sie mir ihren Mantel und atmete tief durch. „Bereit?", fragte ich.
Sie nickte.
„Okay..." Ich griff nach ihrem Arm und sah sie lange an. „Ich bin echt froh, dass ich das machen muss...", flüsterte ich, bevor wir losliefen. Die Musik spielte schon. „Papa wäre sehr stolz auf dich. Und er hat dich sehr, sehr lieb, Becks..."
Ich sah, wie sie zittrig Luft holte und nickte.
„Und ich dich auch."
Sie nickte wieder.
„Und bevor wir gehen... Gehrig oder Schlüsselloch?"
Becky lachte unter Tränen auf, griff sich in den Schleier und wischte die Tränen nun doch mit dem feinen, weißen Tüll fort. Ein kleiner, dunkler Schatten blieb zurück.
„Schlüsselloch, man. Das war doch von Anfang an klar."
Es war ein hollywoodreifer erster Kuss. Tom gab alles, als er Frau Schlüsselloch zum ersten Mal unter tosendem Applaus der Hochzeitsgesellschaft küsste als gäbe es kein Morgen.
Und ich ertappte mich immer wieder dabei wie mein Blick zu Pi wanderte, die verstohlen in der vorletzten Reihe stand und strahlend applaudierte. Ihr Lächeln wirkte entspannt und gelöst und sie sah gut aus. Viel besser als vor ein paar Wochen noch, als ich bei ihr in Düsseldorf gewesen war. Woran das liegen mochte? Sie strahlte regelrecht aus der Menge an Menschen heraus – wie ein heller Stern. Der hellste von allen...
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