Rotkäppchen: 7 ~ Pi
Der Wolf aber ging geradeswegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Türe. Der Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf, und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.
Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die Türe aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: „Mein Gott, wie ängstlich wird mir's heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter!"
Es rief „Guten Morgen", bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück: da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus.
„Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!" „Dass ich dich besser hören kann."
„Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!" „Dass ich dich besser sehen kann."
„Ei, Großmutter, was hast du für große Hände" „Dass ich dich besser packen kann."
„Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!" „Dass ich dich besser fressen kann."
Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.
Wie der Wolf seine Gelüste gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: „Wie die alte Frau schnarcht, du musst doch sehen, ob ihr etwas fehlt."
Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, dass der Wolf darin lag. Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten: schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden.
Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, daß er gleich niedersank und sich totfiel.
Da waren alle drei vergnügt; der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder.
Tatsächlich war Rotkäppchen als Kind immer eines meiner Lieblingsmärchen. Heute frage ich mich, wer in meinem persönlichen Märchen - diesem Alptraum, in den ich geraten bin - der böse Wolf ist? Wer der Jäger? Und wer der Prinz?
***
Ich liege ausgestreckt auf meinem Handtuch am See und habe die Kopfhörer in den Ohren. Neben mir steht eine halbleere Flasche Rotwein, die ich beim letzten Besuch zu Hause geklaut habe und ein halbaufgegessene Sandwich. Florence + the Machine dröhnen auf meine Ohren und ich döse vor mich hin. Es ist einer dieser letzten schönen Spätsommertage, die man im Bikini am See verbringen kann. Mo ist mit Jana zu Gange. Keine Ahnung, wo die beiden stecken.
Ich nehme eine Bewegung neben mir wahr und öffne ein Auge. Innerlich stöhne ich auf. Von Söder kommt den Steg entlang, immerhin ist er allein.
„Was?", mache ich, unfreundlicher als es sein müsste.
„Nichts, ich komme in Frieden, Blondie", sagt er und sieht auf mich hinunter. Sein Blick wandert unverhohlen über meinen Körper, das merke ich, auch ohne die Augen zu öffnen.
„Was willst du, Daniel?", frage ich, ohne die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen.
Er nimmt den Blick von mir und sieht aufs Wasser des Sees hinaus. Wie immer trägt er Chino-Hose und ein hellblaues Hemd, seine Uniform, der Seitenscheitel ist mit dem Lineal gezogen, wie immer. „Mir ist langweilig, ich dachte, du unterhältst mich bestimmt."
Mir liegt ein „verpiss dich" auf den Lippen, aber etwas hält mich zurück. Es ist Sonntag. Die meisten sind ausgeflogen. Tatsächlich ertappe ich mich dabei, wie ich den rechten Kopfhörer aus dem Ohr ziehe und ich mich nach hinten auf die Ellbogen aufstütze.
Er lehnt sich gegen das Geländer des Bootsstegs und sieht mich an. Seine dunklen Augen sind hinter seiner Sonnenbrille verborgen. „Wo sind Trick und Track? Vögeln?"
Vielleicht hätte ich doch auf das „verpiss dich" zurück greifen sollen. Er kann einfach nicht nett sein. „Was ist eigentlich los mit dir, dass dir die Sozialkompetenz so komplett mit der Muttermilch abhanden gekommen ist?", frage ich ihn und trinke einen Schluck aus der Weinflasche.
Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin halt so."
„So bist du halt ein großes Arschloch."
Er grinst breit und entspannt. „Ach, Prinzesschen, so kennt ihr mich doch alle und so liebt ihr mich."
„Als Liebe hätte ich dieses Gefühl jetzt nicht bezeichnet. Eher so als... Abscheu. Oder Ekel."
Von Söder lacht dunkel und schiebt seine Sonnenbrille dann in sein Haar. Er mustert mich eine Weile, dann verrutscht die Maske in seinem Gesicht und er lächelt mich beinahe aufrichtig an. Ja, das kann er. „Wie geht's dir, Pi?"
So sehr ich Daniel von Söder verabscheue und hasse, wir haben ein sehr... ambivalentes Verhältnis zueinander. Wir kennen uns schon lange, unsere Familien sind befreundet. Unsere Väter sind Kumpels, spielen zusammen Tennis und Golf, waren zusammen auf der gleichen Schule. In der Schule sind wir wie Feuer und Wasser, aber manchmal, wie jetzt, können wir auch eine gute Zeit miteinander haben.
