Linoelum: 28 ~ Pi

Als Nick mir die Tür öffnete – frisch geduscht und rasiert mit noch feuchten Haaren – stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass er sich Sorgen gemacht hatte. Er umarmte mich viel zu lange und viel zu fest, um es leugnen zu können. Mein schlechtes Gewissen war auf dem Heimweg immer größer geworden, aber eine richtige Entschuldigung war mir nicht eingefallen.

Auf meine Frage nach dem Warum, zuckte er nur mit den Schultern. Ich wollte wissen, warum er sich solche Sorgen gemacht hatte. Gut, das wusste ich eigentlich und die Frage war rein rhetorisch, aber ich wollte, dass er es aussprach. Ich hatte die perfide Idee, dass es ihm helfen würde, um sich zu beruhigen, aber da lag ich daneben. Er schnaubte angestrengt. „Ich kam heim und..." Dann zuckte er mit den Schultern und sah mich noch immer entgeistertund besorgt an. „Wo warst du?"

„Ich war mit Moritz unterwegs und..." Ich hätte ihm wirklich schreiben sollen. Ich hätte ihn vorwarnen sollen, dass ich unterwegs war, und dass es spät werden würde. „Ich war in der Uniklinik."

Er verharrte in seiner Bewegung und zog  perplex die Augenbrauen in die Höhe. „Ist alles in Ordnung? Bist du okay?"

Ich rieb mir über das Gesicht und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, mit meinem Vater zu reden. Oder mit Mutter.

Doch dann hielt ich inne. Das hier war Nick. Ich wusste, warum er diese Fragen stellte. Er war kein Helikopter, wie meine Eltern. Er hatte sicher nicht vor, mich in diese Wohnung einzusperren, wie sie es getan hatten. Und er wollte mich sicherlich auch nicht bevormunden und bemuttern. Er machte sich einfach nur Sorgen, weil er wusste, dass ich neulich betrunken bei ihm aufgetaucht war – und jetzt irgendwo gewesen war. Ich war spät nach Hause gekommen und er wollte nur sicher gehen, dass ich in Ordnung war.

Komm nach Hause.

„Ja, ich bin okay." Ich zog meine Jacke aus und folgte ihm in die Küche. Mit einem Lächeln im Gesicht registrierte ich, dass er am Kochen war. In einem Topf auf einem Herd blubberte etwas, was vermutlich Kürbis-Curry war. Es roch himmlisch. Ich nahm den Kochlöffel und probierte mit knurrendem Magen, während er mich noch immer angespannt ansah. „Lecker..."

„Pi."

Er wollte, dass ich mit dem Spielchen aufhörte. Aber es war keins – ich hatte wirklich Hunger, es roch wirklich lecker  doch ich hörte auf. Ich ließ den Löffel sinken, drehte mich zu ihm herum und sah ihn an. „Ich war in der Psycho-Ambulanz."

Nick verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen. Betont lässig. Zu lässig für die Information. „Aha...", sagte er ruhig und musterte mich prüfend.

Ich hielt seinem angestrengten Blick erstaunlicherweise stand, ohne nervös zu werden. Ganz sachlich fuhr ich fort: „Ja, ich dachte... Also, bevor ich alle Therapeuten abtelefoniere und auf hundert Wartelisten lande, geht das bei dem akuten Rückfall wohl schneller." Ich wartete auf eine Reaktion von ihm, aber er hörte nur aufmerksam zu. „Ich hätte dir schreiben sollen, wo ich bin, damit du Bescheid weißt. Tut mir leid." Ich lächelte vorsichtig. „Du kannst Mo fragen, wenn du mir nicht glaubst..."

Nick atmete durch. Er schien, die ganzen Informationen erst einmal verarbeiten zu müssen und erwiderte mein Lächeln dann ebenso vorsichtig.  „Nein, das mach ich nicht..." Er löste sich vom Türrahmen und kam langsam näher, bis er vor mir zum Stehen kam. „Ich glaube dir das."

„Wieso?"

Er zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht?"

Ich legte den Kopf schief und atmete geräuschvoll aus. „Ich weiß nicht... Ich hab so viel Mist gebaut, dich so enttäuscht und verletzt... ich weiß nicht, ob ich mir das ohne weiteres glauben würde."

Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Ich bin eben so." Er klopfte sich auf die Brust. „Großes Herz und so..."

Ich streckte die Hand aus und legte sie auf seine eigene auf seiner Brust. Er spreizte die Finger ein wenig und ließ zu, dass meine dazwischen rutschten.

„Wie war das in der Klinik?"

