Totalschaden: 15 ~ Nick
Bernicke kam mir angespannt und Augen rollend entgegen, hinter ihr Pis Eltern. Faller lief direkt weiter zum Kaffeeautomaten.
„Hören Sie zu", sagte Bernicke ernst. „Ihre Tochter ist schwer traumatisiert. Wenn Sie jetzt mit ihr sprechen, sprechen Sie nicht mit ihr über das, was Sophie widerfahren ist. Sie fragen Sie nicht, wer der Entführer ist oder was mit ihr passiert ist. Sie fragen Sie nicht, wo Sie war und was Sie erlebt hat. Haben Sie das verstanden? Sie stellen keine Fragen!"
Sophies Eltern nickten. Marina von Frankenthal schluchzte leise und sah vorsichtig zu mir. Ich hielt mich bewusst im Hintergrund.
Die beiden betraten wieder das Zimmer und Bernicke sah ihnen nach. Sie verzog unzufrieden das Gesicht.
„Keine gute Befragung?"
Sie schüttelte den Kopf. „Sie ist noch nicht klar im Kopf. Zu viele Beruhigungsmittel. Es war zu viel für sie."
Ich schwieg. Damit hatte ich gerechnet. Aber mir hatte sie ja nicht geglaubt.
„Sie fragt nach Ihnen..."
Ich seufzte leise. „Ja... aber ich kann da jetzt nicht reinplatzen..."
„Nein, können Sie nicht." Sie sah mich an und seufzte. „Ich hasse Eltern von Opfern." Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als sie das Wort Opfer aussprach und sie registrierte es mit einem Seufzen. „Und deren Freunde hasse ich auch." Dann lächelte sie matt. „Sie erschweren meine Arbeit."
Ich sah sie eine Weile schweigend an und zuckte dann mit den Schultern. Keine Ahnung. Ich hatte bei meinem Teil des Jobs selten mit Opfern zu tun. Zumindest nicht so. Nicht in der Art wie jetzt. Nicht in Ermittlungsfragen. Wir beobachteten. Wir griffen ein. Wir sicherten Tatorte. Ich hatte noch nie aktiv einen traumatisierten Zeugen vernommen. Die Theorie kannte ich. Aber ich konnte mir vorstellen, dass es aktiv... ganz anders war. Ich dachte an Pi auf der anderen Seite der Tür.
„Sie hassen weder die Eltern noch die Freunde...", sagte ich dann.
„Nur wenn sie meine Arbeit behindern."
„Manche erleichtern ihre Arbeit auch."
„Manche sind auch einfach übergriffig und anmaßend." Sie schmunzelte. „Bleiben Sie nicht zu lange hier, Nick. Sie sollten duschen. Und ne Runde schlafen. In einem richtigen Bett. Ihr geht es gut. Sie ist in Sicherheit." Damit ging sie und ich blieb auf dem Gang zurück. Starrte die Tür an und wartete, bis Pis Eltern herauskamen.
Aber das geschah nicht.
Keine Ahnung, wie lange ich vor der Tür wartete, wie oft Ärzte oder Schwestern oder Besucher an dem Raum vorbeigingen.
Ich kam mir vor wie ein Stalker. Aber ich wusste nicht, wohin mit mir.
Ich konnte ohnehin nirgendwohin. Mein Auto stand zuhause in Weinheim.
Keine Ahnung, wie lange ich hier saß.
Keine Ahnung, wie viel Uhr es war.
Eine der Schwestern versorgte mich regemäßig mit Kaffee. Sehr aufmerksam. Vermutlich hatte sich schon herumgesprochen, dass ich der Verrückte war. Der verrückte Freund von dem Entführungsopfer von der ITS.
„Gott sei Dank, diese Klinik ist ja ein Labyrinth!"
Ich riss den Kopf aus meinen Gedanken, als ich die vertraute Stimme meiner Schwester hörte. Becky stürmte mit wehenden roten Haaren die Flur hinunter und steuerte direkt das Schwesternzimmer an. Tom lief hinter ihr her wie immer. „Rebecca, jetzt mach hier mal nicht so einen Aufriss!"
„Ich mache keinen Aufriss!"
„Machst du. Wie immer. Atme durch, zähl von Zwanzig rückwärts - am besten auf russisch und ... oh, hi..."
Ich war aufgestanden und auf die beiden zugelaufen.
Tom zog mich in eine stumme Umarmung und klopfte mir ruhig auf den Rücken. Mehr war nicht nötig.
