Russian Roulette: 32 ~ Pi
Als ich aus der Dusche stieg, stellte Nick gerade das Nudelwasser auf und deckte den Tisch - für vier. Ich blieb reglos vor dem Holztisch stehen und überlegte, ob ich eine Verabredung vergessen hatte.
„Becky kommt vorbei", sagte er und sein Blick glitt an mir hinab. „Ist das okay?"
„Klar." Wobei mir nach dem Nachmittag auch ein Abend auf der Couch recht gewesen wäre. Auf der anderen Seite... bei der brodelnden Wut in mir, bei den Gedanken an die Durst und die Angst, tat mir Ablenkung sicherlich gut.
„Geht's dir besser?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin kein Panda mehr."
Nick legte abwägend den Kopf schräg. „Ja, das ist kaum zu übersehen..." Sein Lächeln ruhte entspannt auf mir, sein Blick jedoch war noch immer voller Sorge. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Er setzte gerade an, noch etwas zu sagen, entschied sich dann jedoch dagegen, streckte die Hand aus und zog mich in eine feste Umarmung. Er schloss fest beide Arme um mich und gab mir gar keine Chance, dagegen anzukämpfen – was ich auch gar nicht gewollt hätte. Ich spürte, wie er tief einatmete, und dann schwer sein Kinn auf meinen Kopf sinken ließ. „Das wird schon alles...", flüsterte er.
Ich wollte ihm das so gerne glauben.
Ich wollte so gerne glauben, dass dieser Prozess einfach vorbeigehen würde und danach alles wieder gut sein würde. Dass ich wieder ganz sein würde. Dass der Durst aufhören, die Träume, die Angst. Dass sich das Verhältnis zu meinen Eltern wieder normalisieren würde.
Zittrig atmete ich aus und ließ mich schwerfällig gegen Nick sinken, als sei ich ein Bauwerk, das seine komplette Statik verloren hatte. „Ich hoffe es."
Vorsichtig drückte er mir einen Kuss auf die Stirn. „Hoffnung ist gut, Pi. Aber ich weiß es. Es wird wieder gut."
„Woher?" Ich hob vorsichtig den Kopf an und sah ihn an. „Woher weißt du das?"
Ich sah zu, wie Nick sich mechanisch an die alte Verletzung griff. Ich war mir nicht mal sicher, ob er es bemerkte. Dann sagte er: „Erfahrungswerte." Er lächelte, matter diesmal zuvor, aber nicht weniger ehrlich. „Du überstehst das."
Ich setzte an, noch etwas zu antworten, doch in diesem Moment durchschnitt das schrille Läuten der Türklingel die Stille. Was blieb, war das laute Pochen meines Herzschlags und das Blubbern der Nudelsauce auf dem Herd.
Ich war mir nicht sicher, ob ich das überstehen würde. So, wie ich mich nach dem Gespräch mit meiner Anwältin gefühlt hatte, hatte ich nicht gerade das Gefühl, dass ich das so einfach würde überstehen können. Dieser Nervenzusammenbruch sirrte noch immer in mir nach.
Es klingelte erneut und erst jetzt machte Nick Anstalten, sich zu rühren. „Ich mach dann mal auf..."
Ich holte tief Luft und nickte langsam. Ich wollte das nicht. Ich wollte ins Bett. Ich war müde und erschöpft, ich hatte nicht die Nerven, mich mit Becky gut gelaunt über ihre Schwangerschaft zu unterhalten.
Aber als die Tür aufging und Becky hineinkam, war sie weder strahlend noch gut gelaunt. Auf ihrer Stirn war eine tiefe Sorgenfalte eingeprägt und ihr Blick fand meinen sofort. Sie begrüßte Nick mit einer kurzen Umarmung und ließ dann Tom hinter sich herein, der ihn kurz auf die Schulter klopfte.
„Sophie", Becky umarmte nun mich, deutlich länger und fester als ihren Bruder. Sicher war mir anzusehen, wie mies es mir ging – wenn er es ihr nicht vorab schon am Telefon gesagt hatte.
