Spukschloss: 26 ~ Nick

💡Könnte Trigger enthalten💡

Ich starrte sie an. Ich sah zwar, dass sie sprach, aber mein Gehirn bekam die Worte nur rudimentär verarbeitet. Sehr rudimentär. Ich verstand nicht, was sie da von Glück und Daniel von Söder und den Jungs aus ihrem Jahrgang erzählte. Von den Partys im Internat und dem ganzen Alkohol, den sie getrunken hatte um zu vergessen. Das heißt, ich verstand es schon, ich wollte es nur nicht verstehen. „Warte, warte", unterbrach ich sie. „Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst."

Ich sah sie an und hoffte inständig, dass sie die Worte nicht aussprechen würde. Dass sie etwas ganz anderes sagen würde.

„Daniel", wiederholte sie die Worte von eben und ihre blauen Augen glitzerten. „Er hat es gesehen."

Gesehen." Ich blinzelte. „Gesehen im Sinne von..."

Ich schloss die Augen und atmete mehrfach tief durch, als ob sie Anlauf holen würde. „Im Sinne von: er hat zufällig gesehen wie mich ein Geschäftsfreund meines Vaters vergewaltigt hat."


Die Worte knallten wie ein Peitschenhieb durch die Küche und danach war die Stille so ohrenbetäubend, dass ich das Gefühl hatte, dass ich sie nicht aushielt. „Was?", fragte ich leise und sah sie an. Alles in mir war taub. Sie hatte mir innerhalb der letzten fünfzehn Minuten gesagt, dass sie missbraucht worden war.

Zweimal.

Das konnte doch nicht wahr sein?
Sie?
Pi?

Ich starrte sie an und öffnete meinen Mund, unfähig, irgendetwas zu sagen, während jedes einzelne Mal, das wir Sex hatten, vor meinem inneren Auge ablief und ich mich fragte, ob ich sie jemals zu irgendetwas gezwungen hatte.

Ob sie sich von mir jemals zu etwas gezwungen gefühlt hatte oder ob sie ---

Fuck.

Ich konnte mir das nicht vorstellen. Sie hatte nie... nie auf mich gewirkt, als ob sie diese Dinge nicht gern...
Der Gedanke fühlte sich falsch an, aber er war in meinem Kopf, genau wie tausend andere.

Wann.
Wer.
Vor allem wer.

Ich starrte sie noch immer an und versuchte zu fassen, was sie da gesagt hatte.

„Ein Geschäftsfreund deines Vaters?" Fassungslos brachen die Worte aus mir heraus.

Pi hatte mittlerweile auch das zweite Knie angezogen und beide Arme darum geschlungen. Ihr Kinn hatte sie auf ihr linkes Knie gelegt und ihre Augen beobachten mich scheu.

„Ich war fünfzehn", sagte sie stumpf, „Meine Eltern hatten mich und Maja mit auf dieseWeihnachtpParty geschleift und er war... der Gastgeber. Ich kannte ihn von anderen Feiern und... er war... charmant. Nett, zuvorkommend. Schön", sagte sie abfällig, „Er war immer nett zu mir... und... es war eine... coole Party." Sie sah mich an und schluckte. „Er hat gesehen, dass Daniel...", sie stockte, "mich geküsst hat. Das hat ihm nicht gepasst. Er hat gesagt, Daniel wäre noch gar kein Mann und ich sei nicht gut genug für ihn. Und dann hat er mich geküsst. Ich wollte das nicht. Aber richtig wehren... konnte ich mich auch nicht. Er war... viel größer und schwerer und... er... wurde", ihr schien das richtige Wort zu fehlen, "zudringlich..." Sie schloss die Augen und sah unter sich. „Es war... nicht schön... Ich hatte von Anfang an kein Glück, Nick..."

Betreten sah ich sie an und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, aber ihre ganze Körperhaltung war so auf Ablehnung aus, dass ich mir sicher war, dass sie hysterisch werden würde, also ließ ich das.

Sie fuhr mit brüchiger Stimme fort. „Daniel hatte etwas vergessen und kam zurück und... Ich hab gesehen, dass... er... und... Er hat es gesehen... aus Versehen..."