Im Sommer hatten wir sogar zwei gute Wochen auf Santorini. Zufällig waren unsere Familien zeitgleich dort im Urlaub und wir haben uns zusammen gelangweilt. Besser als nichts. Eigentlich war es ganz okay. Wir haben mit keinem aus der Schule darüber gesprochen - noch nicht mal Mo oder Jana habe ich davon erzählt. „Ganz gut", sage ich und grinse unter meiner Sonnenbrille hervor.
„Was macht der Gaul?"
„Steht auf der Koppel und regeneriert."
„Hast du nicht demnächst Deutsche?"
„Hatte ich letztes Wochenende, ja." Dass er sich das gemerkt hatte?
Daniel nickt und setzt sich zu mir auf den Bootsanleger. Er greift nach der Flasche Wein und trinkt einen Schluck. „Wie lief's?"
Es ist total faszinierend. Schon im Urlaub hatte er nicht immer diese ätzende Image-Maske auf, die er im Internat ständig vor sich her trug und war dann fast erträglich.
Ich zucke mit den Schultern. „Es ging. Gesamt achte."
„Krass. Glückwunsch." Er klingt aufrichtig.
Ich zucke mit den Schultern und zupfe an meinem Bikini-Unterteil herum. Ich war nicht hundertprozentig zufrieden mit dem Ergebnis, aber die anderen war dieses Mal besser gewesen als Carrie und ich. So war es eben. Immerhin waren wir im Finale strafpunktfrei geblieben. „Danke." Ich lehne den Kopf zurück und recke mein Gesicht in die Sonne. „Und bei dir?" Ich trinke vom Wein. Ich spüre, dass er mir schon lange in den Kopf gestiegen ist.
Er zuckt mit den Schultern und sieht mich einen Moment zu lang an. Ich weiß genau, was in seinem Kopf vorgeht. Ihm ist langweilig. Genauso langweilig, wie ihm im Sommer langweilig war, als wir uns abends in Santorini am Strand herum gedrückt haben. Gott, war uns langweilig. Beim Gedanken daran muss ich unwillkürlich schmunzeln und sehe ihn an. Ich glaube, er denkt an das gleiche, denn er grinst und zieht eine Augenbraue hoch. „Vergiss es, von Söder."
„Dir ist doch genauso scheiß langweilig wie mir. Alle sind ausgeflogen."
„Mir ist überhaupt nicht langweilig", gebe ich zurück und halte demonstrativ meinen Kopfhörer hoch.
Er lacht dunkel und schnippt mir neckisch gegen meinen Oberschenkel. Einmal, zweimal, beim dritten Mal streicht sein Zeigefinger langsam meinen Oberschenkel hinauf und er sieht mich abwartend an.
Wir hatten in Griechenland echt "Spaß" miteinander. Aber es war eigentlich ein stilles Arrangement, das sich damit haben sollte. Das wir in Deutschland nicht weiter führen würden. Seine dunklen, braunen Augen funkeln mich an und er grinst. Wenn er nicht diesen dämlichen, akkuraten Seitenscheitel tragen würde... ich weiß gar nicht, mit was er den fest betoniert. Selbst, wenn er im Sommer aus dem Wasser kam, saß der blöde Scheitel noch wie eine Eins.
„Ey, wenn du dich nicht immer aufführen würdest, wie so ein verdammtes Arschloch...", murmle ich und spüre im nächsten Moment seine Lippen auf meinen. Seine Hand streicht warm meine nackte Taille hinauf und ich erinnere mich an Santorini. Von Söder ist mein kleines schmutziges Geheimnis.
***
Wir liegen eine ganze Weile auf dem Bootssteg herum und machen rum. Sein Atem geht schnell und unregelmäßig und er ist drauf und dran, mir das Bikini-Oberteil aufzuknoten.
Er ist ein bisschen nervös und fahrig, wie immer, was irgendwie süß ist. Er tut immer so machohaft, aber als wir im Sommer unsere Strandaffäre hatten, war er eigentlich ziemlich zuvorkommend, was ich gar nicht erwartet hatte. Er ist kein Hengst im Bett, aber auch nicht verkehrt. Er strengt sich an.
Daniel küsst meinen Hals und plötzlich knackt es hinter uns am anderen Ende des Steges. Erschrocken hebe ich den Kopf und merke, dass auch er den Kopf hochreißt. Wir sehen außer Atem zum Ende des Steges und sehen dort Lütti stehen, in Shorts, T-Shirts und mit Angelrute. Er starrt uns verschreckt an und kurz sieht es so aus, als würde er die Flucht ergreifen, aber dann sieht er perplex zwischen mir, Daniel und der Flasche Wein hin und her.