„Hi", gab ich gedehnt zurück und erwiderte die Umarmung ungelenk und steif. „Wie geht es dir?" Mein Blick glitt an ihr hinab zur Rundung ihres Bauchs, der sich mittlerweile deutlich unter ihrem Strickkleid abzeichnet.
„Ja, prima." Becky sah zu Nick und Tom, die gerade die Jacken an die Haken der Garderobe hängten. „Alles gut mir und dem tretenden Parasiten." Dann nahm sie mich bestimmt beim Ellbogen und platzierte mich am Esstisch. „Und bei dir? Nicki meinte, du hättest einen furchtbaren Tag gehabt?"
„Rebecca!" Nick stöhnte gequält auf. „Kannst du nicht einmal- Musst du immer so-"
„Was er sagen will ist: Musst du immer mit der Tür ins Haus fallen, Weib?" Tom ging an uns vorbei zum Kühlschrank und zog nach kurzer Inspektion eine Flasche Cola und eine Flasche Bitter Lemon heraus.
„Sollen wir hier lieber lange herumeiern statt auf den Punkt zu kommen?", fragte Becky bissig zurück.
„Vielleicht möchte sie einfach nicht darüber sprechen?", gab Tom genervt zurück und stellte die Flaschen geräuschvoll auf dem Tisch und formte stumm die Worte „Es tut mir leid".
Ich sah kurz zu Nick und registrierte, wie der die beiden misstrauisch beäugte. „Ist bei euch beiden alles in Ordnung?", fragte er dann.
„Ja!", fauchte seine Schwester und ihre roten Haare flogen ihr wild um den Kopf, während Tom bloß die Augen rollte. „Hormone", seufzte er schwer.
„Ich habe keine Hormone!", zischte Becky.
Tom schloss die Augen und zählte lautlos bis zehn, bevor er mich ansah und eine weitere Antwort hinunterschluckte. „Bevor das eskaliert... Du sahst wirklich schon besser aus." Er öffnete die Flasche Bitter Lemon und schenkte sich ein Glas ein, bevor er die Cola öffnete und Becky einschenkte. Ich murmelte etwas unter mich und hielt die Luft an. Ich wollte sauer auf Nick sein. Wirklich. Er hatte kein Recht dazu, die beiden herzurufen und ihnen zu erzählen, dass es mir mies ging und auch nicht, warum es mir mies ging, denn auch das hatte er offensichtlich getan. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Nick nach dem Essen schaute, und sich dann einen Stuhl heranzog. Er hat das nicht böse gemeint, mahnte ich mich. Er machte sich Sorgen. Er wollte nur, dass-
„Ich weiß." Ich zuckte mit den Schultern und strich mir eine Strähne hinters Ohr. „Ich hatte..." Hol Luft, sprech es einfach aus. „Einfach einen Scheißtag."
Tom wechselte einen Blick mit Nick. „Hm, ja. Nick hat sowas angedeutet. Du warst bei deiner Anwältin, oder? Miese Neuigkeiten?" Er trank von seinem Bitter Lemon ab und ich war mir ziemlich sicher, dass er am liebsten einen Gin Tonic in der Hand gehalten hätte.
Ich nickte lahm. „Ja, so kann man das sagen."
Unter die eintretend, unangenehme Stille mischte sich ein tiefes, dunkles Knurren, das eindeutig aus Beckys Richtung kam. Tom sah zu Nick. „Hast du nicht irgendwas von Pasta gesagt, du verlogener Schwager? Deine Schwester verhungert gleich."
„Ich verhungere gar nicht."
„Nein. Du bist nur launisch wegen der Hormone." Tom zwinkerte ihr zu und Becky verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ich esse immerhin für zwei."
Nick sah zum Herd und stand schwer seufzend auf. „Kommt sofort. Ich will ja nicht als Lügner gelten oder für eure Streitigkeiten verantwortlich sein."
„Wir streiten nicht!", giftete Becky, sah ihm aber nach wie eine hungrige Katze, der man mit einem Stück Fisch vor der Nase herumwedelte, während Nick zum Herd ging und die Sauce ein letztes Mal abschmeckte.
