Totalschaden: 15 ~ Nick

Der Zustand, in dem ich mich am nächsten Morgen befand, war zwischen abgefuckt-völlig-am-Ende und unendlich erleichtert und glücklich. Ich konnte gar nicht sagen, wann ich zuletzt 5 Stunden am Stück durchgeschlafen hatte.

Als ich um kurz vor sechs aufwachte mit Pi im Arm war ich so erleichtert, dass ich hätte schreien können und gleichzeitig war ich so fertig, dass ich nicht wusste, ob ich die Kraft haben würde, die nächsten Tage durchzustehen.

Ich rutschte mit steifen Muskeln von meinem Nachtlager ohne sie zu wecken und verließ auf Zehenspitzen das Krankenhauszimmer der Intensivstation. Ich wollte sie nicht alleine lassen, auf keinen Fall, aber ich brauchte etwas zu trinken und eine Toilette.

Sie schlief.
Sie atmete.
Sie lebte.

Ich stand noch immer neben mir.

Es war mir ein Rätsel, warum die mich nicht rausgeworfen hatten. Das war ein No-Go auf Station, das wusste ich von meiner Mutter. Und normalerweise ging auf ITS ständig die Tür auf um die Patienten zu überprüfen – wenn das passiert war, hatte ich es nicht mitbekommen und ich hatte quasi im Koma gelegen.

Personenschutz. War das eine Gefälligkeit von Bernicke gewesen?

Der Flur lag noch wie ausgestorben da. Nur die zwei Nachtschwestern saßen im Schwesternzimmern und bereiteten gerade die Übergabe vor.

„Guten Morgen, junger Mann." Die Ältere der beiden grüßte mich mit einem müden Lächeln. „Kaffee?"

Dankbar nickte ich. „Gern..." Ungelenk griff ich in meine Hosentasche und zog mein Handy heraus. Der Akku war leer. „Hat jemand von Ihnen ein Ladegerät? Ich muss unbedingt telefonieren und..."

Becky. Ich musste mich auf alle Fälle bei Becky melden. Und bei Schrader. Und bei Pis Eltern. Und bei Jan.

Die jüngere der beiden Krankenschwestern strahlte mich an und reichte mir ihr Ladegerät. Dankbar nahm ich es von ihr entgegen, ebenso wie die dampfende Tasse Kaffee und lief mit beidem in der Hand den Flur hinunter zu der kleinen Sitzgruppe bei den Aufzügen.

Ich steckte das Ladegerät ein und wartete ein paar Minuten, bis ich das Handy einschaltete. Ich hatte zwei Anrufe von Jan, und zwei Nachrichten, eine von Becky, eine von ihm.

Becky: Ich fahre nach Hause und komme morgen mit Tom und deinem Auto zurück. Alles wird gut. Ich hab dich lieb.

Jan von Frankenthal: Hab dich angerufen. Erreich dich nicht. Was gibt's?

Ich sah auf die Uhr. Es war noch nicht mal halb sieben. Viel zu früh. Ich konnte ihn noch nicht anrufen, oder? Allerdings sah ich, dass er schon online gewesen war. Also versuchte ich es.

Es klingelte dreimal, bis Jan abnahm. „Sechs Uhr vierundzwanzig, du hast Nerven, Nick..."

Ich holte tief Luft. Ich überlegte, was ich sagen sollte, ob ich es verpacken sollte, entschied mich aber, es kurz zu machen. „Sie haben sie."

„Was? Wen?"

„Pi. Sie ist frei. Sie..." Meine Stimme brach weg und ich atmete tief durch. „Entschuldige. Ich wollte... Ich hätte... Ich sollte..." Ich schwieg kurz und schluckte. „Ich hab dich nicht erreicht, dann war mein Akku leer. Sie ist in Gießen in der Uni-Klinik. Ihr geht es soweit gut, glaube ich."

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.

„Jan? Bist du noch dran?" Vermutlich nickte er, was ich aber nicht hören konnte. „Hallo?"

„Ja... ja, bin dran... Sorry..." Er atmete durch. „Gut... Das ist gut..." Er schluckte hörbar. „Wissen ihre Eltern schon Bescheid?"

„Ich weiß nicht... ich denke schon... ja? Sie sind aber noch nicht hier." Ich lehnte den Kopf gegen die Wand und lauschte dem Surren des Aufzuges. Mit einem Ping kam er zum Stehen und die Türen glitten auf. Schwestern und Pfleger stiegen aus.

Jan dachte einen Moment nach. „Ich hab heute Vormittag zwei Treffen mit Klienten, die ich nicht absagen kann, aber dann kann ich nach Gießen kommen."

„Du musst nicht --"

„Und ob ich muss." Jan schnaubte. „Danke, dass du Bescheid gesagt hast. Mail mir die Adresse."

Das Gespräch war beendet. Lediglich der heiße Kaffee in meinen Händen war mir geblieben.