Sie brach ab und sah schweigend auf ihr Knie. „Ich weiß nicht, ob kurz oder lang, aber er... Er konnte nichts machen, es war schon... vorbei..." Sie bohrte ihre Zähne in ihr rechtes Knie und schwieg wieder. „Es war da schon zu spät... Aber er... war danach... da... Wir saßen einen Moment schweigend zusammen und danach war diese Sache nie wieder ein Thema. Er wusste es und..." Pi hörte auf zu sprechen und sah unter sich.

Ich hatte keine Worte mehr. 

Nach einer Ewigkeit fragte ich: „Hast du es deinen Eltern gesagt?"

„Was denkst du denn?", flüsterte sie.

Natürlich nicht. Ich schluckte. „Pi..."

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe..." Sie brach ab und dachte nach. „Ich habe... mich auf andere Dinge konzentriert. Die Schule... Auf Carrie. Ich war viel auf Turnier... auf den Turnierpartys... hab ich... gefeiert... das half. Das hat damals gut funktioniert." Sie schluckte. „Und dann... immer wenn ich ihn sah... hab ich getrunken...und dann, irgendwann..."

Sie musste nicht weiter sprechen. Ich wusste, was dann irgendwann passiert war. Sie hatte ein Ventil gefunden. Sie hatte angefangen zu trinken. Und zu feiern. Und vor allem hatte sie sich nie auf eine Beziehung eingelassen. Nie. Sie hatte betrunken mit irgendwelchen Typen rumgemacht oder irgendwelche oberflächlichen Techtelmechtel. Das hatte sie mir damals gesagt. Sie hatte nie ein richtiges Date gehabt.

„Ich habe kein Glück.", sagte sie wieder. „Ich nehme alles mit an Pech, was ich mitnehmen kann..."

Ich schluckte und spürte, wie mein Kopf sich drehte. „Hast du..." Ich rang nach Luft. „Hast du im Entzug darüber gesprochen? Über diese Sache?"

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe es niemandem erzählt", flüsterte sie. „Du weißt es. Du und Daniel..."

Ich stand auf und ging zum Kühlschrank. Ich brauchte etwas zu trinken, aber in dem Moment, als ich nach dem Gin greifen wollte, hielt ich inne. Das war keine gute Idee. Pi war trocken. Trocken gewesen. Bis gestern. Gestern war sie in München gewesen. In München bei Daniel von Söder. Fuck...

Das musste sie getriggert haben.

Ich hob den Kopf und hätte am liebsten laut aufgestöhnt. Man musste wirklich kein Polizist sein, um hier eins und eins zusammen zu zählen. Ich verstand sehr gut, warum Pi gestern Nacht betrunken bei mir geklingelt hatte. Warum das gestern offensichtlich alles zu viel geworden war. Ich wollte nicht wissen, wie groß ihr Verlangen nach Alkohol in diesem Augenblick war. Ich schloss die Kühlschranktür und lehnte meine Stirn gegen das graue Metall. Ich zitterte. Das konnte doch nicht sein... wie konnte jemandem so viel Mist passieren wie ihr? Reichte das nicht langsam?

Sie hätte mich mitnehmen sollen nach München.

Diese dumme Kuh.

Reiß dich zusammen.

Tief holte ich Luft und drehte mich zu ihr um. „Wie... kommst du damit klar?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich dachte immer, gut... Und dann kam die Entführung... und der Entzug... rückblickend wohl gar nicht. Nüchtern ist es viel schwerer." Ich sah, wie sie ihre Fingernägel in ihren Handrücken krallte und dabei keine Miene verzog. Sie war nicht mehr nüchtern. Vermutlich kam ihr die Erkenntnis auch gerade selbst.

Ihre Haut löste sich, vermutlich tat es ihr weh, aber sie zuckte nicht mal mit der Wimper.

„Ja... glaub ich dir."

Sie sah mich an, als ob ich gar eine Ahnung hatte. Hatte ich sicherlich auch nicht.

