Rotkäppchen: 7 ~ Pi

September vor drei Jahren

Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so gut stand und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen.

Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran erfreuen. Mach dich auf, bevor es zu heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab." Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. Die beiden führten eine nette Unterhaltung und der Wolf dachte bei sich: „Das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte: du musst es listig anfangen, damit du beide erschnappst."

Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her und dann sprach er: „Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig hier im Wald."

Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: „Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen", lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen und geriet immer tiefer in den Wald hinein.

***

„Du weißt, dass dein Argument nicht haltbar ist?!" Ich sehe von Söder an und bin genervt von seiner Arroganz.

Er lehnt sich entspannt auf dem Drehstuhl zurück und streicht sich lässig durch die dunklen Haare. „Aber deins oder was?"

„Meins beruht immerhin auf der Textrecherche, die uns der Fleischer aufgetragen hat." Ich unterdrücke den Drang die Augen zu rollen und sehe zu Tamara und Lena, die zu der ganzen Diskussion bislang gar nichts beigetragen haben. Für unseren PoWi-Kurs müssen wir eine ein Referat über die japanische Wirtschaft machen und mit der aktuellen europäischen Handelspolitik vergleichen. Das interessiert mich ungefähr genauso sehr wie die Kreisligaergebnisse im Fußball, aber mein besonderer Freund Daniel schmeißt die Gruppe. Ich bin kurz davor ihn zu erwürgen. „Und nicht auf --"

„Mein Dad handelt mit Japan."

„Ja, mag sein." Ich rolle jetzt doch mit den Augen. „Aber nur weil dein Dad Tennissocken aus Japan importiert" - und das tut er - „und du da mal was aufgeschnappt hast, heißt das nicht, dass du den kompletten Peil über die Gesamtlage hast!" Ich greife nach dem Text und knalle ihn von Söder gegen die Brust und starre in seine eiskalten braunen Augen. „Also lies den scheiß Text! Falls du das kannst. Idiot!" Das Idiot konnte ich mir nicht verkneifen.

„Ey, du glaubst echt, du bist hier die Prinzessin vom Dienst, was?!" Er klingt jetzt richtig angepisst , aber das ist mir egal. Ich sehe, wie er endlich nach dem verfickten Textmarker greift und zu lesen beginnt.

Oh, wie ich diesen Daniel von Söder aus tiefster Seele verabscheue.

Tamara sieht mich mitleidig an. Entspann dich, scheint sie mir stumm sagen zu wollen. Aber das kann ich nicht. Wir drei haben uns von Söder nicht als Gruppenmitglied ausgesucht. Am liebsten wäre mir neben Mo Christopher gewesen oder Lütti. Mo wäre von den dreien der angenehmste gewesen und zumindest hätte er seinen Arsch hochbekommen und mitgearbeitet. Christopher hätte die ganze Zeit vermutlich Tami angeschmachtet. Gut, Lütti hätte das Referat vermutlich alleine gemacht und uns beim ersten Treffen eine fertige Marktanalyse vorgelegt. Alter Streber. Und dann waren wir an von Söder geraten. Danke, Herr Fleischer.

Daniel rutscht seine Brille gerade und wirft mir einen Blick zu. „Was?! Ich lese? Nerv nicht!"

„Ich sag ja gar nichts!"

„Du guckst!"

Ich schnaufe genervt auf, nehme selbst meinen Text und beginne zu lesen. Der Rest der Stunde verläuft fast friedlich. Fast. Lena hat noch ein paar gute Ideen und von Söder ist fast kooperativ. Er ist so ein arroganter Arsch. Wir können uns nicht ausstehen.

Als wir uns später alle im Klassenraum treffen und er bei seinen Jungs sitzt spüre ich, dass er mich beobachtet und mir am liebsten die Zunge raus gestreckt hätte. Er ist so kindisch. Ich kann nicht glauben, dass wir mal was hatten. Kurzzeitige Geschmacksverirrung meinerseits. Aber gut. Ich bin kein Kind der Traurigkeit. Ich knutsche gern. Ich feiere gern. Ich habe auch Spaß an Sex. Aber ich will keine Beziehung. Dafür habe ich keine Zeit. Mein Fokus liegt auf dem Sport. Dem Reitsport. Dem echten Reitsport. Auf Carrie.

Ich sehe kurz zu Mo, der neben Jana sitzt. Ich sehe, dass unter dem Tisch ihre Hand auf seinem Knie liegt und sie entspannt grinst. Gott, die zwei sind so verknallt. Immer noch. Manchmal frage ich mich, ob ihm das nicht manchmal zu eng ist. Sie nimmt ihn ganz schön in Beschlag.

