Linoleum: 28 ~ Pi

Drei lange Stunden später verließen wir die Klinik und ich lud Mo beim Dönermann seines Vertrauens zum Mittagessen ein. Ich war nicht eingewiesen worden. Das war meine größte Angst gewesen: dass ein übereifriger Assistenzarzt nach 48 Stunden Dienst meinte, ich sei verrückt und bräuchte eine Elektroschocktherapie im Keller dieser Klinik. Aber so war es nicht gekommen.

Wir hatten ewig gewartet, bis ich an der Reihe gewesen war. Zwischen drin hatte ich überlegt, ob wir auf der richtigen Station waren. Ob ich nicht in die Suchtambulanz gehörte. Aber dann war ich schon an der Reihe gewesen und es war zu spät gewesen.

Die junge Ärztin war nett gewesen und hatte gut zugehört - auch wenn sie gemeint hatte, dass ich doch auf der falschen Station gelandet sei. Ich hatte aber noch am Nachmittag einen Beratungstermin bei einem Dr. Bärenfels bekommen, ebenfalls in der Uniklinik - auf der richtigen Station dann - und die sehr nette Assistenzärztin hatte mir den Flyer Anonymen Alkoholiker in Heidelberg mitgegeben. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

Im Behandlungszimmer hatte Moritz die ganze Zeit ganz still neben mir gesessen und zugehört, auch als ich von den Traumata erzählt hatte. Ich hatte nicht vom Missbrauch erzählt, nur davon, dass ich wusste, dass meine Sucht Auslöser hatte und dass ich Hilfe brauchte, diese aufzuarbeiten und dass ich endlich bereit dazu war. Dass ich Hilfe brauchte und Angst hatte,  die Kontrolle über mein Leben endgültig zu verlieren.

Die Assistenzärztin hatte mich durchweg so komisch angesehen, vermutlich hatte sie mich erkannt von den Fahndungsbildern, das hatte Moritz jedenfalls gemeint, als wir zum Restaurant gelaufen waren. In jeder Sekunde in diesem Gespräch hatte ich gespürt, wie unwohl sich Mo gefühlt hatte, und wie viele Fragen er stellen wollte. Er hatte immer wieder den Mund geöffnet, aber keine einzige Frage gestellt, auch nicht, seitdem wir hier im Dönerladen saßen. Zumindest nicht die Fragen, die er wirklich stellen wollte.

„Aber hast du damit jetzt ein gutes Gefühl?", fragte er und schaufelte sich seinen Dönerteller mit viel scharf in den Mund.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Es fühlt sich... wattig an."

„Wattig."

„Ja... Ich kann das noch nicht so beurteilen." Ich sah auf mein Essen und stach ein wenig lustlos hinein. „Es ist ein erster Schritt. Es wird ein langer, weiter Weg, bis ich wieder die Alte bin..."

Mo sah mich eine Weile nachdenklich an. „Ich glaube, du wirst nie wieder die Alte sein, Pi..."

Ich atmete durch. „Ja... vielleicht..." Sehr sicher sogar.

Wieder sah er mich an und öffnete den Mund, setzte an und schluckte die Frage hinunter.

Dieses Mal saß keine Assistenzärztin vor uns, es waren nur wir beide und Murat vom Dönerladen und drei Jungs im Laden, die sich lauthals über ihr Fußballtraining unterhielten. Ich spürte eine vertraute Übelkeit in meinem Bauch, kämpfte dagegen an und schloss die Augen. „Frag schon...", sagte ich leise.

Mo hielt in der Bewegung inne und fuhr sich langsam durch die braunen Haare. Sie waren lang geworden, reichten ihm mittlerweile zum Kinn, und das, was sonst verwuschelt in alle Richtungen abstand, war jetzt eindeutig als Locken erkennbar. Süß irgendwie.

Seine grünen Augen weiteten sich ein wenig. „Was denn?"

„Warum ich trinke." Ich knippelte an meinem Daumennagel herum. „Du siehst seit vorhin so aus, als ob du den Gedanken förmlich zerdenkst..."

„Ich zerdenke ihn auch..." Ich schluckte. „Weißt du... ich frage mich..." Er zuckte mit den Schultern und starrte auf den leeren Dönerteller. „Ich frage mich, wann das alles angefangen hat..." Dann hob er den Blick und sah mich an. „Was ist passiert, Pi?"

