Spukschloss: 26 ~ Pi
Die Fahrt mit dem ICE zurück nach Heidelberg war kraftraubend und aufwühlend. Daniel zu sehen war schön, aber auch sehr anstrengend. Es hat viel hochgeholt. Sehr viel. Viele Gefühle, viel Wut. Viel Leid und Dinge, über die ich nie gesprochen hatte. Dinge, über die ich nie hatte sprechen wollen. Schon gar nicht mit Daniel von Söder. Am allerwenigsten mit ihm.
Aber wenn nicht mit ihm, mit wem sonst?
Ich hatte die gesamte Heimfahrt über diese Frage nachgedacht und war zu keiner Lösung gekommen. Zu keiner guten. Jeder, der mir einfiel, würde auf dieses Eingeständnis, mein kleines, dreckiges Geheimnis mit von Söder mit Unglauben reagieren. Wie hatte Daniel es gesagt? Wie konnte einer Person nur so viel Scheiße passieren wie mir?
Aber Daniel hatte Recht... irgendwann musste ich darüber sprechen. Vielleicht würde es beim Prozess eine Rolle spielen. Ich war im Moment nicht stabil – alles andere als das – und ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren würde, wenn ich mit Lüttkenhaus konfrontiert werden würde. Ich würde vor Gericht aussagen und ihn fertig machen. Ich würde von dieser Nacht in diesem Frühling berichten, was er mit mir gemacht hatte, und wenn es darauf hinauslief, dass ich mich als Missbrauchsopfer vor Gericht hinstellen musste...
Ich schloss die Augen und dachte an eine Flaschen Cognac. Die wollte ich jetzt sehr gerne haben.
Wenn es darauf hinauslief, dass ich über das mit Lüttkenhaus sprechen musste, konnte es sein, dass ich über andere Dinge sprechen würde, über die ich nicht sprechen wollte. Und vielleicht hatte Daniel wirklich Recht und ich sollte sie vorher zumindest schon einmal angesprochen haben, denn immerhin hatte dieser Vorfall alles bestimmt... und verändert. Mich zumindest. Jahrelang.
Aber mit wem sollte ich sprechen? Mit Mo? Ich hätte nicht gewusst, wie ich ihm das hätte sagen sollen. Wie ich ihm hätte erklären sollen, dass mir so viel mehr Scheiße passiert war als Carrie oder Lüttkenhaus. Und dass von allen Menschen auf dieser Welt ausgerechnet Daniel von Söder davon wusste. Dass ich das während unserer ganzen Freundschaft vor ihm verschlossen hatte wie – mir fiel kein guter Vergleich ein. Etwas sehr Dunkles, Eitriges, Böses.
Ich schluckte. Oder sollte ich etwa meinen Eltern davon erzählen? Ausgerechnet ihnen, die nie verstanden hatten, warum ich nicht mehr auf diese Events hatte mitgehen wollen? Warum es für mich ein Alptraum gewesen war, vorgeführt zu werden wie ein Zirkuspferd? Weil ich gewusst hatte, dass er garantiert auftauchen würde? Er war immer da gewesen. Auf jedem Event meiner Eltern und hatte mich angestarrt wie ein Stück Fleisch und ---
--- und ich hatte mir jedes Mal ein Glas Champagner genommen und in einem Zug leer getrunken. Und dann ein zweites. Und ein drittes. Und dann hatte ich mich an den nächst besten Typen in meinem Alter geworfen, damit er mir nicht zu nahe kam. Nur nie wieder an Daniel.
Bis Santorin.
Die Sache mit meinen Eltern war ohnehin so schwierig. Sie schnürten mir die Luft ab, aber seit ich aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, war es, als existierte ich nicht. Meine Mum rief mich zwar regelmäßig an, ich drückte sie regelmäßig weg. Mehr Engagement zeigte sie nicht, schrieb noch nicht mal eine Whatsapp. Mein Vater war immer noch stinksauer, dass ich auf die Hochzeit gefahren war. Ich wusste, dass sich mittlerweile sogar Jans Vater eingeschaltet hatte und seinem kleinen Bruder den Marsch geblasen hatte, aber mein Vater schaltete weiter auf Durchzug. Meine Eltern zeigten keinerlei Verständnis, dass ich nicht in diesen Elfenbeinturm gesperrt sein wollte. Vor allem mein Vater zeigte keinerlei Entgegenkommen – immer noch nicht. Aber ich auch nicht. Er war stur, ich war stur. Stur und unbequem, sollten sie sich mal fragen von wem ich mir das abgeschaut hatte.
