Russian Roulette: 32 ~ Pi
„Also, Sophie?" Frau Schwarz musterte mich über ihren riesigen Schreibtisch prüfend. „Sollen wir die Fragen noch mal durchgehen?"
Ich holte tief Luft und spürte die Blicke ihrer Assistenten Auf mir. Ich wünschte, die beiden wären nicht mit uns im Büro. Meine Hände waren schwitzig und mein Top unter meinem Blazer klatschnass.
Frau Schwarz war meine sehr fähige, aber auch sehr kühle Anwältin, die von meinen Eltern bezahlt wurde, um Lüttkenhaus fertig zu machen. Sie kam von einer Kanzlei aus Düsseldorf und wurde mit horrend viel Geld dafür bezahlt, die Nebenklage zu gewinnen. Frau Schwarz war professionell, routiniert und wahnsinnig in ihrem Job. Sie hatte mich in der vergangenen Woche auf den Punkt auf diese Verhandlung vorbereitet, aber...
Aber.
„Es ist wirklich kein Problem, wenn wir die Fragen noch einmal durchgehen."
Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht nochmal die Fragen durchgehen: Was ich an diesem Nachmittag im August gemacht hatte. Wo ich vorher gewesen bin. Warum ich nach Heidelberg zurückgefahren war. Was ich in meinem Zimmer wollte. Warum ich dieses Armband gesucht hatte. Ich wollte nicht noch einmal von ihr gefragt werden, warum ich Nick damals angerufen hatte. Ich wollte nicht nochmal an unseren Streit denken. An diese fucking Akte. Ich wollte nicht nochmal an all den Mist denken, der ab morgen hochgewühlt werden würde, wenn es losginge. „Nein", ich schüttelte den Kopf und widerstand dem Drang, auf mein Handy zu gucken. Nick war im Präsidium und hatte ein erstes Gespräch wegen seiner neuen Stelle. Ich wollte ihm schreiben, wie es lief, aber das tat ich nicht. Er würde sich schon melden.
Die ganze Zeit waren es noch Tage bis dahin und jetzt waren es nur noch Stunden. „Ich kenne die Fragen." Ich kannte sie wirklich. Ich hatte alle Fragen im Kopf. Ich war mit ihr und dem Staatsanwalt, Dr. Klinger, die Fragen immer und immer wieder durchgegangen. Die Fragen. Meine Antworten. Mit ihr, dem Staatsanwalt und dann in der Therapie. Dort hatte ich das für und wieder abgewogen. Wobei das falsch ausgedrückt ist: wir hatten die Fragen besprochen, meine Reaktionen darauf ausgelotet, meine Gefühle besprochen. Hatten Strategien besprochen, wie ich im Gericht die Panik niederkämpfen konnte.
Und die Panik würde kommen. Das wusste ich. Ich wusste das seit Wochen. Das Gefühl saß mir seit Wochen im Nacken, da hatte auch der Ausflug in die Therme nichts geholfen. Nick gab sein Bestes, mich abzulenken, aber wenn ich alleine war, kreisten meine Gedanken immer häufiger und heftiger um diesen Prozess. Ich wusste, dass ich keine Chance haben würde, die Panik alleine nieder zu kämpfen.
In der Therapie hatten wir zu wenig Zeit gehabt, um das Trauma anzusprechen. Gott, ich machte den Therapie-Mist ja erst seit Dezember. In meinem Leben war so viel Scheiß passiert, ich hatte es ja noch nicht mal geschafft, der Therapeutin einen groben Überblick zu geben über das, was es da zu bearbeiten galt. Wir hatten sogar mit Dr. Harris aus der Entzugsklinik zusammengearbeitet, um mich auf den Prozess vorzubereiten, weil die Therapeutin überfordert gewesen war – was ich gut verstehen konnte.
Für den Prozess ging es in erster Linie darum, zu verstehen, dass rückfällig werden die schlechteste Option war, egal wie heftig die Stressoren waren. Das wusste ich. Zu dritt hatten wir versucht zu analysieren, was die Konfrontation mit Lüttkenhaus in mir auslösen könnte.
Stress.
Angst.
Panik.
Körperliche Reaktionen, wie Herzrasen, Atemnot, Sehstörungen. Schweißausbrüche.
Kurzfristige Möglichkeiten, diesen Angstattacken auszuweichen, würde ich nicht haben. Ich würde den Gerichtssaal nicht einfach verlassen können, um spazieren zu gehen oder Luft zu schnappen. Ich konnte nicht einfach Musik hören oder mich anderweitig ablenken. Oder Sex mit Nick haben.
