Viktualienmarkt: 25 ~ Pi
In der Pizzeria
„Mach dir bitte keine Vorwürfe", flüsterte ich.
„Das sagst du so leicht...", gab er zurück. Er sah aus, als sei ihm jeglicher Appetit vergangenen und um ehrlich zu sein konnte ich es ihm gut nachfühlen, so gut die Pizza auch war.
„Mir geht es gut." Das klang total hohl und es war auf nicht wahr. Mir ging es nicht gut und das wusste er. Daniel wusste, was passiert war. Mir konnte es nach all diesen Dingen nicht gut gehen.
„Du kommst vielleicht irgendwie klar", sagte er leise, „Aber ich glaube nicht", er unterbrach sich selbst und sah mir in die Augen. „Ich hätte etwas tun müssen, Pi. Ich hätte das nicht so stehen lassen dürfen. Ich hab mich verhalten, wie ein Arschloch."
„Du warst ein Arschloch." Ich lächelte und atmete erleichtert auf, als er es zaghaft erwiderte. „Du hättest nichts tun können."
Ich hatte mit Dr. Harris nicht darüber gesprochen. Aber über Jana und Lüttkenhaus und die Opferrolle, die ich inne hatte. Ich wusste, dass ich nicht Schuld daran war, was mir damals passiert war. Damals, an diesem Abend, über den Daniel und ich sprachen und doch nicht sprachen. Ich hatte genug Abstand, dass ich jetzt wusste, dass ich nichts dafür konnte. Und Daniel... Daniel hätte gar nichts tun können, um es zu verhindern. Vermutlich hätte er Schläge eingesteckt oder wäre auf irgendeine andere Art und Weise mundtot gemacht worden.
Under my thumb.
Ich seufzte schwer. Gott, ich wollte einen Wodka. Dieses Gespräch ertrug ich nüchtern wirklich nicht. Diese Erinnerung war es, die ich nüchtern nicht ertrug. Noch weniger als alles andere.
„Ich hätte irgendetwas tun müssen, Pi."
Ich sagte nichts.
„Ich habe es gesehen."
Ich schluckte.
Daniel sah mich immer noch durchdringend an und ich hatte das Gefühl, dass er nach meiner Hand greifen wollte.
Ich holte Luft. Mir wurde heiß und kalt und ich spürte, wie mich eine vertraute Panik ergriff. Ich wusste, dass ich eigentlich das Bild nehmen konnte und tauschen konnte gegen ein sehr viel sichereres. Gegen Tanah Lot. Aber gerade gelang es mir nicht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir über das alles sprechen würden. „Daniel, hör auf... bitte..."
„Das kann ich nicht... ich muss... Sophie... ich hab das so lange mit mir rumgeschleppt und jetzt ist diese Scheiße passiert, meinst du nicht, dass wir... also... Dass wir vielleicht doch darüber sprechen sollten?"
Ich wusste, dass es an ihm nagte und dass er Recht hatte. Vermutlich würde es irgendwann hochkommen. In der Verhandlung, was in einem Alptraum enden würde.
„Ich wüsste nicht, worüber wir da noch sprechen sollten", flüsterte ich.
Ich wusste, dass er es wusste.
Und er wusste, dass ich wusste, dass er es gesehen hatte.
Worüber sollten wir also noch reden?
Weihnachtsfeier
„Hoho!", lacht er. Er trägt einen furchtbaren Bad-Christmas-Sweater und drückt meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. „Fröhliche Weihnachten!" Er hält eine Tasse mit Glühwein in der Hand und klopft meinem Vater die Schulter. „Schön, dass ihr hier seid! Nehmt euch Getränk. Habt Spaß!"
Seine Firma hat zur Weihnachtsfeier eingeladen und meine Eltern schleppen mich natürlich mit. Diesmal aus organisatorischen Gründen, sogar Maja ist im Schlepptau. Heute war der letzte Schultag und wir fahren direkt im Anschluss zur Familienweihnachtsfeier zu Tante Gloria hier in München und dann weiter zum Skifahren in die Alpen.
Maja sieht sich gelangweilt um. „Darf ich Tablet?"