„Ganz okay." Ich legte den Kopf ein wenig in den Nacken um ihm in die Augen schauen zu können. „Wir haben über meinen Rückfall gesprochen... Gut ist, dass ich seitdem nicht mehr getrunken habe und auch keine megakrassen Entzugserscheinungen habe. Ich habe welche, aber die halten sich im Rahmen..." Ich schloss die Augen und vergegenwärtigte mir, dass ich die Arbeitsplatte hinter mir hatte und damit einen gewissen Halt im Rücken. Und seine Hand, die mit meiner fest verschränkt war. Das fühlte sich real an. Realer als der ganze Tag heute.

„Ich will nicht mehr stationär gehen... deshalb haben wir über die Möglichkeiten einer ambulanten Therapie gesprochen. Ich sollte in der nächsten Woche täglich bei einem Arzt vorstellig werden, um meinen Gesundheitszustand überprüfen zu lassen." Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht kroch; allerdings konnte ich nicht sagen, ob das von seinem Blick kam oder ob es ein Symptom des Entzugs war. Dann öffnete ich meine Hand und ließ meine Finger aus seinen rutschen. Ich stützte mich mit beiden Händen hinten an der Arbeitsplatte ab und holte tief Luft. „Wir haben auch über... Medikation gesprochen."

Nick legte den Kopf schief und blinzelte. „Okay..."

„Ich hab mit meinem Therapeuten in der Klinik auch einmal kurz darüber gesprochen... wegen der Alpträume... aber ich..." Ich schloss die Augen. „Ich wollte das nicht."

Nick trat noch etwas näher an mich heran und legte mir die Hand an die Wange. Nur kurz. Er streichelte darüber und lächelte knapp. „Wieso nicht?"

„Ich will nicht total zugedröhnt sein."

Nick griff an mir vorbei, drehte die Flamme des Herdes etwas niedriger und lehnte sich neben mich. „Weißt du...", er rieb sich den Nacken, „als du weg warst, da... ging es mir echt", er zögerte sichtlich, „richtig schlecht. Damals, als Diana gestorben ist, hab ich auch viele Dinge nicht verarbeitet, die durch die Entführung dann wieder hochkamen... Ich kann mit Stress nicht so gut umgehen... diese PTBS ist immer noch da und..." Er sah vor sich und schlug ein Bein über das andere. Ich erinnerte mich dunkel daran, wie es zu seiner Suspendierung gekommen war. Daran, wie er bei diesem Einsatz ausgerastet war. An so manch anderes Mal, wo er sich aus Wut oder Stress einfach nicht im Griff gehabt hatte. An seine zermatschte Hand zum Beispiel. Die ständig lädierte Schulter, weil er es im Training übertrieben hatte...

„Ich hab mit einer Therapie angefangen im Sommer...", sagte er leise.

Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn überrascht an. Das hatte ich nicht gewusst.

„Ich wusste nicht, wie ich mit dem ganzen Mist umgehen soll. Es war..."

Ich stellte mich vor ihn und ohne lange nachzudenken küsste ich ihn sanft auf den Mund. Nick schloss die Augen und ließ zu, dass meine Zunge vorsichtig um Einlass bat und gewährte ihn mir. Dennoch ließ er denn Kuss ausklingen und seine Stirn sank gegen meine. „Es war scheiße", sagte er nur.

„Nimmst du Medikamente gegen die PTBS?", fragte ich leise.

Er zögerte, nickte dann aber. „Ein leichtes Schlafmittel und ein Antidepressivum."

„Krass."

„Ich hab mich auch lange dagegen gesperrt..." Er zuckte mich den Schultern. „Erst gegen das Schlafmittel und auch gegen das Antidepressivum...Aber es hilft."

Ich starrte ihn vollkommen sprachlos an. Ich war so in meiner Blase gewesen, dass ich ihn überhaupt nicht gesehen hatte. Ihn nicht, Moritz nicht. Meine ganzen Freunde nicht. Und vermutlich auch meine Eltern nicht. Aber das war ein anderes Thema.

„Was ich damit sagen will ist: Es dröhnt mich nicht weg... beides hat mir geholfen, als es mir richtig mies ging, und ich dachte, ich schaffe das nicht mehr." Er hob den Blick und sah mich vollkommen klar an. „Wenn die Ärzte es dir vorschlagen, schlag es nicht automatisch aus. Vielleicht hilft es dir..."

„Geht es dir jetzt besser?" Meine Unterlippe bebte.

„Viel besser..." Er lächelte und legte den Kopf schief. „Aber ich hab einfach viel im Kopf und keine Ahnung, wie das jetzt weitergehen soll..."

Ich legte ihm die Hand an die Wange, wie er es zuvor bei mir gemacht hatte. Sanft schob ich ihm Lippen auf seine und verharrte dort einen Augenblick, bevor ich mich von ihm löste und meinen Kopf auf seine Brust bettete. „Salamischeibchentaktik... Schritt für Schritt", flüsterte ich. Nick lehnte seinen Kopf gegen meinen und so standen wir eine ganze Weile da. Ich genoss es einfach, seine Wärme zu spüren und er schien das gleiche zu tun.