„Kann ich irgendetwas tun?" Ich lehnte mich gegen die Arbeitsplatte und sah sie an. Ich wollte wirklich etwas tun. Ihr helfen, sie unterstützen. Da sein, sie auffangen, sie gestern Nacht.

Ihr fucking Superheld sein.
Whatever it takes.

Sie hörte auf, ihre Nägel in ihre Haut zu rammen und sah mich an. „Nicht ausflippen...", flüsterte sie. „Nick, ich hab noch so viel mehr Scheiße gebaut..." Pi wich alle Farbe aus dem Gesicht, während ihre Unterlippe unkontrolliert zu zittern begann.

„Dafür kannst du doch nichts...", gab ich leise zurück. Gegen das mulmige Gefühl in meiner Brust konnte ich allerdings nichts tun. Warum sollte ich nicht ausflippen? Was hatte sie für eine Scheiße gebaut? Das klang in meinen Ohren gar nicht gut. Ich atmete tief durch.

„Doch... dafür schon... Ich..." Das Zittern ihrer Unterlippe wurde heftiger. „Nach der Entführung... als ich in Düsseldorf war... da ging es mir nicht gut. Ich war sauer und... wütend auf meine Eltern und auf dich und... das ist keine Entschuldigung..." Ich sah zu, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Sie sollte nicht weiter reden.

Ich spürte, wie das Rauschen in meinem Ohr zurückkam, weil ich wusste, was sie als nächstes sagen würde.

„Ich habe getrunken... ich war... nicht ich... ich war..." Ihre Stimme brach weg und ich wünschte, sie würde nicht mehr ansetzen, weiter zu sprechen. Meine Augen begannen zu brennen, als ob jemand Salz hinein gestreut hätte.

„Ich habe richtig Mist gebaut...", sagte sie und suchte meinen Blick. Ich musste mich regelrecht zwingen, ihr in die Augen zu sehen. Das waren zu viele Geständnisse an diesem Morgen. Viel zu viele. „Ich war nicht ich. Das musst du mir mir glauben. Ich hab Dinge kompensiert mit Alkohol und gedacht, dass... Es tut mir leid..."

„Du bist fremd gegangen."

Sie schwieg, aber dann löste sich ein einzelnes Nicken.

Das Rauschen in meinem Kopf wurde lauter und lauter. Ich kannte die Anzeichen, das Gefühl, genau. Aber es war Monate her, dass ich es zuletzt gehabt hatte.

Fuck.

Ich schloss die Augen. Durch das pulsierende Rauschen hörte ich dumpf, dass sie noch etwas sagte, wieder und wieder. Dann sagte ich etwas, aber ich konnte nicht sagen, was. Das Rauschen wurde lauter und lauter, bis es zu einem Fiepen, einem lauten Pfeifen, wurde.

Geh."

„Was?"

„Geh, bitte." Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht ausrasten. Ich wollte nicht die Kontrolle verlieren und schon gar nicht wütend werden. Ich wollte Verständnis haben und um alles in der Welt der fucking Superheld bleiben, den sie brauchte. Sie hatte mir so viel Vertrauen entgegen gebracht und mir all diese schlimmen Dinge anvertraut. 

Ich wollte der Halt sein, den sie brauchte. Sie hatte einen Rückfall gehabt, aber sie hatte eben gerade auch gesagt, dass sie Sex mit einem anderen gehabt hatte, während wir in dieser Blase geschwebt waren.

Ich wollte. Aber das fiel mir gerade verdammt schwer.

Ich konnte die Augen nicht öffnen, aber ich hörte, dass sie die Arme löste und langsam vom Stuhl rutschte. „Nick... bitte, es tut mir so leid... es hat nichts bedeutet und --"

Ich ließ den Kopf sinken und nickte matt. „Ja... ich ruf dich an."

Ich öffnete die Augen erst, als ich hörte, dass sich die Wohnungstür schloss.

...........

💥💥💥

Ihr wolltet, dass sie spricht... Sie hat gesprochen.
War das zu viel Gerede von unserer Prinzessin?

Und war es richtig von ihm sie rauszuwerfen? 🤷‍♀️🙇‍♀️

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top