„Ganzer Satz", sagt Papa.
„Darf ich bitte Tablet spielen?" Ihr genervter Tonfall nervt mich jetzt schon. Wenn ich das fragen würde, würde ich direkt eine Absage bekommen.
„Sophie", grüßt er mich und schmunzelt. Ich habe ihn seit dem letzten Firmenevent bei Papa nicht mehr gesehen und muss gestehen, dass mein Herz kurz vorwärts hüpft. Er ist immer charmant und höflich zu mir und manchmal flirtet er auch mit mir.
Dieser Pullover, den er trägt, sieht total dämlich aus. Und auch etwas niedlich. Alles in allem macht es ihn ziemlich heiß. Man, Sophie, was denkst du da? Du bist fünfzehn, viel zu jung für ihn!
Die Weihnachtsfeier ist nett. Es gibt gutes Essen. Es wird gelacht, getrunken und ein DJ spielt gute Musik. Selbst die spannigen von Söders sehen so aus, als ob sie beinahe Spaß hätten. Nur meine kleine Schwester sitzt in einer Ecke und spielt Die Sims auf dem iPad, während ich mich umsehe, ob ich es schaffen werde Spaß zu haben oder mich früher oder später neben Maja setzen werde.
„Dich wird man auch nicht los."
Ich stöhne genervt auf. Daniel taucht aus der feiernden Menge auf, während die Rock-Version von Jingel-Bells läuft. „Das kann ich nur zurück geben. Kannst du nicht alleine zu Hause bleiben? Haben deine Eltern Schiss, dass du die Villa abfackelst?"
„Deine ja offensichtlich auch." Er zuckt mit den Schultern. „Sei nicht so biestig, wir haben kein Publikum." Gelangweilt sieht er zur Tanzfläche. „Wir feiern Weihnachten in St. Anton. Mein Vater wollte hier die Feier mitnehmen um zu Networken und ihr?"
Ich zucke mit den Schultern. „Ja, so ähnlich. Weihnachten bis Silvester in den Bergen und so weiter." Ich verziehe das Gesicht und Daniel lacht. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass es in meinem Bauch kribbelt, aber das kann nicht sein. Es ist Daniel von Söder!
„Lust?"
„Tanzen? Mit dir?" Ich lache. „Gott, bewahre."
Er stöhnt. „Du bist so ne Zicke, ey. Sag nicht, ich hätte nicht gefragt."
„Entschuldige? Ich denke nur an dieses Tanzkurs-Desaster im Herbst. Meine Rippen tun heute noch weh." Wir hatten Tanzkurs in der Schule, weil das Pflichtprogramm in unserer Stufe ist. Und Daniel und wir mussten miteinander tanzen. Er hat mir beim Discofox nicht nur 'fast' die Rippen gebrochen – die Rippe war gebrochen gewesen. Ich musste sogar geröntgt werden. Sechs Wochen hatte ich nicht reiten können und selbst heute tat es noch weh.
„Stell dich nicht so an." Daniel schüttelt den Kopf. „Wo ist dein Schatten?"
„Wer?"
„Doppel M."
„Meinst du Mo?" Dieses ausgeplusterte Machogehabe von diesem fünfzehnjährigen Möchtegernmacho ging mir so auf den Sack. „Nicht hier. Was soll der auch hier?"
„Weiß nicht. Ihr seid doch auch sonst aneinander fest gewachsen wie siamesische Zwillinge."
„Eifersüchtig?" Ich schmunzele und ignoriere das Kribbeln weiter..
„Auf Meier?" Er lacht. „Quatsch."
Ich sehe in skeptisch an. „Ja. Klar..."
„Komm jetzt, Blondie, tanzen." Daniel greift fest nach meiner Hand und zieht mich auf die Tanzfläche. Tatsächlich habe ich sowas wie Spaß.
Später am Abend habe ich zu viele von diesen Mini-Burgern gegessen und mit von Söder heimlich von diesem Weihnachtspunsch getrunken. Nicht viel, aber er hat mich überredet. Tatsächlich ist der Punsch ziemlich lecker. Ich hab einen Punsch getrunken, Daniel deutlich mehr. Er ist anhänglich und nervt – aber auf drollige Art. Er versucht mit mir zu flirten und baggert mich an. Dieses Kribbeln kann ich ganz schwer einschätzen. Ich bin nämlich auf gar keinen Fall verknallt in Daniel von Söder.