Ich spürte immer noch Toms Blick auf mir und wandte dann schließlich meinen Blick von Nick ab und sah ihn an.
„Du weißt, ich mache das auch, oder?", sagte Tom dann und lehnte sich zurück.
„Was genau? Pasta essen?", fragte ich, obwohl mir genau klar war, was Tom mir sagen wollte. Er war Anwalt.
„Nein. Strafrecht." Er stand auf und nahm Nick wie selbstverständlich die abgeschütteten Nudeln ab, die er dann in der großen Schüssel auf den Tisch stellte. Dann holte er noch den Parmesan und die Käsereibe und begann in alle Ruhe, Käse abzureiben, während Nick die Sauce vom Herd nahm und auf dem Untersetzer platzierte.
Ich beobachtete Tom die ganze Zeit und versuchte, das sacken zu lassen. Ich wusste, was er beruflich machte. Aber ich hatte es nie richtig realisiert. Sein privater Look täuschte darüber hinweg: die bunten T-Shirts, der unverhohlene Hang, Blödsinn zu machen. Seine Sammlung an Funko-Pop-Figuren bei ihm im Wohnzimmer und seine Obsession, Mario-Kart zu spielen. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass er meistens mit dem Skateboard unterwegs war.
Nichtsdestotrotz war er Anwalt für Strafrecht. Ich hatte diese Information bis eben nie richtig verarbeitet. „Meine Anwältin hatte nicht allzu gute Nachrichten, ja."
Tom griff nach der Nudelkelle und gab erst Becky, dann mir und zuletzt mir einen kräftigen Schlag Nudeln auf. „Welche?"
Ich schloss die Augen und holte tief Luft. „Er kommt vermutlich frei." Ich schluckte.
Tom hielt in der Bewegung inne und sah blitzschnell von mir zu Nick. „Verfahrensfehler?", frage er scharf. Nick schüttelte angespannt den Kopf.
„Sondern?"
Auch Becky machte noch keine Anstalten in die Nudeln zu stechen, obwohl ihr Magen mittlerweile lauthals rumorte.
„Antrag auf Schuldunfähigkeit", sagte ich leise und spürte den Durst brennend heiß in meiner Kehle.
Tom schöpfte sich mit ungerührter Miene die Nudelsauce auf den Teller und streute jede Menge frischen Parmesan darüber. „Auf welcher Grundlage?"
Ich überlegte, was Frau Schwarz gesagt hatte. Ich hatte ihr nicht richtig zugehört. Verdammt. „Ich weiß es nicht genau... ich... konnte nicht richtig zuhören, nachdem sie mir das gesagt hat." Ich starrte auf meinen Teller. „Lüttkenhaus stellt den Antrag, weil es wohl ein psychiatrisches Gutachten gibt. Sagt sie. Sie hat einen Paragraphen genannt."
Tom denkt noch nicht mal nach. „§20 StGb", er schiebt sich eine Gabel Nudeln in den Mund. Er sieht zu Nick und nickt anerkennend. „Lecker." Dann wiederholt er den Vorgang, bevor er in etwa das hinunterleiert, was Frau Schwarz mir vorhin auch schon gesagt hat. Es ist der Inhalt des Paragraphen.
„Der Paragraph zielt darauf ab, dass Menschen ohne Schuld handeln, wenn bei der Begehung der Tat krankhaften seelische Störung vorliegen. Entweder wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung. Man geht davon aus, dass das die Urteilsfähigkeit mindert, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." Er sieht mich dann an. „Iss deine Nudeln, Süße. Es wird kalt."
Mir ist der Appetit gehörig vergangen. Ich kann noch nicht mal probieren. Mir schnürt die blanke Panik förmlich den Hals und den Magen zu.
Tom blinzelt mich an. „Pi", sagt er entspannt und isst in aller Seelenruhe weiter. „Der kommt nicht frei."
Klirrend lasse ich die Gabel fallen. „Aber Frau Schwarz hat..." Ich weiß um ehrlich zu sein gar nicht, was Frau Schwarz danach noch alles gesagt hat. Ich habe nur noch vage Erinnerungen an das, was in der Kanzlei passiert ist, und gar keine mehr, wie ich nach Hause gekommen bin.