„Nicki..." Becky schob Tom gewaltvoll zur Seite und tat es ihm gleich. „Wie geht es ihr? Ist sie okay?", flüsterte sie an mein Ohr. Dann holte sie Luft und schwieg kurz bevor sie fragte, „Schatz, wie geht es dir?" Sie gab mich ein Stück frei und sah mir prüfend ins Gesicht. Ihre grünen Augen leuchtend hell auf wie das Signal eines Lügendetektors.
„Lass ihn doch mal Luft holen, Becky!" Tom stöhnte. „Digga, hast du heute schon was gegessen? Dein Magen knurrt..."
Tatsächlich hatte ich das nicht. Ich hatte die ganze Zeit über Wache geschoben... Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich..."
„Okay. Alles klar. Welches Zimmer?", fragte Tom.
„221..."
„Die Straße runter ist ein Burger-Laden. Becky, du gehst mit ihm nicht vor zwei Cheesburger und doppelt Pommes da raus. Ich pass auf die Tür auf..."
„Ihre Eltern sind da drin..."
„Umso besser." Tom grinste. „Die kennen mich ja schon. Haut schon ab..."
Vor Erleichterung hatte ich das Gefühl in Tränen ausbrechen zu müssen... aber ich tat es nicht. Stattdessen schlich ich mit hängendem Kopf hinter Becky den Flur entlang und verließ die Klinik.
***
„Du musst dich um gar nichts kümmern", sagt Becky. „Nur damit du das weißt..." Sie schlürfte einen Schluck Cola durch ihren Strohhalm und tunkte im Anschluss großzügig ihre Curly Fries in die Mayo. „Ich hab Mama gesagt, dass Pi wieder da ist und ihr gesagt, dass sie die Biester taktvoll informieren soll und sie dich in Ruhe lassen sollen. Alle haben Kontaktverbot - außer Mama, ich hoffe, das ist okay."
Ich starrte sie perplex an und nickte.
„Außerdem", sie verzog den Mund, „waren wir bei Ida und Pi in der Wohnung und... ähm... Also ich hab ihr eine Kliniktasche gepackt, weil ich nicht wusste wie lange sie hier bleiben muss und ich..."
„Ich liebe dich, Becks..." Mir war zum Heulen zu Mute. Wirklich. An solche Sachen hatte ich überhaupt nicht gedacht.
„Die Tasche steht in deinem Kofferraum."
„Du bist toll..."
„Ich weiß...", sie grinste, „deshalb bin ich deine Lieblingsschwester und quäle dich mit dem Brautjungfernscheiß und den Stuhlhussen."
Ich stöhnte auf und spürte, wie ich trotz der ganzen, verdammten Anspannung in mir lachen musste.
Becky griff nach meinen Händen und lächelte mich offen an. „Nick, du darfst loslassen... Es ist vorbei... Wirklich. Es ist vorbei. Lass los... Sie ist wieder da."
„Ich glaub das noch nicht... Es fühlt sich noch nicht so an..." Ich dachte an die Nacht auf der Intensivstation... „Ich bin heute Nacht total zusammengebrochen. Ich hätte nicht so zusammenklappen dürfen. Nicht, während sie dabei war. Becky... Ich... Ich war das totale Wrack..."
„Und? Dann warst du eben ein totales Wrack. Das ist dein gutes Recht. Und ihr darf es auch beschissen gehen. Euch beiden. Ihr habt beide echt eine miese Zeit durchgemacht, aber das ist vorbei. Es wird wieder besser." Sie lächelte, griff nach einer weiteren Curly Frie und grinste. „Viel besser mit mehr Curly Fries."
„Curly Fries sind dafür keine Lösung, Becky..."
„Nein, vielleicht nicht. Aber eine Grundlage. Jetzt iss deinen Burger auf."
Und das tat ich. Danach sah die Welt tatsächlich ein wenig besser aus. Wir blieben noch eine Weile sitzen und ich erzählte ihr von Bernickes Besuch am frühen Morgen und der Lösung in Carries Todesfall. Dass es damals wirklich Jana gewesen war aus Eifersucht und dass sie es Moritz hatte in die Schuhe schieben wollen um seine und Pis Freundschaft zu torpedieren.
„Krasse Nummer." Becky pfiff leise durch die Zähne. „Scheint ja echt ne Hexe zu sein. Da kann sich ja selbst Lucy noch ne Scheibe abschneiden."