Am Ende weiß ich mir nicht anders zu helfen und flüchte mich auf die Firmentoilette. Ich spritze mir etwas Wasser ins Gesicht und begutachte meine glühenden Wangen. Die Tür geht auf und eine Mitarbeiterin in einem roten Kleid kommt herein. Sie trägt ein Rentiergeweih und hat ein Glas Eierlikör in der Hand. Sie wankt leicht.
Es ist wirklich eine wilde Party und ich frage mich schon die ganze Zeit, ob meine Eltern es bereuen, mich und Maja mitgenommen zu habe. Ich meine, ich bin fünfzehn, aber sie ist gerade zwölf geworden. In der Ecke vor den Aufzügen wurde vorhin heftig rumgeknutscht. Daniel würde dazu sicher nicht nein sagen, wenn ich ihn --- nein, denk nicht mal dran. Mein Spiegelbild schüttelt vehement mit dem Kopf.
Die Frau mit dem Eierlikör verschwindet in einer Toilettenkabine und schließt nicht ab, bevor sie beginnt ihr Geschäft zu erledigen.
Ich rümpfe die Nase und verlasse den Raum. Ich bleibe einen Moment vor dem üppig geschmückten Weihnachtsbaum im Foyer stehen. Leise dringt die Musik zu mir hinüber und ich atme tief durch, als ich ein leises Räuspern höre.
Daniel hat die Hände tief in Taschen seiner Hose geschoben und lehnt an der Wand. „Ich hab dich gesucht."
„Södi, du bist ne Klette." Ich rolle die Augen.
„Mir ist langweilig."
„Dir ist immer langweilig, weil du ein verzogener Bengel bist." Was stimmt. Daniel kann sich einfach nicht alleine beschäftigen, das war schon immer so. Vermutlich hat er ADHS.
Er greift sich ans Herz. „Ich bin getroffen. Komm, lass den Nachtisch plündern, Punsch nachfüllen und auf's Dach gehen."
„Und was soll ich mit dir auf dem Dach? Springen? Dich runter schubsen?" Ich sehe ihn skeptisch an. Er sieht mich wieder mit diesem schiefen Grinsen an wie vorhin. Mittlerweile haben wie ein paar Haare aus dem betonierten Seitenscheitel gelöst, weil er zu viel auf der Tanzfläche herum gehüpft ist. Das ist bei ihm so seltsam: wenn er unbeobachtet ist und er nicht in den Klauen dieser furchtbaren Schule ist, kann man mit ihm wirklich, wirklich Spaß haben. Auch wenn seine verstockte Mutter dabei ist. Und zack: zurück auf Durmstrang mutiert er zu Draco Malfoy und Tom Riddle und Personal Union.
„Es schneit", sagt er schlicht. „Das sieht hübsch aus." Er zuckt mit den Schultern.
„Södi, bist du etwas ein verkappter Romantiker?", ziehe ich ihn auf und folge ihm aber brav zurück in den Raum, wo das Buffet aufgebaut ist. Andere Alternativen bietet diese Party ja kaum.
Daniel zuckt mit den Schultern. „Kommt immer auf die Frau an."
„Baggerst du mich an?" Ich bleibe stehe und dieses seltsame Kribbeln in meinem Bauch hält kurz inne. Zum Glück.
Daniel zieht eine Grimasse. „Jetzt mal ehrlich, von Frankenthal: würdest du dich von mir anbaggern lassen?" Darauf habe ich keine Antwort und sehe zu, wie er sich allerlei Nachtisch auf einen kleinen Teller packt. Würde ich? Lasse ich mich nicht gerade schon von ihm ein bisschen anbaggern?
„Kuchen?", fragt er und hebt den Kuchenheber von der Platte an. Ich nicke irritiert. Die Erkenntnis, dass wir eben tatsächlich miteinander geflirtet haben, von Söder und ich, hat mich getroffen. Moritz würde das niemals gutheißen - und ich auch nicht! Da ist nur dieser verdammte Punsch schuld, den er mir eingeflößt hat. Ich weiß schon, warum ich von Alkohol die Finger lasse. Aber ich kann nicht abstreiten, dass ich Daniel mag.