Der zweite Anruf, den ich tätigte, ging an Pis Eltern. Sie waren gestern schon informiert worden – von Bernicke. Sie waren auf einer Veranstaltung in London gewesen als die Nachricht kam und hatten nicht so schnell einen Flug bekommen. Ihr Rückflug ging erst heute Morgen um 9 Uhr, dafür direkt nach Frankfurt. Sie waren erleichtert. Sophies Mutter war in Tränen aufgelöst, ihr Vater nur erleichtert, dass der Alptraum ein Ende hatte. Die Stimmung war angespannt gewesen, ich konnte nicht einschätzen, was die komische Stimmung zu bedeuten hatte.

Als ich auflegte war es viertel vor sieben und ich fühlte mich total ausgepumpt. Den Kaffee hatte ich noch nicht angerührt. Heiß war er nicht mehr, nur noch lauwarm, wenn überhaupt. Ich trank davon ab. Er war nicht schlecht, aber nicht mehr heiß. Ich stellte ihn zur Seite.

Ich sollte meine Mutter anrufen. Ich sollte es ihr sagen. Und Julius. Er sollte wissen, dass Pi wieder da war. Und Schrader. Ich sollte mich bei ihm bedanken, dafür dass er mir Bescheid gesagt hatte. Dafür, dass ich hier sein konnte.

Und dann war da noch Moritz...
Was war mit Mo? Wusste er schon Bescheid?

Wieder sirrte der Aufzug und öffnete sich mit dem leisen Ping. Diesmal stiegen zwei Ärzte in Kitteln aus und hinter ihnen zu meiner Überraschung Kommissarin Bernicke. Sie war allein. Als sie mich sah hob sie den Kopf und hielt auf mich zu.

„Herr Kollege..."
„Guten Morgen..."

Sie sah auf den freien Platz neben mir. „Darf ich?"

„Tun Sie sich keinen Zwang an..." Ich wusste, dass ich abweisend klang. Bernicke schien sich nicht daran zu stören. Einen Moment lang sah sie auf den polierte Linoleumboden, dann räusperte sie sich: „Ich konnte Ihnen nichts sagen. Vom Einsatz. Das verstehen Sie, oder Gehrig?"

Ich drehte langsam den Kopf. Ich war es leid. Ich war müde und hatte keine Kraft mehr. „Ich hab Ihnen den Fall auf dem Silbertablett präsentiert..."

Sie schwieg. Wir wussten beide, dass ich recht hatte, dass wir heute nicht hier wären, ohne meine Hilfe.

„Und?", fragte ich bitter, „War es so? Hatte ich wirklich recht?" Es wäre mir eine innere Genugtuung, wenn es wirklich so wäre. Wenn es wirklich Jana und von Söder gewesen wären.

„Gehrig...", begann sie, seufzte dann aber schwer auf und ließ die Schultern sinken. „Ich kann Ihnen noch nichts sagen... Wir haben noch nicht alle Informationen..."

Ich schloss die Augen. „Das ist einen ziemlich unbefriedigende Antwort dafür, dass Sie eine Woche lang irgendeinen Scheiß geplant haben und ich die Info von Max Schrader hatte, dass meine Freundin vom SEK befreit wurde." Ich seufzte schwer, genau wie Bernicke. Die Kommissarin sträubte sich innerlich zu antworten, vermutlich gab es noch kein Geständnis. Da hätte ich selbst auch nichts gesagt.

Aber dann nickte sie langsam. „Sie hatten teilweise recht... Wir haben letzte Woche ein Team auf Jana Stephan angesetzt. Sie hat eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung. Sie war seit ihrer Kindheit deswegen in Behandlung. Die Lücke in dem Dossier von ihrer... Bekannten rührt von einem Aufenthalt in einer Psychoklinik her. Jana Stephan war laut ihrem Vater seit ihrer frühen Kindheit therapeutisch betreut und war medikamentös eingestellt. Ihre Eltern haben zu Protokoll gegeben, dass sie schon immer wild war und ein sehr feindseliges und aggressives Verhalten gezeigt hat, gepaart mit einem hohen Grad an depressiven Störungen und mangelnder Impulskontrolle. Sie hat schon als Kind Freude daran gehabt anderen wehzutun, was die Eltern hellhörig gemacht hat und sie haben Jana früh therapeutisch angebunden."

„Jana also...", murmelte ich und versuchte das zu verarbeiten.

„Janas Sozialverhalten war immer schwierig, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich", fuhr Bernicke fort. „ Sie musste deshalb mehrfach die Schule wechseln. Ihr Vater meinte, sie hätte sich immer schnell in Beziehungen versteift und sich dann im Internat... vor allem auf Moritz Meier fixiert."

„Und der war aber eigentlich in Pi verliebt und sie hat das rausbekommen?"

„Ja. Sie muss damals aufgehört haben ihre Medikamente zu nehmen und hatte eine Art Rückfall. Sie kam offensichtlich in eine instabile emotionale Situation und hat in dieser Situation überreagiert."

„Überreagiert?" Ich sah Bernicke an. „Haben Sie sich die Akte angesehen? Die Tatortbilder? Die hat nicht überreagiert... Die hat das Pferd hingerichtet... Hat sie es zugegeben?"