„Sophie", sagt Tom ruhig. „Wenn Lüttkenkaus ein psychiatrisches Gutachten nach §20 StGb vorlegt, wird das erstmal geprüft. Und wieder geprüft. Damit es vor Gericht wirklich Bestand hat. Weil das hat wirklich Auswirkungen auf den Verfahrensverlauf." Er lächelte mich offen an. „Das, was Lüttkenhaus gemacht hat, ist so ein erheblicher Tatbestand, der hat keine Chance. Egal, was bei der Begutachtung herauskommt."
Ich schluckte und spürte Nicks Blick auf mir. „Wie meinst du das?"
Tom griff erneut nach dem Parmesan. „Gott, ich liebe Käse..." Er streute großzügig den Käse über die Nudeln, bevor er mir antwortete. „Variante 1: das Gutachten geht nach §20 StGB nicht durch, es folgt ein vollkommen normales Strafverfahren. Entführung, Freiheitsberaubung, schwere Körperverletzung. Ohne die genaue Aktenlage zu kennen, würde ich sagen, mindestens zehn Jahre ohne Bewährung, vermutlich eher mehr." Er sieht mich kurz an. „Davon bist du ausgegangen, oder?"
Ich nickte zaghaft.
„Variante 2: Verfahren nach §20 StGB. Egal, was passiert: Lüttkenhaus wird in diesem Verfahren nicht freikommen, Pi." Er nickte auf meine Pasta. „Iss... es wird kalt. Schuldunfähigkeit bedeutet nicht, dass er freigesprochen wird im Sinne von er verlässt das Gerichtsgebäudeals freier Mann. In dem Fall wird das Gericht nach §63 StGB eine Unterbringung anordnen – und zwar nicht in einer Jugendherberge."
Nick musste lachen und auch in Beckys Gesicht zuckte es. Ich sah Tom nur regungslos. „Das heißt?"
„Der Junge hat ein psychiatrisches Gutachten angeschleppt und behauptet, er ist psychisch krank. Dann wird man ihn entsprechend unterbringen. Er glaubt vermutlich, das ist besser als der Knast. Ist es vermutlich auch." Er zuckte mit den Schultern. „Iss", sagte er nachdrücklich. „Egal, was passiert, Lüttkenhaus wird entweder – sollte er wirklich für schuldunfähig erklärt werden – über §63 StGB, wenn du es so willst, platt ausgedrückt in Sicherheitsverwahrung gebracht werden oder ordentlich zu einer Haftstrafe verurteilt werden."
„Bist du dir da sicher?", fragte ich hohl und sah Tom flehentlich an.
Tom sah mir fest in die Augen. „Einhundert Prozent." Er blinzelte ruhig. „Und jetzt iss bitte endlich deine Nudeln, ja? Das macht mich ganz nervös."
Ich atmete durch. „Okay..." So entspannt, wie Tom mich ansah, vermittelte er mir tatsächlich die Ruhe und Gelassenheit, die ich in dieser Situation so dringend brauchte. Ich nahm meine Gabel in die Hand und piekste mir ein paar Kohlenhydrate auf. Die Nudeln waren schon lange nicht mehr heiß, die Sauce war aber super lecker. Während ich kaute und mühsam schluckte, ließ ich Toms Worte sacken und versuchte mich daran zu erinnern, was Frau Schwarz mir zu der Verhandlung noch gesagt hatte. Hatte sie mir das gleiche gesagt, wie Tom eben? Ich wusste es nicht mehr. Ich hatte keinerlei Erinnerungen mehr an das Gespräch. Ich hatte nur noch meinen Pulsschlag im Ohr gehabt, die aufsteigende Blindheit.
Ich kaute. Schluckte. Trank von meiner Cola. Wünschte mir, es sei Rotwein.
Ich war dankbar, dass die beiden hier waren. Dass Nick hier war. Und dass der Abend nach dem Essen noch nicht vorbei war.
Heute, das wusste ich, war ich sehr nahe davor, rückfällig zu werden.
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