Russian Roulette: 32 ~ Pi

Ich lag lange wach, ohne dass sich der Schlaf einstellen wollte. Ich merkte erst, dass es ihm ebenso ging, als ich seine Stimme leise in der Dunkelheit hörte. „Weißt du... Mir fällt es einfach immer noch unheimlich schwer über ihren Tod zu sprechen. Es fühlt sich immer noch an, als ob ein Teil von mir fehlt." Er holte tief Luft. „Und das ist dir gegenüber nicht fair. Ich weiß nicht, wie ich dir klar machen soll, dass sie mir an manchen Tagen so sehr fehlt, dass ich sie in der alten Wohnung sehen konnte, ohne dass du das Gefühl hast, dass du mir weniger bedeutest..." Ich konnte spüren, wie er ausatmete und dann die Luft anhielt.

Das tat ich auch. Ich konnte nicht atmen. Ich hatte das Gefühl, dass ein dicker, rosafarbener Elefant mitten auf meinem Brustkorb sitzen würde. Dass er diesen Konflikt mit sich ausfocht, wusste ich. Wir hatten nie wirklich darüber gesprochen, aber mir war immer klar gewesen, dass Diana für ihn immer irgendwie präsent gewesen war. Aber er hatte mir nie, niemals, das Gefühl gegeben, weniger wert zu sein. „Gar nicht", flüsterte ich und meinte es auch so. Träge rollte ich mich auf den Bauch und schob ihm die Hand auf die Brust. „Das kannst du nicht und das musst du auch nicht." Ich legte mein Kinn auf seinem Brustkorb ab und sah ihn durch die Dunkelheit hindurch an. „Erinnerst du dich an deinen Unfall? Als du vom Fahrrad gefallen bist und unser Date verpasst hast?"

Das war ewig her. Er hatte mich versetzt und versprochen, mich anzurufen. Was er nicht getan hatte. Dann war ich irgendwann zu ihm gefahren und hatte ihn überrascht, wie er mit „Schatz" telefoniert hatte – mit Becky. Er hatte furchtbar ausgesehen: aufgeplatzte Lippe, verschrammtes Gesicht, Gehirnerschütterung.

Nick blinzelte träge, nickte jedoch nicht.

„Ich hab dir damals gesagt, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Diana ist deines. Du hast sie geliebt. Du musst das nicht rechtfertigen. Sie war ein fester Bestandteil deines Lebens. Es ist in Ordnung, wenn du an sie denkst, und dass du sie vermisst." Ich streckte die Hand aus und legte sie ihm sanft an die Wange. „Es ist allerdings nicht okay, wenn du davonläufst, und davon ausgehst, dass es leichter wird, wenn du Dinge aufgibst, die du liebst."

Er atmete aus. „Du meinst die Wohnung?"

„Ich meine deinen Job." Ich zog meine Hand zurück. „Bereust du es etwa, die Wohnung verkauft zu haben?"

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Auf gar keinen Fall. Ich hab die Wohnung geliebt, ja. Aber ich musste dort wirklich raus." Nick atmete tief ein. „Das mit dem Job... Ich weiß, dass das vorhin unvermittelt kam."

„Etwas, ja."

Er schwieg einen Moment, bevor er sagte: „Sie war meine Kollegin. Am Ende waren wir in verschiedenen Einheiten eingesetzt, aber auf dem gleichen Stützpunkt. Wir haben uns jeden Tag gesehen. Unsere Dienstpläne haben sich oft überschnitten. Nicht selten waren wir auf dem gleichen Einsatz unterwegs. Bei Fußballspielen und so. Der Spint neben meinem ist heute noch immer leer. Sie haben ihn nicht neu vergeben, weil..." Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich habe es am Anfang nicht zugelassen. Ich bin ausgerastet, als-"

„Nick..."

„Nein, lass." Er schloss die Augen und legte eine Hand auf meine. „Ich hab nicht nur bei einem Einsatz Mist gebaut. Ich bin unkonzentriert. Ich bin reizbar. Schnell aus der Fassung zu bringen. Dieser Einsatz bei der Drogenrazzia damals... Ich habe Rot gesehen und mich triggern lassen. Wegen Di und dir." Er holte Luft. „Es hat mit dem Umfeld dort zu tun. Mit der PTBS. Ich habe lange mit der Therapeutin und dem Polizeipsychologen darüber gesprochen und es ist vermutlich das Beste, wenn ich rausgehe."