Daniel drückt mir einen Löffel in die Hand und wir verziehen uns ins Treppenhaus, um dort abseits vom Trubel und Partylärm den Kuchen von einem Teller zu essen.
Er hat eine wirklich gute Auswahl getroffen. Wirklich gut. Kuchen, Schokocreme, Tiramisu... wirklich gut. Und dieses Himbeerzeug mit Vanillecreme - lecker! Er bekommt fast gar nichts ab, weil ich sehr viel schneller mit meinem Löffel bin als er.
„Vielleicht", sage ich schließlich. „Wenn du immer so viel Nachtisch und Kuchen für mich hast..." Ich grinse.
Daniel runzelt erst die Stirn, nickt dann aber langsam. „Verstehe..." Dann sieht er mich eine Weile ratlos an, während ich auch noch den letzten Krümel aufesse. Er sieht ganz und gar nicht aus wie er in diesem Moment und in mir, in meinem Bauch, zieht sich etwas ganz fest zusammen. Auf die gute Art. Er holt ganz tief Luft und sieht mich erwartungsvoll an. „Pi...", setzt er an und mir fällt auf, dass seine Hand auffällig dicht an meiner auf der Treppenstufe liegt. Eine unglaubliche Hitze geht von ihm aus. Gott, was macht er da? Seine Hand streift meine ganz leicht, aber das kann ich mir auch nur einbilden und irgendein Tier in meinem Bauch macht einen Satz.
Er blinzelt und atmet ganz tief ein. Dann scheint er sich sehr zu überwinden und beugt sich etwas zu mir hinüber. Nur ein winziges Stück. Oh mein Gott. Er wird doch nicht --
Er wird. Vorsichtig schiebt er seine Hand auf meine und schluckt schwer. Ich tue ganz automatisch das gleiche. Mein Mund ist trocken und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Erst jetzt fällt mir auf, dass er seine Brille heute gar nicht auf hat. Ich frage mich, ob er Kontaktlinsen trägt oder mich jetzt ganz unscharf sieht. Ich widerstehe nur ganz schwer dem Drang, die Hand auszustrecken, und sein Gesicht zu berühren einfach, weil es so plötzlich so ungewohnt aussieht.
Er kommt mir immer näher und näher und ich glaube, dass er mich küssen wird.
Und er tut es. Ganz vorsichtig berühren seine Lippen dann schließlich meine. Ich muss lächeln, denn ich schmecke den Rest Tiramisu auf ihnen, den Hauch Kaffee. Ich mag Kaffee und lächle leicht.
Es ist mein erster Kuss und als Daniel zittrig Luft holt und mich ansieht, glaube ich, dass er fast einen Herzanfall bekommt, weil er sich überwunden hat. Mein Herz pocht bis in meine Ohren und ich weiß um ehrlich zu sein nicht, was ich sagen soll. Er hat mich geküsst. Mein Bauch fühlt sich an, als ob mein das Silvesterfeuerwerk eine Woche zu früh gezündet hätte und meine Ohren glühen.
Aber ich bin auf gar keinen Fall in Daniel von Söder verknallt.
In diesem Moment geht die Tür zum Treppenhaus auf und Papas Geschäftspartner – Hottie im Bad-Christmas-Pulli – mustert uns interessiert.
Daniels Hand liegt noch immer auf meiner und zuckt leicht.
„Hier seid ihr", er strahlt uns freundlich an. „Daniel, deine Eltern wollen dann gehen. Sie suchen dich." Er sieht zwischen uns hin und her und bedenkt mich mit einem Lächeln. Dann verlässt er ohne ein weiteres Wort das Treppenhaus.
„Ähm...", macht Daniel und sieht mich verlegen an. „Dann... ähm..."
