Russian Roulette: 32 ~ Pi

Frau Schwarz redete und redete weiter auf mich ein, doch ich konnte ihr nicht mehr zuhören. In meinen Ohren rauschte es, meine Kehle brannte vor Durst und in meinem Bauch waren Hunger und kalte Wut. Als sie nach einer halben Stunde endete, war alles, was von ihrem Monolog bei mir hängen geblieben war „Prüfung der Schuldfähigkeit", „garantierte psychiatrische Unterbringung" und immer wieder „Prüfung des Gutachtens". Frau Schwarz war aufgebracht, versuchte aber irgendwie, mich zu beruhigen, was ihr nur mäßig gelang. Ich hörte ihr nicht zu. Ich hörte nur das Rauschen, das intervallartig zu einem hochfrequenten Fiepen anschwoll, tinnitusgleich, dann wieder abebbte, solange, bis ich den Besprechungsraum verließ und vollkommen neben mir in meinen Seat stieg und zurück nach Hausse fuhr.

Zum Glück nach Hause fuhr.

Mein erster Impuls war, in die Altstadt zu fahren, in einer der Studentenkneipen zu versinken und dem Durst nachzugeben, das Gefühl zu betäuben, das in mir aufstieg. Hilflosigkeit.

Ich war davon ausgegangen, dass wir Lüttkenhaus mit dieser Klage so richtig an den Eiern hatten. Mindestens zehn Jahre Haft wollte die Staatsanwaltschaft fordern, Frau Schwarz ging noch weiter: fünfzehn.

Und nun... das.

Es fühlte sich an wie die Ice-Bucket-Challenge: wie ein übergestülpter Eiskübel. Wie böses Erwachen.

Aber ich fuhr nicht in die Altstadt.

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Als ich in der Tiefgarage stand, die Zündung ausschaltete, konnte ich nicht sagen, wie ich dorthin gekommen war. Der komplette Weg von Heidelberg nach Ladenburg fehlte komplett in meiner Erinnerung. Ich hätte nicht sagen können, ob ich über eine rote Ampel gefahren war oder wie der Verkehr war. Ich konnte noch nicht mal sagen, wo ich angehalten hatte und die Tüte Gummibärchen gekauft hatte, die auf dem Beifahrersitz lag.

Mein Herzschlag beschleunigte sich massiv und ich bekam Panik. Shit. Ich hatte einen kompletten Filmriss. Ich starrte die Tüte Gummibären an. Pärchen-Bärchen. Ich wusste wirklich nicht, wann ich angehalten hatte. Mein Portemonnaie lag auf dem Sitz, ebenso ein Kassenbon von Rewe. Rewe Ladenburg. 17 Uhr 32. Ich hatte keine Erinnerung daran.

Ich wusste es nicht mehr. Fuck.

Ich griff nach der Tüte Gummibärchen und riss sie angespannt auf. „Immerhin seid ihr keine Flasche Chardonnay", murmelte ich und kämpfte meine aufsteigende Hysterie hinunter. Dreh nicht durch, Sophie.

Aber wie sollte ich nicht durchdrehen?

Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich aus dem Wagen aussteigen konnte und ich den Weg durch das Treppenhaus hinauf in die Wohnung schaffte. Nick war bereits daheim und stand pfeifend in der Küche und kochte, als ich die Tür hinter mir schloss.

„Schatz, bist du das?", fragte er und grinste mich an. Die Floskel hatte sich in den letzten Wochen zwischen uns eingespielt und normalerweise antwortete ich irgendetwas Stepford-artiges darauf. Sowas wie „Ja, ich habe deine Pantoffeln aus Kaschmir aus der Reinigung geholt, mein Engel", aber heute fiel die Tür hinter mir ins Schloss und ich sank mit dem Rücken dagegen. Ich atmete ein, atmete aus.

Dann hörte ich: „Pi?" Geklapper aus der Küche. Schritte. Sein Körper schob sich in mein Sichtfeld. Blitzschnell wanderte sein Blick an mir hinab und verhakte sich dann mit meinem. Bohrte sich fragend in mir fest, als der Druck, die Panik, die Angst Oberhand gewann und ich es nicht mehr aushielt. „Was zum-", setzte er an, aber da sank ich die Tür hinab und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich klappte vollkommen zusammen.

„Scheiße, Pi..." Mit drei langen Schritten war er bei mir und ging vor mir in die Knie. „Was ist passiert?" Er legte mir die Hand an die Wange und hob sanft mein Gesicht an, während ich – hysterisch schluchzend – kein Wort herausbrachte und keine Luft bekam. Ich bekam keine Luft. „Bist du okay? Ist dir was passiert?" Sorgenfalten bildeten sich in seinem Gesicht, tiefe Sorgenfalten – und sein Tonfall wurde zunehmend schärfer und panischer.