Da war sie, die Frage, die sämtliche Luft aus dem Raum absaugte. Ich wollte es ihm sagen, unserer Freundschaft zu liebe. Trotzdem hatte ich das Gefühl, gerade Reißnägel im Hals zu haben. Es Nick zu sagen war sehr viel einfacher gewesen. Vermutlich lag das daran, dass ich mich fühlte, als ob ich Mo mein halbes Leben lang angelogen hatte.

Vielleicht trug auch das zu dem seltsamen Gefühl bei, das ich schon die ganze Zeit über hatte. Er war so... anders zu mir, wie früher und ich konnte nicht sagen, warum.

Spring.

„Erinnerst du dich an diese Gartenparty bei von Söders?"

Mo nickte. „Klar. Ich erinnere mich vor allem daran, dass ich sternhagelvoll aus dem Brunnen gezogen habe."

Ich sah vor mir in das eiskalte Wasser. Spring. „ Diese Partys... ich hab die nüchtern nie ertragen, weil..." Spring.

Und ich sprang. Ich erzählte ihm von meiner Begegnung in der Bibliothek. Davon, dass ich ihn schon von weitem draußen gesehen hatte und deshalb so getrunken hatte. Ihn. Dass ich mich... betrunken hatte, um die Erinnerungen zu betäuben an diese Nacht, damals in München auf dieser Weihnachtsparty.

Während ich Moritz all das erzählte, schaffte ich es, nicht einmal zu weinen. Ich blickte mit einigem Abstand auf die Ereignisse, als ob ich sie luftdicht abgekapselt hätte. Das war sicherlich nicht gesund, aber ich wollte sie auch nicht wieder so nah an mich heranlassen, wie vor ein paar Tagen. Ich wollte durchatmen. Zur Ruhe kommen. Den Sturm vorbeiziehen lassen, und wenn es nur für eine kurze Zeit war.

Moritz hatte mir gelauscht, ohne ein Wort zu sagen. Als ich geendet hatte, hatte ich das Gefühl, dass er das nicht verstehen wollte und er auch nicht akzeptieren konnte. „Ich bring den um."

„Das wirst du nicht." Ich schüttelte vehement den Kopf. „Mo, das ist durch."

„Ist es nicht. Pi, das Arschloch hat dich-"

„Ja. Aber es ist nicht an dir, das zu regeln. Und ich habe es dir auch nicht erzählt, damit du es tust."

„Sondern?!"

„Damit du weißt, warum es mir nicht gut geht. Damit du weißt, warum ich trinke und warum ich mit der Scheiße angefangen habe."

„Und so willst du das jetzt stehen lassen?" Seine Stimme wurde etwas lauter, kantiger und bissiger.

Ich nickte einmal und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich wollte kein Fass aufmachen. Nicht noch mehr. Schon gar kein zusätzliches, dadurch, dass Moritz etwas Dummes tat. „Ja", sagte ich fest und setzte etwas überzeugter hinterher: „Moritz... bitte."

Er rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ey, das ist so eine Scheiße... ich mach drei Kreuze, wenn dieses Jahr vorbei ist." Er schluckte schwer und schloss die Augen. Er sah unfassbar erschöpft aus.

Ich legte ihm die Hand auf den Unterarm und lächelte knapp. „Und ich erst..."

Okay..." Er nickte lahm. „Okay..." Er biss sich für einen Moment auf die Unterlippe. „Jetzt verstehe ich wenigstens die Sache mit der Psychiatrie ein bisschen besser."

Um seine Mundwinkel zuckte es. Um meine nicht. „War das ein Scherz, Moritz?"

„Ein schlechter, ja. Tut mir leid."

Ich grinste vorsichtig. „Schon gut."

Es war nicht zu übersehen, wie schwer es ihm fiel, sich in meiner Gegenwart normal zu verhalten. Das gleiche galt auch für mich. Wir waren seit so vielen Jahren Freunde, wussten alles voneinander, aber die letzten Monate lasteten schwerer auf unserer Freundschaft als auf meiner Beziehung zu Nick, das kam mir erst jetzt in den Sinn. Ich hatte Mo heute Morgen wie selbstverständlich angerufen und er war auch ohne zu zögern mit in die Klinik gekommen. Aber ich wurde das Gefühl einfach nicht los, dass Mo sich mir gegenüber seltsam verhielt.

„Ist zwischen uns alles gut?"