„... solltest du zu deinen Eltern gehen. St. Anton wartet." Ich versuche locker zu sein aber das bin ich nicht. Von Söder hat mich geküsst. Eben gerade. Auf den Mund. Und jetzt? Was sollte das? Ist er verknallt in mich? Will er was von mir? Sind wir jetzt zusammen? Was denkt er überhaupt, was das in der Schule für ein Gerede geben wird? Er und ich? Wir können uns nicht leiden offiziell!
Daniel sieht auf seine Hand auf meiner und räuspert sich. Dann nickt er lahm und zieht sehr, sehr langsam seine Hand von meiner hinunter. „Ja... dann...", murmelt er und sieht mich verwirrt an. „Dann sehen wir uns? Nächstes Jahr?" Er steht schwerfällig auf.
Ich habe absolut keine Ahnung, was ich sagen oder tun soll. Also tue ich das, was mir als erstes in den Sinn kommt. Ich hauche ihm einen Kuss auf die Wage und flüstere: „Nächstes Jahr, Södi. Fröhliche Weihnachten."
„Fröhliche Weihnachten, Sophie..."
Im Café
Daniel holte zittrig Luft. „Du willst es nicht", stellte er fest. „Das respektiere ich."
Ich nickte. Das rechnete ich ihm hoch an. Ich war in den letzten Wochen und Monaten oft genug zu Dingen gedrängt worden, zu denen ich nicht bereit gewesen war. „Danke."
Offensichtlich hatte er aber keine weiteren Worte mehr, denn er sah vor sich auf den Tisch und schwieg. Er schien sich zu sortieren und als ihm dies gelungen war, schlug er die Augen auf und sah mich an. „Hast du noch Fragen wegen Lüttkenhaus?"
Mit an hundertprozentiger Sicherheit konnte ich sagen, dass ich absolut keine Fragen mehr hatte. Lüttkenhaus war ein Wichser. Mir war es wichtig gewesen, von Daniel zu hören ob und wie er in diese Sache verwickelt war. Es gab nicht viele Menschen, denen ich hundertprozentig vertraute. Daniel zählte ich tatsächlich dazu. Trotz allem zählte ich ihn dazu – oder gerade deshalb.
Daniel kannte mein größtes Geheimnis und hatte es immer bewahrt. Ich wusste, dass ich mich auf ihn verlassen konnte. Immer. Blind. So sehr wir uns angefeindet hatten während der Schulzeit, so sehr er mich Bitch und Schlampe genannt hatte – teils auch aus verletztem Stolz, das war mir klar – mein Geheimnis hatte er immer behalten.
„Weißt du, was paradox ist?", fragte er leise.
Ich wusste genau, was er sagen wollte. Ich hörte es an seinem zynischen Tonfall heraus und wappnete mich gegen das Bild, das mit dem Paradoxon aus den Tiefen meiner Erinnerung hochkommen würde. Ich stellte mir Tanah Lot vor, den Sonnenuntergang golden und strahlend. „Dass du das alles gesehen hast und dann ausgerechnet dir später diese ganzen Vergewaltigungsvorwürfe angehaftet haben?", fragte ich, bevor er es aussprechen konnte. Dieses Wort schmeckte wie Gift in meinem Mund. Ich konnte es kaum aussprechen.
„Ja. Das ist paradox..." Ich hatte immer gewusst, dass er das nicht getan hatte. Er hätte nie, niemals irgendetwas mit mir oder irgendeinem anderen Mädchen getan, was sie nicht wollte. Er hätte das nicht tun können.
Daniel sah vor sich auf den Tisch und dachte einen Moment nach. Ich wusste, an was er dachte. Er hatte Bilder im Kopf, während ich am Geländer stand und auf den Tempel im Meer sah. Ich war mir sicher, dass Daniel auch ganz dringend einen solchen Ort brauchte. „Geht es dir heute gut?", fragte er. Daniel musterte mich gründlich aus ernsten, braunen Augen. Die Sorge war ihm anzusehen und ich konnte nicht anders, als zu lächeln. „Oder zumindest besser?"
„Mir geht es besser..." Ich dachte einen Moment nach und sah auf sein Rotweinglas. „Nein, eigentlich nicht. Ich... trinke zu viel."
Er schwieg und blinzelte nur.