Manchmal fragte ich mich, was ihn daran hinderte, einfach anzurufen und zu sagen „Sophie, es tut mir leid". Vielleicht war mein Vater derjenige, der zur Therapie und diese ganzen Dinge richtig aufarbeiten sollte.
Spätestens zur Verhandlung würden sie vermutlich in Heidelberg auftauchen, mit wehenden Fahnen und auf traute Familieneinigkeit tun. Mich überfallen, behelikoptern und dann würde es wieder eskalieren. Ich wusste, was ich tun musste. Ich musste mich mit ihnen aussprechen. Ich musste aufräumen und ihnen sagen, was mit mir los war. Was ich wirklich durchgemacht hatte. Alles. Dass ich ein Alkoholproblem hatte und den ganzen anderen Scheiß. Ich musste ihnen sagen, was damals passiert war, aber ich wusste nicht, ob sie mir das glauben würden.
Lass dich nicht so gehen.
Ich hatte es ihnen wirklich schwer gemacht. Ich wusste nicht, ob sie mir das wirklich glauben würden. Ob sie mir glauben würden, dass das passiert war und dass ich es mir nicht ausgedacht hatte, um mein Verhalten damals und heute zu rechtfertigen. Um eine Ausrede zu finden für alles, was passiert war. Und es war viel passiert, zwischen uns. Sehr viel.
Je länger ich wach lag, umso weitere Kreise zogen meine Gedanken. Und umso stärker wurde mein Drang, zu trinken. Ich wollte wirklich ganz dringend trinken.
Mo und meine Eltern schieden also aus. Aber sollte ich mit ihm darüber sprechen? Mit Nick? Ich vertraute ihm. Er gab sich so viel Mühe, die Kluft zwischen uns zu beseitigen und mir wieder ein gutes Gefühl zu geben. Es waren sehr kleine Schritte, die wir machten.
Ich schloss die Augen und wünschte, dass ich nicht nur eine Flasche Cognac hätte. Ich wollte ganz dringend die Bilder in meinem Kopf vergessen. Ganz, ganz dringend.
Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Noch weniger, als mit meinen Eltern. Das würde bedeuten, ich würde mit ihm über alles sprechen müssen. Über die Wolke, den Alkohol, meine Eltern, meine Gefühle, die Wut, Lüttkenhaus, Carrie, Düsseldorf. Alles. Über die Schule, Daniel. Das Geheimnis.
Ich wollte wirklich trinken. So sehr, dass selbst mein Tempel im Meer ein Dreck gegen den Wunsch war. Zum Glück hatte ich die Flaschen in der Küche letzte Woche aus der Wohnung verbannt, sonst hätte ich für nichts garantieren können. Gerade hätte ich sogar Wick Medi Night getrunken, nur um des Trinkens wegen.
Gegen zwei Uhr Nachts zückte ich mein Handy und überlegte, ob ich Nick anrufen sollte, verharrte aber nur über dem Anrufbutton und legte mein Handy auf meine Stirn. Er schlief bestimmt, das konnte ich nicht bringen. Kleine Schritte, das hatte ich selbst gesagt. Ich konnte ihn nicht immer anrufen. Er tat schon so viel für mich im Moment.
Mir fehlten die Nächte mit ihm. Mir fehlte es, neben ihm einzuschlafen und neben ihm aufzuwachen. Mir fehlten sein gleichmäßiger, tiefer Atem und sein Arm, der schwer auf meinem Rücken lag, wenn er sich rumdrehte. Aber ich traute mich auch nicht, ihn anzurufen und zu fragen, ob er herkommen und hier schlafen würde. Das kam mir zu schräg vor. Dafür war die Situation zwischen uns einfach noch zu seltsam.
In der Wohnung kam ich irgendwie zurecht, so lange Ida da war. Wenn sie nicht da war, war es... schwierig. Dann kämpfte ich wirklich sehr mit den schlechten Geistern. Aber ich war tapfer und versuchte nicht sehr zu katastrophieren.
Jetzt, in dieser Nacht, gelang mir das nur eher mäßig.
Ich dachte an Carrie und das ganze Blut.
An Lüttkenhaus und den Keller.
An Daniel, die Weihnachtsfeier und das Geheimnis.
An Moritz und Bernicke und daran, dass er in U-Haft gesessen hatte. Mo. Er... Wegen diesem Freundschaftsband. Weil er sich wieder mit Jana eingelassen hatte.
Und ich dachte wieder an Daniel von Söder. An den Jungen, der er mal gewesen war. Den arroganten Typen auf den Internat, den König der Schule. Die Küsse auf Santorini.
Sein Auge, das ich damals im Türrahmen entdeckt hatte.