Als sich unsere Blicke dann trafen, lag darin ein Vertrauen, eine Intimität, die man nicht erzwingen konnte. Ich wusste, dass er mich noch liebte, dass er nie damit aufgehört hatte und es vermutlich auch so schnell nicht tun würde.

Nick fuhr mir mit dem Zeigefinger die Augenbraue nach. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch er schwieg, seufzte nur leise und küsste meine Stirn. „Hast du Hunger?"

Ich sah ihn an und grinste. Dann schielte ich zu Küchenplatte. „Nicht unbedingt auf Curry..."

Nick blinzelte. „Dein Ernst jetzt?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt... Ich hatte noch nie Sex auf 'ner Küchenplatte und der Sex mit dir ist nur 'ne 7, also..."

Er rollte die Augen. „Oh. Man." Er schlang beide Arme locker um mich und musterte mich kopfschüttelnd. „Du bist ziemlich frech, dafür dass du mich vorhin so in Angst und Schrecken versetzt hast. Du müsstest eigentlich alles tun, um-"

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und schob mich ihm etwas entgegen, bis ich seine Lippen erreichen konnte. Er schmeckte noch immer etwas nach Kokosmilch und ich schloss die Augen, als ich spürte, wie er beide Hände die Gesäßtaschen meiner Jeans schob und mich etwas näher an sich heranzog.



Zwanzig Minuten später waren meine Wangen rosig, mein Magen voll und Nicks Grinsen dümmlich, als wir auf der Couch lagen, er mir den Rücken kraulte und er in die Stille einer Folge Blacklist fragte: „'Ne 7,5, ja?"

„Ja, flipp nicht aus, okay?"

Eine 7,5 und die Erkenntnis, dass man die Herdplatte vorher erst vollständig abkühlen lassen sollte, bevor man irgendeinen Blödsinn auf der benachbarten Arbeitsplatte veranstaltete. Immerhin konnte ich diese Fantasie jetzt getrost von meiner To-Do-Liste streichen. Und Nick hatte sich tatsächlich sehr ins Zeug gelegt – und sich die 7,5 mehr als redlich verdient. Wenn er wüsste, dass er schon längst zweistellig notiert war...

„Entschuldige?" Er grinste breit und gab mir einen Klapps auf den Hintern.

„Au! Da hab ich doch-"
„Ich weiß..."

Die Herdplatte war eben noch an gewesen und... „Du bist gemein."

„Ja ja, ich schmier dir nachher gerne Wund- und Brandgel drauf..." Nick feixte und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

„Nick?"
„Mh?"

Mit geschlossenen Augen lauschte ich seinem Herzschlag.
Vielleicht war der Sex zu früh.
Vielleicht hatte Dr. Bärenfels recht und ich begab mich von einer Abhängigkeit in die Nächste.
Vielleicht war er wirklich krank vor Sorge um mich.
Vielleicht. Aber mich absoluter Sicherheit wusste ich, dass der Canyon zwischen uns keiner mehr war.
Wir hatten angefangen, ihn mit kleinen Steinchen zu füllen. Stein um Stein. Und ich wusste einfach, das spürte ich, dass wir damit weiter machen würden, bis die Distanz zwischen uns verschwunden war. 

Ich drehte den Kopf soweit, dass ich meinen Blick mit seinen karibikblauen Augen verhaken konnte. Ich liebe dich, wollte ich sagen. Aber ich hatte Angst, es nicht herauszubekommen. Nüchtern. Ich hatte es ihm noch nicht gesagt, seitdem ich nüchtern war. Ich erinnerte mich dunkel, dass ich es ihm in der Nacht gesagt hatte, als er in Düsseldorf gewesen war, aber da war ich betrunken gewesen. Betrunken und verstört. Betrunken, verstört und verwirrt und berauscht. Er hatte es mir so oft gesagt. Wieder und wieder. Wie ein Mantra, ganz so, als ob er keinen Zweifel daran lassen wollte, dass es wirklich so war. Dass er mich liebte. Dass ich mich darauf verlassen konnte, dass ich von ihm geliebt wurde, egal, was passierte.

Und ich bekam es dennoch nicht heraus. Ich hatte es ihm so oft gesagt. Ich liebte ihn. Noch immer. Er war mir so unfassbar wichtig. Aber aussprechen konnte ich es nüchtern einfach noch nicht.

Ich liebe dich.




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Ach, tut das gut... Endlich wieder ein bisschen rosa nach dem ganzen Drama...🥰

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