„Viel zu viel", setzte ich flüsternd hinterher. „Ich... war... deswegen in einer Klinik..." Noch immer sah er mich nur an und sagte nichts. „Ich bin jetzt erst seit kurzem wieder draußen und..." Ich holte tief Luft. „Es sind sehr viele Dinge passiert und ich versuche damit klar zu kommen. Ich komme langsam zu Recht. Aber gut geht es mir nicht."
Er holte tief Luft. „Wow..."
„Die Entführung hängt mir nach, aber... ich... glaube, ich halte mich wacker, für das, was passiert ist." Ich lächelte vorsichtig.
„Hast du Hilfe?"
Mich überraschte seine Frage. Manchmal, relativ häufig sogar, fühlte ich mich wie Don Quixote: Allein gegen Windmühlen. Im gleichen Moment wusste ich, wie ungerecht dieser Gedanke war. Ich hatte eine Armee hinter mir, die alles tat, dass ich wieder auf die Beine kam. Aber manchmal fühlte ich mich trotzdem ziemlich allein in diesem Chaos. „Ich habe Hilfe", gab ich zurück und mein Lächeln wurde etwas stärker. „Ich habe einen guten Therapeuten in der Klinik gehabt und Mo..."
„Das sind zwei."
„Ich habe Nick... seine Familie..." Ich spürte, wie sich meine Körperhaltung veränderte, als ich Nicks Namen aussprach und auch, wie Daniel mich neugierig ansah.
„Nick."
„Ja... das ist sein Name..."
„Sein Name. Oho." Daniel rieb sich das Kinn und lächelte. „Wow, das ich das erleben darf. Das freut mich für dich. Wirklich, Pi. Ich hoffe, er tut dir gut..."
Ich nickte. „Er tut mir sehr gut..." Ich beuge mich vor und sehe ihn nachdenklich an. „Er ist..." Und ich muss keine Sekunde nachdenken um das zu sagen, „toll. Ich liebe ihn."
„Klingt nach einem Aber."
Ich seufzte leise. „Aber im Moment ist es... kompliziert... Wir müssen uns neu kennenlernen... diese Entführungsscheiße hat uns zugesetzt."
Er nickte langsam und schien zu verstehen. Ich hätte nie gedacht, dass es so gut tun würde mit ihm über all das zu sprechen.
„Und du? Hast du jemanden Festes?", fragte ich.
Daniel zog sein Handy heraus und schob es mir hinüber. Tatsächlich musste ich fast ein Würgegeräusch unterdrücken. Er hatte sie tatsächlich als Bildschirmschoner. Sie beide, vermutlich beim letzten Oktoberfest. Das sehr hübsche, blonde Mädchen trug ein violettes Dirndl. „Sarina. Sie studiert Zahnmedizin."
„Ihr werdet ekelhaft hübsche Kinder bekommen."
Daniel lachte dunkel und packte das Handy wieder weg. „Ich bin froh, dass du dich bei mir gemeldet hast."
„Ich auch..." Und das meinte ich ganz ehrlich. „Du bist aber immer noch ein Kotzbrocken."
„Und du immer noch ne ätzende Zicke." Er grinste und winkte dem Kellner für die Rechnung. Er zahlte und ließ sich auch nicht überzeuge, dass ich das übernahm. Immer noch der gut erzogene Bonzensohn von früher. Früher hätte er allerdings mit einem hundert-Euro-Schein gezahlt. Jetzt waren es ein paar Scheine, wie er sie eben in der Brieftasche hatte.
Als wir die Pizzeria verließen und gemeinsam Richtung Bahnhof liefen, war es zwischen uns ganz entspannt. Er brachte mich bis hinunter zur U-Bahn.
„Daniel?"
„Mh?"
„Überdenk bitte dringend diese Frisurwahl, ja? Dieser Seitenscheitel sah früher schon echt mies aus...", sagte ich, als der Zug einfuhr. Ich stellte mich auf die Zehenspitze und drückte ihm kurzer Hand einen Kuss auf den Mund. „Pass auf dich auf, ja?"
Perplex starrte er mich an.
...............
Na, seid ihr ein bisschen schlauer geworden? 😎🐺🤷♀️🦌
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