Er hatte mich aus der Hölle rausgeholt. Ohne ihn wäre die Polizei nie auf Lüttkenhaus gekommen. Ohne ihn wäre ich noch immer im Keller. Ohne Daniel von Söder wäre ich vermutlich noch immer im Keller. Ohne ihn wäre ich vermutlich heute tot.
Ich beginne zu zittern und habe ganz deutlich den Geschmack von Cognac auf der Zunge.
Ich sah wieder auf mein Handy und rief die Nachrichten auf. Ich öffnete den Chat mit Nick und scrollte einen Moment durch die Nachrichten. Ich hätte ihm unbedingt sagen sollen, dass ich in München war.
Vielleicht wäre dann...
Ich hätte ihm sagen sollen, dass ich mich mit von Söder treffen wollte.
Ich hätte...
Ich hielt bei den Gedanken inne und schluckte. Ich wurde panisch. Ich durfte jetzt auf gar keinen Fall panisch werden.
Ich starrte auf das Bild, das er mir heute geschickt hatte. Er war mit den Kollegen zum Einsatz in Mannheim gewesen. Irgendeine Demo, aber es lief offensichtlich entspannt ab. Auf dem Bild waren ein Weihnachtsmann, Nick und sein Kollege Robert und ein echtes Rentier. Er sah so entspannt aus. Ich frage mich, was er darüber denken würde, wenn er wissen würde, was ich an diesem Tag gemacht hatte. Dass ich in München gewesen war. Bei von Söder und mit ihm über all diese Dinge gesprochen hatte.
Mein Mund war ganz trocken. Wie damals in der Klinik. Als ob ich wieder voll im Entzug wäre. Es war dieses Gedankenspiel, dieses hätte, wäre, könnte, dass mich nervös mache und an den Alkohol denken ließ.
Der Tag war anstrengend gewesen, ich war müde und übernächtigt und ich musste dringend schlafen. Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht einschlafen. Meine Gedanken fuhren Karussell und ich schaffte es nicht sie abzustellen.
Tanah Lot war weit weg.
Ich hatte diesen Ausflug unterschätzt und auch, was das mit mir machen würd. Körperlich wie emotional.
Schweiß rann mir mittlerweile über die Stirn. Mein Shirt klebte feucht an meiner Haut und mein Puls raste. Wie im Entzug. Ich hatte das Gefühl, sofort etwas trinken zu müssen. Es nicht zu schaffen.
Und es nicht zu schaffen war keine Option.
Die Bilder waren einfach in mir drin.
Der Keller.
Dieses Büro vor Jahren.
Daniel.
Lüttkenhaus.
Der Typ.
Der Alkohol.
Meine Wolke.
Mit zittrigen Händen griff ich nach der Wasserflasche neben meinem Bett und trank einen Schluck. Es schmeckte abgestanden und ein Teil von mir wünschte sich schmerzlich etwas Stärkeres als Wasser. Wenn es sein musste auch Wodka. Ich lehnte mich gegen die die Wand und schloss die Augen. Ich hatte keine Chance. In der Dunkelheit sah ich die Schatten aus der Vergangenheit. Die Umrisse des Raumes im Keller. Roch den modrigen Geruch des Kellers, den Schimmel der Wände. Lüttkenhaus penetrantes Aftershave.
Mit einem Ruck stand ich auf. Es war dunkel in der Wohnung und ich war froh, dass Ida zu Hause war. War sie doch, oder? War sie hier? War sie bei Marco? Oder war sie da? Mein Herz schlug schneller. Panik machte sich breit.
Was sollte ich noch mal machen, wenn die Panik kam? Dr. Harris hatte es mir gesagt.
Ida hatte gesagt, sie würde hier sein. Aber es war so ruhig. Das Licht war aus. Sie hatte gesagt, sie würde es anlassen, sie hatte gesagt, dass -
Ich riss die Tür zu ihrem Zimmer auf und sah ihr gemachtes Bett. Sie war nicht da.
„Scheiße..." Ich bekam keine Luft.
Sie war nicht da. Sie war nicht da.
Bleib ruhig.
Bleib verdammt nochmal ruhig, Pi...
Ich sagte es mir wieder und wieder, aber ich schaffte es nicht. Ich spürte, wie mich die Panik überfiel. Ich bekam keine Luft. Das letzte Mal, als ich alleine in dieser verdammten Wohnung gewesen war hatte Tristan Lüttkenhaus mich... Scheiße.
Ich rang nach Luft. Lehnte mich gegen die Wand. Schaltete alle Lichter in der Wohnung ein. Holte Luft. Aber es half nicht.
Ich drehte durch.
Ich drehte einfach durch.
Ich musste hier raus.
...........
🙇♀️🤕
Da dreht glaube ich gerade eine durch...
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