Wie, um Zeit zu schinden, stand er auf, räumt unsere Teller zum Tresen und zahlte. Erst als er zurückkam, zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung", sagte er leise.

Ich schluckte. „Mo, es tut mir leid, wenn ich Sachen gemacht habe, die dich verletzt haben und-"

Er seufzte schwer. „Das ist es nicht." Er schloss die Augen und dachte einen Moment nach. „Ich bin einfach... müde. Dieses Jahr war so furchtbar kraftraubend und die Dinge, die passiert sind, stecken mir einfach ziemlich tief in den Knochen. Ich bin einfach..." Er zuckte die Schultern und rang sich ein trauriges Lächeln ab. „fertig."

„Mit mir?"

„Nein, mit der Gesamtsituation. Die Welt dreht sich nicht immer nur um dich." Sein Lächeln wurde etwas sanfter und ich wusste, dass er die Prinzessin gerade sehr mühsam unterdrückte, „Es war hart."

Wir hatten nie wirklich darüber gesprochen. Ich hatte es gelesen, als ich mit meinem Anwalt letzte Woche die Akten durchgegangen war, und davor hatte ich es bruchstückhaft gehört, aber richtig mit ihm darüber gesprochen hatte ich nie. „Willst du drüber reden?"

„Willst du es denn hören?", fragte er zurück und lehnte sich zurück. „Von Jana?"

Ich versteifte mich. Das wollte ich eigentlich nicht. Und vielleicht auch besser nicht hier. In diesem leicht ranzigen Dönerladen.

„Oder von der U-Haft? Den Kreuzverhören?" Er zuckte mit den Schultern und sah mich resigniert an. „Oder davon wie Nick mir einen Vorwurf nach dem Nächsten gemacht hat?"

Ich blinzelte. Er... was?

Mo schluckte. „Ich bin durch meine Prüfungen gefallen und kann dieses Semester auch knicken. Es war eine richtig beschissene Zeit."

Es traf mich wie ein Peitschenhieb, wie mies es ihm ergangen sein musste. „Dir geht es gar nicht gut...", flüsterte ich und schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. Mo hatte immer da gestanden wie eine Eins. Er hatte sich durch nichts und niemanden umwerfen lassen. Und jetzt saß er vor mir, stellte diese Fragen, die gar keine waren, und war ein Schatten seiner selbst.

„Nein, mir geht es gar nicht gut."

„Vielleicht solltest du auch in die Psychiatrie. Wir könnten ein Doppelzimmer belegen und jeden Donnerstag Game of Thrones gucken." Wie früher, wollte ich noch sagen.

Mo lachte tonlos und seufzte. Es klang, als lastete ihm eine ganze Tonne auf der Brust. „Ja, das wäre schön."

„Wenn ich irgendetwas für dich tun kann..."

Mo stand auf und begann, sich seine Jacke sehr umständlich anzuziehen. Ich verstand das als Zeichen, es ihm gleichzutun und folgte ihm aus dem Dönerladen. Als wir auf der Straße standen, sah er mich lange an und sagte dann leise: „Du kannst etwas tun."

„Und was?"

„Pass auf dich auf. Werde wieder fit. Du hast mit dir genug zu tun und brauchst dafür schon mehr als genug Energie." Dann drückte er mir einen Kuss auf den Mund. „Ich komm schon zurecht. Versprech mir einfach, dass du auf dich gut aufpasst, okay?"

Ich schluckte. „Das klingt so nach... Abschied?"

Mo sah mich an und zögerte einen Moment zu lang, bevor er sagte: „Ach, Quatsch." Dann legte er mir den Arm um die Schultern, drückte mir einen weiteren Kuss auf die Haare und schlenderte mit mir Richtung Weihnachtsmarkt davon. „Komm, Pisi, ich lad doch auf ne Zuckerwatte ein, wie klingt das?"

„Uärks, weil ich dir die Prinzessin verboten habe, holst du die olle Kamelle mit Pisi wieder raus?"

„Muss ich ja irgendwie kompensieren..." Er grinste. Und für den Moment erkannte ich in dem Grinsen meinen besten Freund von früher wieder. Sein Zögern aber blieb mir im Gedächtnis.


.................

🤔

Unbequeme Wahrheiten. Ob die zwei 💖 ihre Freundschaften mit viel 🍥🍡
kitten können? Oder ist das Kind in den Brunnen gefallen?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top