Für langfristige Strategien und deren Erprobung in konkreten Stresssituationen hatte uns die Zeit gefehlt. Wir hatten lange über die Bedeutsamkeit meines sicheren Ortes für diese Verhandlung gesprochen. Dr. Harris hatte mir damals die Methode gezeigt und ich hatte es seltsam empfunden, doch dann...dann war Tanah Lot zum Sinnbild für das geworden, was ich vor dieser Entführung gehabt hatte und was ich wiederhaben wollte. Mit Nick. Wir hatten Atemübungen gemacht, um mich auf das Jetzt zu fokussieren, also bewusst in den Bauch atmen und so einen Quatsch, den ich bestimmt nicht würde anwenden können, wenn ich wirklich eine akute Panik haben sollte.
Nick wollte mit ins Gericht kommen, aber das hielt ich für keine gute Idee. Zur Beruhigung. Aber das war nicht gut. Zum einen, weil er sicher nicht vor der geschlossenen Tür sitzen bleiben konnte, und warten, bis wir fertig waren. Zum anderen hatte er eigentlich Termine. Außerdem war die Wahrscheinlichkeit, dass er vor seiner eigenen Zeugenbefragung auf Lüttkenhaus treffen würde, zu groß – und ich wollte nicht, dass er etwas Dummes tat. Und diese Wahrscheinlichkeit war... groß, wenn man Nicks Temperament in den letzten Monaten mal genauer unter die Lupe nahm: Suspendierung, Behandlung wegen PTBS.
„Sophie?" Frau Schwarz sieht mich an.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie weiter mit mir gesprochen hatte, „Was?" Ich sollte besser Wie bitte sagen. Sie achtet auf eine gewählte Ausdrucksweise.
Frau Schwarz lässt sich von einem ihrer Gehilfen eine Mappe reichen und blättert darin, ohne mich anzusehen. „Die Staatsanwaltschaft hat heute Morgen noch mal mit mir telefoniert", sagte sie und las ihre Gesprächsnotizen. Dann klopfte sie den Stapel auf dem Tisch zusammen und sah mich an.
„Ja?" Ihr Blick jagte mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Frau Schwarz spielte keine Spielchen. Sie sprach gute wie schlechte Nachrichten immer direkt aus. Und das hier waren keine guten, das sah ich an ihrem ausdruckslosen, maskenhaften Gesicht.
„Keine guten Nachrichten", bestätigte sie, „Lüttkenhaus stellt voraussichtlich Antrag auf Schuldunfähigkeit."
Ich starrte sie an und mein Mund klappte auf. „Er – was?!"
„Ich wollte es Ihnen sagen, bevor wir in die Hauptverhandlung starten." Sie räusperte sich. „Der Staatsanwalt hat den Antrag auch erst seit heute vorliegen." Sie holte tief Luft. „Es...", setzte sie zaghaft an, „gibt... offensichtlich ein psychiatrisches Gutachten, das Tristan Lüttkenhaus Schuldfähigkeit in Frage stellt und ihn nach §20 StGb als nicht schuldfähig darstellt."
Ich spürte, wie ich mich auflöste. Wie ich das Gefühl hatte, dass das Rauschen in meinen Ohren meinen Körper entzweischlug und in die Tiefe riss. „Nicht... was?", flüsterte ich, weil ich die Worte nicht verstehen konnte. Ich verstand sie schon, aber ich begriff sie nicht.
„Nicht schuldfähig", wiederholte der übereifrige Hiwi an der Seite, als ob ich grenz-debil wäre, und ich starrte ihn an, als ob er mich geohrfeigt hätte. Frau Schwarz bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und er verstummte augenblicklich.
„Das bedeutet...", flüsterte ich lahm und sah meine Anwältin schluckend an. Ich wusste, was das bedeutete. Scheiße, ich wusste ganz genau, was das bedeutete.
Frau Schwarz sah mich ohne zu zögern an. „Ohne Schuld handelt, wer bei der Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. So steht es im Paragraphen."
Wegen einer krankhaften seelischen Störung. Unfähig, das Unrecht einer Tat einzusehen. Er hatte ein Gutachten. Zittrig holte ich Luft. „Und das bedeutet?"
Frau Schwarz faltete die Hände. „Im Laufe des Verfahrens wird Lüttkenhaus Schuldfähigkeit geprüft." Sie legte den Kopf leicht schief und musterte mich aus wachen Augen. „Sophie, ich muss sie jetzt darauf vorbereiten, was das heißt."
Aber das musste sie nicht. Es war mir klar. Wenn dieses Arschloch damit durchkam, käme er vielleicht frei.
Scheiße.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top