Ich ziehe die Augenbraue hoch, als ich registriere, dass ihre Hand ein Stück höher auf seinem Oberschenkel wandert. Wir sind im Unterricht! Alter...

Mo neben mir schiebt ihre Hand unauffällig von seinem Oberschenkel und raunt ihr angespannt irgendetwas zu. Jana lacht leise.

Herr Fleischer schaut zu den beiden hinüber und schaut Moritz auffordernd an. Er hat Mo schon seit ein paar Stunden auf dem Kieker. „Herr Meier? Möchten Sie zum Stundenende noch etwas qualitativ Wertvolles beitragen?"

„Ähm", macht Mo und starrt auf die Tafel. „Gerade nicht."

Jana lacht kehlig und sieht hinter dem Stuhl zu mir. Sie zwinkert mir zu. Dann klingelt es und sie steht auf. Mo nicht. Der bleibt sitzen, vermutlich, weil er die nächsten Minuten noch nicht aufstehen „kann" - seine Wangen sind rot. Jana ist ein Biest. Sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

Ich mag sie, aber manchmal verstehe ich nicht, warum sie sowas macht - und ihn verstehe ich auch nicht, warum er sowas mit sich machen lässt. Er steht auf sie, aber manchmal würde ihr eine klare Ansage gut tun. Und ganz ehrlich: im Unterricht würde ich niemals auf die Idee kommen einem Typen die Hand auf seinen ---

„Ey, von Frankenthal!"

Ich stöhne genervt auf und drehe mich um. Von Söder steuert auf mich zu. Er hat dieses schleimige Grinsen aufgesetzt. „Deine Freundin Jana ging ja grad ganz schön ran - treibt ihr es eigentlich manchmal auch zu dritt? Ich wäre da ja gern mal dabei und --"

„Fresse!"

„Ach, komm schon, Pi!"

„Ich hab Fresse gesagt, Söder." Ich drehe mich um und gehe. Anders versteht er es nicht. Er ist ein provokanter Arsch, aber harmlos. Ein Hund, der bellt. Allerdings tut mir Mo jetzt schon leid. Ich kann das ab, aber die Jungs haben nachher Fußball. Vermutlich kriegt er da direkt aufs Brot geschmiert, das Jana ihm in Powi einen runtergeholt hat. Was nicht stimmt. Dieser von Söder ist echt...

Ich ziehe mein Handy raus und tippe Mo eine Vorwarnung ins Handy. Ich mach echt drei Kreuze, wenn dieses Schuljahr rum ist und ich das Internat verlassen kann. Ich hab sowas von keine Nerven mehr auf diesen Laden hier.

***

Ich lag zusammen gekauert in der Dunkelheit und lauschte. Mir war das Zeitgefühl vollkommen abhanden gekommen. Ich wusste nicht, wie lange ich schon in der Kiste war. Ob es Stunden waren oder Tage oder Wochen. Mein Körper tat weh. Ich hatte Schmerzen und Krämpfe, weil ich mich nicht strecken konnte. Meine Schultern taten weh und ich wusste nicht mehr, wie ich drehen sollte, ohne dass...

Einmal am Tag ging an einer Ecke der Kiste eine Klappe auf und ich bekam eine Flasche Wasser und etwas zu essen. Ich sah niemanden. Ich hörte niemanden. Und immer blieb es stockdunkel. Ich war kurz davor durchzudrehen.

Ich wusste nicht, warum das alles passiert war.

Ich schlief viel. Träumte wirres Zeug, vor allem von früher. Und wenn ich nicht von früher träumte, dachte ich an drei Dinge.

An Nick.
An Mo.
Und an den Typen mit den braunen Augen.

An Nick, weil er mir fehlte. Weil er der letzte gewesen war, an den ich gedacht hatte, bevor es dunkel um mich herum geworden war. Ich liebte ihn. Und dieser Streit wegen Carrie war so egal... ich... Ich liebte ihn... vermutlich würde ich ihn... nie mehr...

Ich sollte nicht so denken. Hoffnung haben... aber... ich wusste ja noch nicht mal, warum ich in dieser Kiste saß...Also war Hoffnung das letzte, was ich im Moment hatte.

Ich liebte ihn. Aber Hoffnung... Hoffnung war mir in dieser Dunkelheit fremd.

An Mo dachte ich unablässig. Er war der Grund, warum ich aus Frankfurt zurück gefahren waren - er war der Grund, warum gewollt hatte, dass Nick zu mir kam. Er war der Grund, warum ich die Welt nicht mehr verstand. Warum, hatte ich drei Jahre lang dieses Freundschaftsband in meinem Marmeladenglas gehabt, das er verloren hatte? Das er angeblich verloren hatte?