Ich musterte ihn schweigend und unterdrückte den ersten Impuls, meine Gedanken auszusprechen. Aber nicht mit mir. Er hatte nie mit mir darüber gesprochen. Nie so. Er hatte nie so offene, ehrliche Worte für das gefunden, was wirklich in ihm vorging. Erst jetzt. Sicher, er hatte es angedeutet, aber das war nicht das gleiche.

„Innendienst wäre auch eine Alternative", setzte er noch hinterher und ließ mich völlig ratlos zurück.

„Aber das bist doch nicht du", begann ich dann, nachdem ich mich ein wenig sortiert hatte.

Er schluckte. „Wenn die Sache mit der Versetzung zur Kripo auf Grund der Aktenlage nicht klappt - und sein wir mal ehrlich: Ich habe vielleicht den Laufbahnvorteil, bin aber psychisch nicht gerade der Wunschkandidat – dann ist das derzeit die Alternative."

„Ehrlich? Akten sortieren?"

Nick zuckte mit den Schultern. „Ich brauch 'ne Option. Eine Alternative. Sonst-"

„Sonst?"

Er schloss die Augen und ich spürte, wie seine Hand über mein Schulterblatt in meinen Nacken wanderte. „Ich hab einfach das Gefühl, dass mir irgendwann im Stress alles auf den Kopf fällt."

„Aber das kann dir bei der Kripo auch passieren." Ich lehnte mich gegen ihn und lauschte der Stille, die sich zwischen uns senkte. Ich war selbst Zeugin geworden, wie eng Kripo, SEK und BFE miteinander zusammenarbeiteten. Ich war von den hessischen Einsatzkräften aus dem Keller herausgeholt worden, Bernicke und ihr Partner Faller waren vor Ort gewesen, ebenso Nicks Freund und Vorgesetzter Max Schrader. „Du kannst auch da in Einsätze geraten, die dich in Stress versetzen, an Diana erinnern und triggern." Ich muss schlucken. „Stell dir vor, du ermittelst in einer Geiselnahme, wie damals, als Diana starb?" Ich sah ihn fest an und spürte, wie mir kalt und übel wurde. „Oder in einer Entführungsgeschichte? Das wird dich immer wieder an das erinnern, was mir passiert ist."

Nick antwortete nicht darauf. Sein Schweigen war beharrlich und reserviert und ich war mir unsicher, ob ich ihn damit verletzt hatte. Aber es war so, wie ich gesagt hatte: Er konnte jederzeit in neue Situationen geraten, die ihn an diese schlimmen Situationen erinnerten.

Genauso, wie mich Lüttkenhaus triggern würde. Wie mich der Prozess triggern würde. Oder eine Flasche Chardonnay.

„Also doch Innendienst als Alternative", sagte er und der bittere Unterton war jetzt aus seiner Stimme deutlich heraus zu hören.

Ich reckte mich ein wenig und legte meine Lippen sanft auf seine. Ich spürte, dass die Stimmung zu kippen drohte. „Du könntest kündigen. Etwas ganz anderes machen." Ich löste mich von ihm und lächelte. „Privatdetektiv, zum Beispiel. Das wäre heiß." Ich wackelte mit den Augenbrauen. „Oder du arbeitest als Personal-Trainer – für mich, damit ich meinen Hintern wieder in Topform bekomme."

„Pi..." Er rang sich ein gequältes Lächeln ab und ließ seinen Kopf schwerfällig nach hinten ins Kissen sinken.

„Du könntest Lehramt studieren."

Lehramt. Klar."

Grundschullehramt." Ich grinste. „Du kannst super mit Kindern. Und denk mal an die ganzen Ferien! Was du verreisen könntest!"

Er stöhnte leise, aber der ernste Unterton verschwand daraus. „Und das bringt mir was genau, wenn du später nur sechs Wochen Urlaub im Jahr hast?"

„Ach, das ist nicht so schlimm. Ich bin reich." Theoretisch zumindest. Ich hatte mich mit meinen Eltern immerhin komplett überworfen.

Nick lachte dunkel. „Klar... verstehe. Und du übernimmst dann auch die Finanzierung der Hütte hier?"