„Pi?", fragt er unsicher. „Alles okay?"
Was soll denn bitte nicht okay sein?
„Oder belästigt dich der Arsch?"
„Lütti, verpiss dich!", mault Daniel ihn an und ich sehe, wie Lütti die Schultern strafft. Das passt gar nicht zu ihm. Lütti ist nicht der Typ für Konfrontationen, schon gar nicht mit von Söder.
„Lass es", zische ich ihm zu und weiß nicht, ob ich Lütti meine oder mein dreckiges Geheimnis, der sich gerade neben mir aufbaut wie der böse Wolf in einem Märchen. Ironischerweise habe ich Sandwich und Wein direkt zur Hand.
Von Söder springt auf und die beiden stehen sich gegenüber. Sie schauen sich direkt in die Augen. „Hast du sie abgefüllt, oder was?" fragt Lütti und sieht kurz zu mir.
„Was?", Daniel lacht. „Pi? Abfüllen?!" Er lacht. Sie Worte versetzen mir einen Stich. „Das bekommt sie auch ganz gut alleine hin." Er sieht mich noch einmal kurz an und ich versuche seinen Blick zu deuten. Was ist das? Bedauern? Mitleid? Begehren? Etwas anderes? Dann geht er, rempelt Lütti unsanft an der Schulter an und verlässt den Bootssteg. Er verschwindet im Wald, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Irgendwie ist mir klar, dass ihm und mir nicht mehr zusammen langweilig sein wird.
Lütti sieht mich an aus großen Augen an. Er sieht aus wie eine Kuh. Oder eine Giraffe. „Ist wirklich alles okay?"
Innerlich stöhne ich. Ja. Es war sogar richtig okay, als von Söder noch seine Hand in meinem Schritt hatte. Aber das sage ich nicht. „Ja, Lütti, alles okay."
„Ich dachte nur... Ich hab gehört, dass er neulich angeblich dieses Mädchen abgefüllt haben soll, und dass es da echt übel geendet haben soll."
„Welches Mädchen?"
„Eine aus der Stadt. Von der Gesamtschule", sagt er und zuckt mit den Schultern.
Ich sehe zum Wald. Daniel ist ein Arsch, aber das kann ich mir nicht vorstellen. „Daniel? Von Söder?"
Lütti blinzelt. „Ja. Angeblich soll er ihr Drogen in nen Drink gekippt haben und dann... Du weißt schon."
Ich schlucke und mir wird plötzlich kalt. Ich greife nach meinem T-Shirt und ziehe es mir über, während Lütti taktvoll den Blick abwendet.
„Das sind krasse Gerüchte", sage ich und gieße den Rest vom Wein in den See. Mir ist die Lust darauf vergangen.
Lütti nickt und beginnt seine Angelsachen auszupacken. „Du musst nicht gehen", sagt er.
„Nein, schon gut. Angel du mal in Ruhe..." Ich packe mein Zeug zusammen und ignoriere den Schauer, der über meinen Rücken läuft.
***
Ich starrte ihn an, wie er selbstsicher und mit einem überheblichen Grinsen im Türrahmen lehnte. Vielleicht hätte ich die Zeit nutzen sollen, mir den Raum einzuprägen. Acht Quadratmeter vielleicht. Über mir in drei Metern Höhe die Box. In einer Ecke eine Pritsche, in einer Ecke ein Wasserhahn, in einer ein schwarzer Eimer.
Aber das tat ich nicht. Stattdessen starrte ich ihn nur an.
Ihn.
Die dunklen Haare.
Die braunen Haare
Der Bart.
All das hatte mich getäuscht.
Als er sich etwas drehte, das Gesicht etwas drehte und Licht darauf fiel, erkannte ich das Muttermal unter seinem Auge. Die Erinnerung pochte, aber ich bekam sie nicht zusammengesetzt.
„Gute Nacht, Prinzessin!"
Mit einem Knall schloss er die Tür. Ich saß wieder in vollkommener Dunkelheit. Stille umgab mich und ich schrie laut auf. Aus Wut. Aus Schmerz. Aus Frustration. Aus Hass auf mich selbst, dass ich es nicht hatte kommen sehen.
Als mein Schrei verhalt war und ich nur noch den Schmerz in meinem Fuß spürte, lauschte ich der Stille nach.
Dann brach mit einem Mal das Geräusch los. Es war nervenzerfetzend und ohrenbetäubend.
Und es hörte nicht auf.
Es hörte einfach nicht auf.
........
🐺👵🤶
Da hat sich die kleine Dirne wohl mit dem bösen Wolf eingelassen...
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