Ich verstand es nicht.
Hatte er es wirklich verloren?
Hatte es ihm jemand geklaut?
Hatte er Carrie umgebracht? Warum?

Und ich dachte an den Typen mit den braunen Augen. Hallo, Prinzessin.

Ich erinnerte mich wirklich kaum an den Moment, als er vor meiner Haustür gestanden hatte, aber noch sehr gut an seine Augen. Diese Augen. Es war der gleiche Typ, mit dem ich damals in diesem Club gewesen war. Es war der einzige, den ich jemals nach so einer Nacht mit zu mir genommen hatte. Bei dem ich meine Regel gebrochen hatte. Toll, Pi. Und gerade der stellte sich im nach hinein tatsächlich als krankes Schwein heraus. Toll gemacht. Hätte das nicht Nick sein können? Dem hatte Mo sowas ja unterstellt.

Gott, er fehlte mir. Er fehlte mir so sehr...

Ich lachte hysterisch. Super, jetzt wirst du auch noch verrückt.

Wenn es wirklich der Typ mit den braunen Augen war...

Ich schloss die Augen. Soweit wollte ich nicht denken. Ich dachte an die Blutergüsse an meinem Körper, die ich am morgen danach entdeckt hatte. Wie wund ich gewesen war. Wie dreckig ich mich gefühlt hatte, die Scham, als ich beim Arzt gewesen war und mir die Pille danach hatte verschreiben lassen und den AIDS-Test gemacht hatte. Ich hatte nie jemandem davon erzählt. Auch jetzt brannte vor Scham in der Dunkelheit mein Gesicht. Es hatte danach keine Rolle mehr gespielt, ich hatte einfach weiter gemacht wie davor auch, aber...

Aber als ich die Tür geöffnet hatte... und in diese Augen geblickt hatte... wieder... Mir war sofort klar gewesen, dass...

Ich bekam keine Luft mehr. Rang nach Atem, aber der Sauerstoff erreichte meine Lunge kaum. Ich hyperventilierte. Ich neigte eigentlich nicht zu Panikattacken, aber das war vermutlich eine.

Meine Brust schnürte sich zusammen wie in einem Schraubstock, immer fester und fester. Wieder und wieder denke ich an den Moment als ich die Tür öffnete und Nick erwartete. Ich wollte ihm erzählen, dass ich glaubte, dass Mo mit Carries Tod etwas zu tun hatte. Ich wollte ihm davon erzählen, dass mein bester Freund mich Jahre lang angelogen hatte. Dass das schwerer wog als Nicks gebrochenes Versprechen.

Stattdessen hatte ich in diese Augen geblickt.
In diese dunklen, kalten Augen.
Und dann war es so schnell gegangen.

Ich hatte die Tür zuschlagen wollen, aber er war schneller gewesen. Hatte den Fuß in die Tür gestellt, nach mir gegriffen, mich festgepackt und dann hatte er mir etwas gespritzt. Keine Ahnung was. Und dann war alles schwarz geworden.

Er. Der Typ.

Er kam mir so verdammt bekannt vor. Damals im Club schon. Aber ich wusste nicht, warum.

Vollbart. Dieser dumme Hipster-Dutt.
Dunkle Augen. Dunkle, braune Augen.

Der Boden der Kiste begann sich zu drehen. Nicht nur, weil die Panik mich überrollte, sondern sprichwörtlich. Sie hob sich an. Und urplötzlich riss der Boden unter mir weg. Ich schrie auf und fiel. Schlug auf dem Boden auf.

Irgendetwas in meinem Bein knackte. Schmerz durchzuckte mein Bein.

Licht flammte auf, brannte nach all der Zeit qualvoll in meinen Augen wie Säure. Es war viel zu hell.

Dann sah ich ganz kurz sein Gesicht.

Den Bart.
Die Augen.

Er grinste.

Ich starrte ihn an.
Er starrte zurück.

„Prinzessin", sagte er trocken.

Ich bekam keinen Ton raus. Tränen vor Schmerz standen in meinen Augen, während ich versuchte zu verstehen, was hier eigentlich los war. Der Typ von der Nacht damals, aus dem ranzigen Nacht damals lehnte lässig im Türrahmen. Mit dunklem Bart, dem dunklen Hipsterdutt.

Und ich stellte ihn mir ohne vor.

Ohne Bart.
Ohne Hipsterdutt.

Zwanzig Kilo leichter.
Drei Jahre jünger.

Und verstand noch viel weniger, was hier eigentlich los war.

........

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