Ich wollte ihm antworten. Wirklich. Doch ich bekam keinen Ton heraus. Ich brach immer weiter auseinander. Wie sollte das erst werden, wenn ich in diesem Prozess gefangen war? Wenn Lüttkenhaus nicht nur eine theoretische Konfrontation war, sondern Realität? Ich hielt ja allein diese Vorwarnung nicht aus, dass er diesen fucking Antrag stellen würde!

Das machte mich ja schon kaputt.

„Hey..." Nicks Hand schob sich warm in meinen Nacken. „Sophie... Du musst..." Atmen. Ich hörte nicht, wie er das Wort aussprach. Ich hörte Jans Stimme. Ich wusste, dass es Nicks warme, vertraute Hand in meinem Nacken war, doch ich spürte Jans kalte Hand auf meinem blutdurchtränkten Knie. Das Rauschen in meinen Ohren war das Gleiche. 

Seine Hand wanderte mit festem Druck aus meinem Nacken zwischen meine Schulterblätter und blieb dort liegen. „Gegen meine Hand." Ein und aus. Bis ich wieder zum Atmen kam. Was dauerte. Ewig lang. Weil alles in diesem Moment hochkam. Carries Tod, die Zeit im Internat, der Missbrauch. Die Zeit mit von Söder, die Streits. Jana, ihre Ausraster, die bruchstückhaften Erinnerungen an die Nacht mit Mo, die mittlerweile so klar in meinem Kopf brannten wie Kristall in der Mittagssonne gegen Pergamentpapier.

Mein Marmeladenglas, Mos Freundschaftsband.

Das Klingeln an der Tür.

Die Dunkelheit.

Und dann die Alpträume.

Der Hass in seinen Augen. Der Hunger. Der Durst. Die Schmerzen.

„Sophie, konzentrieren sie sich auf fünf Dinge, die sie sehen können." Die Stimme von Dr. Harris drang dumpf, ganz leise, in mein Bewusstsein ein. Fünf Dinge... Verschwommen. Vor lauter Tränen, sah ich nur verschwommen. Hektisch wischte ich mir über die Augen und starrte auf meine Hand.

Nummer 1: Schwarze Schlieren von meiner Mascara.

Mein Blick huschte zur Seite, traf auf den Riss in Nicks Jeans.

Nummer 2: die weichen, weißen Fäden, die sich gelöst hatten.

Nummer 3: das Steinchen auf dem Parkett neben Nicks Laufschuhen.

Und dann, endlich, erreichte ein vollständiger Atemzug meine Lungen. Ich atmete ein, spürte, wie sich mein Brustkorb hob, seine Hand mitnahm, sich wieder senkte.

Nummer 4: Nicks linke Hand auf meinem Knie, vor allem die eingerissene Nagelhaut an seinem Zeigefinger.

Ich atmete erneut ein, diesmal fiel es mir noch ein wenig leichter.

Nummer 5: die winzige, verblasste Narbe, die sich über seinen Handrücken zog. Ein tiefer Kratzer als Kind.

Dann, hatte Dr. Harris gesagt, sollte ich mich auf fünf Dinge konzentrieren, die ich hören konnte.

Das war plötzlich ganz leicht. Nick. Er, der mit leiser Stimme leise und beruhigend auf mich einsprach.

Das Geräusch, das seine Hand auf dem Stoff meiner Jacke machte.

Das Blubbern des Topfes aus der Küche.

Meine eigenen Schluchzer.

Seine regelmäßigen Atemzüge.

Der Doc hatte gemeint, ich sollte die Schritte wiederholen, die Dinge dabei reduzieren, bis die Panik nachließ, ich wieder klar sah und die Anspannung nachließ. Ich hob den Kopf, lehnte ihn schwer gegen die Wohnungstür und ließ meinen tränenschweren Blick schweifen. Nahm mehr und mehr Ding um mich herum war. Die Garderobe, unsere Schuhe darunter, den Läufer im Flur, das Schlüsselloch zur Gästetoilette. Hörte den Regen, den Bus, der durch eine Pfütze fuhr. Meine Haare, die sich an der Tür elektrostatisch aufluden. Das Quietschen meiner Schuhe auf dem Boden, als ich meine Beine ausstreckte.

Dann atmete ich aus. „Fuck,ey...", murmelte ich und sah ihn an. Sah ihm direkt in die Augen, in diese hellen, karibikblauen Augen, in denen jetzt so viele Fragen standen.