„Nee, wir machen 'ne WG. Wir besorgen uns einfach noch ein paar Mitbewohner, die die Raten zahlen. Du siehst, ich habe an alles gedacht."

Er seufzte schwer und ließ seine Hand unter der Bettdecke meinen Rücken hinunter wandern. Er zupfte am Saum meines T-Shirts, schlüpfte vorsichtig darunter und streichelte dann träge meinen unteren Rücken. „Ja... nur wird es mit ein paar Mitbewohnern schwieriger, immer und überall in der ganzen Wohnung Sex zu haben."

Mir klappten die Augen zu und ich legte meinen Kopf nun ganz auf seiner Brust ab. Ich mochte es, wenn er das tat. Er kraulte weiter meinen Rücken. „Mh... nicht schlimm... der Sex mit uns ist doch eh nur durchschnittlich..." Ich unterdrückte ein Gähnen und hörte ihn leise glucksen, während seine Hand langsam tiefer über die Rundung meines Hinterns wanderte. „Ja. Klar." Er ließ den Bund meines Slips einmal auf meine Haut zurückschnellen.

„Hey!"

Er zwinkerte mir zu.

„Frechheit."

„Selber frech." Er strich mir seufzend eine Strähne aus dem Gesicht und zog seine Hand dann von meinem Hintern zurück. „Ich weiß, dass ich früher mit dir darüber hätte sprechen müssen." Er schluckte kurz, aber heftig. „Aber ich wusste nicht, wie. Du hattest so viel selbst um die Ohren mit dem Prozess, deinen Eltern, dem Entzug... ich wollte nicht-"

„Nick." Ich richtete mich auf, kletterte rittlings auf ihn und brachte ihn mit einem sehr tiefen Kuss zum Schweigen. Sofort öffnete er den Mund und ließ zu, dass der Kuss noch leidenschaftlicher wurde, als ich es beabsichtigt hatte. „So langsam glaube ich, dass nicht ich die Dating-Queen in dieser Beziehung bin...", murmelte ich und brach den Kuss ab. „So funktioniert das doch nicht. Du kannst diese Dinge nicht endlos mit dir alleine ausfechten, weißt du?"

„Weiß ich." Seine Hände legten sich warm und fest auf meine Oberschenkel.

„Diana. Dein Job. Die Therapie. Du kannst da mit mir drüber sprechen. Ich bin zwar ziemlich kaputt, aber ich glaube, so macht man das in Beziehungen. Man redet. Miteinander." Ich beugte mich noch einmal vor und küsste ihn, viel sanfter diesmal. „Okay?"

Er nickte langsam. „Okay."

„Ich liebe dich", sagte ich fest und ließ mich der Länge nach auf ihn sinken. Sein Körper strahlte so viel Wärme und Geborgenheit aus, dass das beklemmende Gefühl von vorhin vollständig in den Hintergrund trat. Das hier fühlte sich so viel besser an, als die kalte Lücke, die vorhin zwischen uns geklafft hatte.

„Danke...", flüsterte er. „Für das, was du gesagt hast."

„Für das Ich liebe dich?"

Nick drückte mir stumm einen Kuss aufs Haar. Wir wussten beide, was er meinte. Dann schob er mich sanft von sich runter, rollte mich auf die Seite und schlang mir von hinten den Arm über den Bauch. Er drückte mir einen Kuss in den Nacken und atmete tief ein. „Wir sollten schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag..."

Stumm nickte ich und schloss die Augen. An meinem Rücken spürte ich jeden einzelnen seiner Atemzüge und irgendwann ganz leise, kurz bevor ich einschlief. „Ich liebe dich auch... mal 3000..."

Dieser verdammte Avenger.

Ich atmete tief ein und griff nach seiner Hand. Das wird schon wieder, hatte er vorhin versprochen. Und jetzt hatte ich zum allerersten Mal auch das Gefühl, dass er eventuell recht behalten könnte. 

........................

Hach...
Sie haben doch tatsächlich mal miteinander gesprochen. Ich bin ziemlich stolz auf mich und sehe das als Durchbruch an.

Mich würde mal interessieren: was seht ihr für Nicki als Alternative,  wenn es mit der Kripo nicht klappt- und sein wir mal ehrlich: Er ist wirklich nicht der Wunschkandidat, abgesehen vielleicht von Bernicke.

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