„Lucy ist da gegen ein flauschiges Kuschelhäschen", murmelte ich und hörte Becky kichern.
„Oh, erzähl das Pi..."
Ich hob eine Augenbraue und Becks verstummte. „Ja, gut, für solche Witze ist es vielleicht noch zu früh. Und diese Entführungsnummer? Hat sich Bernicke da geäußert?"
Ich schüttelte den Kopf. „Ich dachte die ganze Zeit es sei ein Klassenkamerad. Daniel von Söder. Aber irgendwie... Bernicke ist nicht drauf angesprungen... Moritz ist entlastet. Keine Ahnung. Sie meinte nur, sie hätten den Täter und hätten ihn im Verhör."
„Willst du Pi danach fragen?"
Ich wollte schon... aber ich würde es nicht tun... Ich wollte nichts kaputt machen. Keine Wunden aufreißen... Und um ehrlich zu sein... traute ich mir das auch nicht zu, mit ihr darüber zu sprechen. „Nein. Ich hab mich schon genug eingemischt."
„Kluger Bruder."
Ich rollte die Augen. Ich liebte sie, aber Becky war echt ätzend.
Um drei zahlten wir und liefen zurück zur Klinik. Tom fanden wir, wo wir ihn zurück gelassen hatten. Allerdings saß er in einem recht bequemen Ledersessel - wo auch immer er den aufgetan hatte - und las die Bild der Frau. „30 Tipps gegen Cellulite - Becky, wenn du jetzt loslegst wird das vielleicht noch was mit Cellulite-frei in den Flitterwochen, Frau Schlüsselloch..."
Becky kniff die Augen zusammen und ich hätte meine Hand nicht dafür ins Feuer gelegt, dass Tom die Heimfahrt heil überstehen würde. „Obacht, mein Freund. Du stehst auf sehr dünnem Eis, Mister Der-Anzug-passt-zur-Hochzeit-schon-das-Steak-gönn-ich-mir-mit-extra-Käse."
„Spüre ich hier etwa Spannungen an der Hochzeitsfront?", murmelte ich.
Becky sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und seufzte nur. „Stuhlhussen, Nicki...", sagte sie dann nur.
„Echt jetzt?"
„Echt jetzt." Tom rollte die Augen. „Es geht ernsthaft und wirklich um Stuhlhussen. Und wir verarschen dich diesmal auch wirklich nicht. Sie zieht dich nicht auf. Wir stehen vor dem Krankenhauszimmer von Pi und es ging auf dem Hinweg wirklich um fucking Stuhlhussen, weil der Lieferant der champagnerfarbenen Stuhlhussen...." Tom holte tief Luft und atmete sehr langsam aus. „Ich bin der Stuhlhussenbeauftragte jetzt, wie du merkst. Egal. Lassen wir das. Wir diskutieren das wann anders, Frau Schlüsselloch."
„Gehrig.
„Schlüsselloch."
Ich lächelte und sah zur Tür. Ich war Becky und Tom unglaublich dankbar, dass sie vor dieser Tür standen sich über fucking Stuhlhussen und Beckys zukünftigen Nachnamen stritten. Das war so herrlich normal und weitab von dem Wahnsinn der letzten drei Wochen, dass es sich unwirklich anfühlte und ich aus meinem tiefsten Inneren heraus lachen musste.
Ich lachte und konnte einfach nicht mehr aufhören. Wegen der verdammten Stuhlhussen.
Meine gute Laune nach diesem kurzfristigen Hoch hielt allerdings nicht allzu lange. Danach fühlte ich mich ausgelaugt und fertig und wollte eigentlich nur schlafen.
Becky und Tom waren nicht mehr lange geblieben und zurück nach Heidelberg gefahren.
Pis Eltern waren noch immer bei ihr im Zimmer und allmählich fragte ich mich, was die so lange da drin machten. Redeten die? Schwiegen die sich an? Kuschelten die? Heulte sich Pi in den Armen ihrer Mutter aus? Wenn es so war, versetzte es mir einen Stich, denn ich wollte --- Ich wollte derjenige sein, der --- Ich wollte --- Ich...
Ich war selbstsüchtig. Zugegeben. Ich wollte sie im Arm halten.
Ich war tatsächlich eifersüchtig auf ihre Eltern, war das zu fassen?
War das normal?
Aber was war in dieser Situation schon normal?
...................
🍔🍟🥤👫
Habt noch einen schönen Tag, ihr Hasen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top