„Was-"

„Ich brauch einen Schnaps", flüsterte ich.

Was?", entgeistert starrte Nick mich an und ich schloss die Augen. Ich konnte nicht fassen, dass ich die Worte laut ausgebrochen hatte. Ich hatte das nicht sagen wollen.

„Er stellt einen Antrag auf verminderte Schuldfähigkeit nach § irgendwas StGb."

Nick klappte der Mund auf. „Er macht – was?"

Ich atmete aus. Ging drei Dinge durch, die ich sehen konnte. Atmete ein, aus. „Schwarz hat es mir eben erzählt. Sie wollte mich... vorbereiten. Sie denkt, es sei besser, als mich ins offene Messer laufen zu lassen. Aber, Fuck! Dieses Arschloch!!!"

Nick sank in den Schneidersitz zu mir auf den Boden und schloss seinen Mund langsam wieder. „Hat sie dir erklärt, was das für das Verfahren bedeutet?" Er fuhr sich wie vor den Kopf gestoßen über das Kinn und blies dann die Luft aus.

„Nein."

„Was?" Seine Augenbrauen schnellten nach oben. „Das ist ihr verdammter Job?!"

Ich streckte meine Beine lang aus und starrte auf die Spitze meiner Schuhe. „Sie hat geredet. Aber ich hab es nicht gehört. Ich hab kein Wort mehr verstanden, außer, dass dieser Arsch darauf plädieren wird, dass er verfickt noch mal nicht schuldfähig ist! Nick, das ist ein perverses, sadistisches Schwein!" Unverhohlen boxte mir meine Wut in den Bauch, schlug mir ins Gesicht und ich erschrak darüber. Ernsthaft. Die Wucht, mit der die Wut mich umriss, lähmte mich und brachte Nick dazu, mich reglos und stumm anzusehen.

„Du hast ihr nicht mehr zugehört?"

„Ich hab ihr zugehört. Aber nichts gehört. Es..." Ich schluckte. „Es hat gerauscht. Und... gefiept."

Nick blinzelte verständnislos. „Okay..."

„Nick... ich bin heimgefahren... und weiß nicht, wo ich langefahren bin..." Ich schluckte. „Ich stand... neben mir. Ich war bei Rewe... habe Gummibären gekauft." Wieder traten mir die Tränen in die Augen. „Und ich weiß nichts mehr davon. Ich kann mich an nichts mehr davon erinnern."

Er sah mich noch immer an, bis er langsam nickte und ausatmete. „Das ist... nicht gut."

„Nein." Ganz und gar nicht. Ich drehte durch.

Meine Unterlippe begann, unkontrolliert zu zittern. „Ich hab Schiss, Nick... richtig Schiss..." Vor dem, was passiert war, vor dem, was passieren würde.

„Ich kenne das Pfeifen", sagte er dann leise und griff sich an sein Ohr. „Und ich kenne das Rauschen... durch die PTBS." Er legte mir vorsichtig die Hand aus den Oberschenkel. „Du stehst jetzt auf und stellst dich unter die Dusche. Und ich telefoniere, okay?"

„Warum?"

„Weil ich es sage." Er lächelte vorsichtig. „Du siehst aus, wie ein Panda. Dir wird es nach der Dusche besser gehen.

„Warum du telefonierst."

Er hockte sich auf die Fersen und reichte mir lächelnd die Hand. „Sag ich dir, wenn du nicht mehr wie Kung Fu Panda aussiehst."

Ich schloss die Augen, bevor ich nach seiner Hand griff und mich schwerfällig von ihm auf die Füße ziehen ließ. „Ich liebe dich, Nick." Weil er das tat: mich hinstellte. Mich wieder hören ließ.  Mich Luft holen ließ.

Nicks Blick wanderte über mein verheultes, verquollenes Gesicht. Vorsichtig legte er seine Daumen links und rechts an meine Wangen und strich unter meinen Augen die Tränen fort. „Das wird alles." Er beugte sich vor und küsste mich federleicht.

Sanft dirigierte er mich durch den Flur zum Bad und schob mich hinein. Streifte mir auf dem Weg die dicke Winterjacke ab. Hob im Bad meine Arme an und half mir aus dem Pulli. Noch ein Kuss, etwas länger diesmal – und er ließ mich im Bad allein. „Sag Bescheid, wenn was ist, ja?"

Aber jetzt war besser.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel war die Panik verschwunden. Was blieb, waren die Angst und die Wut – und der Durst.


.......

😳

Ich ... ähm... ja. Der Teil war eben plötzlich da.
Ich finde ihn recht... on  point

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