„Sie wird noch weiter verhört."

Ich schloss die Augen und lehnte den Kopf hinten an die Wand. „Und das Freundschaftsband? Wie passt das rein?"

„Wir gehen im Moment davon aus, dass sie Moritz Meier die Tat in die Schuhe schieben wollte, um ihn und Sophie zu entzweien. Um die emotionale Verbundenheit der beiden zu kappen."

„Krank..."

Bernicke zuckte mit den Schultern. „Ihre Eltern wussten davon. Oder zumindest hat ihr Vater vermutet, dass Jana mit Carries Tod in Zusammenhang stand. Ihm fehlte Detomidin und chirurgisches Material. Auch wenn die Praxis nicht im Einzugsgebiet war, solche Fälle sprechen sich rum in der Branche, sagte er. Und er sagte, er kenne seine Tochter. Trotzdem hatte er sie gedeckt, von der Schule genommen und dann nach dem Abi in eine Klinik gesteckt."

„Toller Vater..." Ich rieb mir die Stirn. Das angestrengte Pochen der vergangenen Wochen flammte neu auf. „Die Frau studiert Tiermedizin. Das ist doch krank."

Bernicke schwieg.

„Und Jana steckt auch hinter Pis Verschwinden, ja?"
„Das verhält sich etwas komplizierter als der alte Fall."

Langsam drehte ich mich zu ihr um und blinzelte. „Inwiefern?"

„Gibt es hier irgendwo Kaffee, Gehrig? Ich war die ganze Nacht im Verhör. Ich brauche einen Kaffee. Sie auch noch einen?" Sie stand auf und lief den Flur entlang bis zu einem Kaffeeautomaten. Laut ratternd spuckte der Automat Kaffee aus, diese fade, braune Plörre, die den Namen Kaffee nicht man annähernd verdiente. Bernicke zog einen zweiten Kaffee und reichte mir den Thermobecher. Hätte ich nur besser den guten Kaffee von den Schwestern getrunken.

„Was glauben Sie, wie es passiert ist?", fragte Bernicke schließlich und sah mich an.

Ich schloss die Augen. „Ich hab keine Kraft mehr dazu... ich weiß es nicht. Ich hab gedacht, es wäre Jana Stephan, aus Eifersucht auf Pi. Aber das macht keinen Sinn, weil es ewig her ist. Warum soll sie nach 3 Jahren wieder auftauchen? Das ist so komisch. Und Jana war bei Mo." Ich rieb mir die Stirn. „Ist es Daniel von Söder? Dieser Typ aus Pis Jahrgang? Moritz hat von ihm erzählt..." Ich zuckte mit den Schultern und dachte an dieses Verlobungsselfie. „Aber auch da fehlt mir das Motiv. Haben Sie ein Motiv herausfinden können?"

Sie lächelte und legte mir sanft die Hand auf die Schulter und stand müd auf. „Sie stellen gute Fragen, Nick... Die Kripo könnte von Ihnen wirklich profitieren."

„Ich bin suspendiert." Auch wenn ich den Bescheid immer noch nicht offiziell hatte.

Bernicke legte den Kopf schief und lächelte. „Aber nicht für immer." Sie lief langsam Richtung Aufzug.

„Linda."
„Mh?"
„Was ist mit Moritz?"

Sie drehte sich um und seufzte schwer. „Ein dummer Junge."

„Hängt er mit drin?"

Sie schüttelte den Kopf. „Wie es aussieht, war er einfach dumm. Und verliebt in die falsche Frau. Er hat mit der ganzen Sache nichts zu tun."

Erleichtert atmete ich auf und ließ den Kopf wieder gegen die Wand sinken. Immerhin. Immerhin stimmte das.

„So... Ich muss jetzt mal duschen und besseren Kaffee trinken, das war eine lange Nacht. Und dann brauche ich ein paar Antworten, die uns ihre Freundin geben muss..."

Ich nickte lahm. „Heute?"

„So schnell wie möglich. Je frischer die Erinnerungen sind, desto besser."

Ich stand ebenfalls auf und baute mich vor ihr auf. Ich war ein ganzes Stück größer als sie. „Sie schläft noch. Außerdem hatte sie noch kein Frühstück und der Arzt hat sie noch nicht gesehen. Ich denke, es wäre besser ---"

„Sie machen hier nicht die Ansagen, Herr Kollege..." Bernicke musterte mich müde. „Am Ende wollen Sie bei der Befragung auch noch dabei sein, was?" Sie lachte leise und sah auf ihr Handy. „Ich bin um 9 Uhr wieder hier. Mit Faller." Damit wandte sie sich zum gehen und legte mir sanft die Hand auf die Schulter. „Das Wort, nach dem Sie nach der geschenkten Nacht bei Ihrer Freundin suchen, Nick, ist Danke."

Ich sah ihr nach, wie sie zum Aufzug ging.

Diese selbstgefällige Kuh.

...........

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