Krisentreffen II: 23 ~ Pi
„Galoppieren wir noch ein Stück?" Maica sah mich an und grinste. „Du musst echt keine Angst haben. Der ist total lieb." Sie klopfte dem Wallach, auf dem sie saß, sanft den Hals und sah total zufrieden aus.
Es war kalt heute, aber eigentlich war das Wetter ganz gut. Zuerst hatte ich keine Lust gehabt, als Jan den Ausflug vorgeschlagen hatte. Ich wollte nicht zu Pico. Mein Herz hatte sich zusammengezogen bei dem Gedanken, aber jetzt, nachdem wir schon seit anderthalb Stunden im Gelände unterwegs waren, wusste ich nicht mehr, warum.
Ich hatte Pico fast vergessen gehabt.
Ich hatte ihn damals zu mir holen wollen. Und dann war das alles passiert und ich hatte Pico vergessen. Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Der junge Hengst zuckelte aufgeregt im Schritt neben Maicas Wallach her und ich fühlte mich, als ob ich nie aus dem Sattel gestiegen wäre.
Dieses Pferd war ein Engel. Dafür, dass er noch so jung war, war Pico wirklich ein Geschenk. So brav und abgeklärt.
„Sicher?"
„Sicher." Sie bog auf einen breiten Weg ab. Sie ließ mich vor und wir trabten an. Pico schnaubte ab und trat frisch voran. Ich klopfte ihm den Hals und strahlte. Mir hatte das gefehlt. Dass Jan mich auf dieses Pferd gezwungen hatte, dafür sollte ich ihm eigentlich auf ewig dankbar sein.
Ich saß ein paar Tritte aus, gab dann die Galopphilfe und der junge Hengst fiel prustend in Galopp. Er schüttelte einmal den Kopf, machte aber keine Anstalten zu bocken, sondern griff nur frisch voraus und streckte sich. Der Wind wehte mir kalt ins Gesicht und ich strahlte. Wow. Dieses Pferd...
Maica lachte hinter mir. „Gib Gas, Pi. Der schläft ja ein! Und Günther auch!" Ja, das Wundertier, auf dem sie saß, hieß Günther. Lio ʻOihana war der Name des Wallachs, hatte sie vorhin erzählt. Das sei hawaiisch und bedeutete in etwa so viel wie Wildes Pferd. Aber da der Besitzer mit Vornamen Günther hieß, sei das deutlich einfacher.
Ich schnalzte leise mit der Zunge und Pico reagierte prompt. Er zog an und ich stellte mich leicht in die Bügel. Mein Herz machte einen Satz. Es war Jahre her, dass ich durchs Gelände galoppiert war. Zuletzt mit Carrie. Carrie war immer grell im Gelände gewesen. Ich war in der Gruppe immer auf der Hut gewesen, ob sie mir nicht abzwitschern würde. Aber jetzt hatte ich nicht mal Bedenken. Pico war total bei mir. Auch als ich merkte, dass Maica allmählich zu uns aufschloss, ließ er sich nicht aufstacheln. Ein Ohr blieb immer bei mir, ganz konzentriert und als wir zum Trab durchparierten, war ich hellauf begeistert.
„Und? Hatte Franky doch eine gute Idee?" Maica gab Günther die Zügel hin und lachte. Sie hatte das Gezeter am Auto mitbekommen und sich eingemischt, wie sie es immer tat. Jan hatte mich mit Basti schicken wollen, aber --- nichts gegen Basti, ich mochte ihn wirklich, aber ich hatte in den letzten Tagen schon das Gefühl, dass Jan mich beobachtete – und Basti war quasi Jan in breiter und blond. Die beiden waren ein Kopf und ein Arsch und wenn Jan mich mit Basti ins Gelände schickte, dann war das, wie mit einem Babysitter – zumindest fühlte es sich so an.
Maica war zwar mit ihm verheiratet, aber bei ihr hatte ich immerhin nicht das Gefühl, das sie Jan nach dem Mund redete oder ihm irgendetwas schuldig war oder mich aushorchen wollte. Oder mich bemutterte. Und das hatte ich in Düsseldorf immerhin mehr als genug gehabt.
„Ich will ihm aus Prinzip nicht recht geben." Ich grinste.
„Ach, komm schon..." Maica fuhr Günther durch die lockige Mähne. „Franky nervt, aber manchmal - etwa ein bis dreimal im Jahr - hat er gute Ideen. Diese war sicher sehr gut. Weil Pico ist wirklich..." Sie seufzte und ich konnte schwören, dass ihren Herzchen aus den Ohren flatterten. „Hach... ich mag den..."
„Und trotzdem schiebt ihr ihn ab."
„Jepp." Sie seufzte schwer. „Glaub mir... leicht fällt uns das nicht..."
„Warum?"
Sie verzog das Gesicht und wickelte Günnis Mähne um ihre Finger. „So ist es halt..."
„Wieso?" Ich legte den Kopf schief.
Maicas Gesichtsausdruck veränderte sich und sie räusperte sich verlegen. „Ähm... Ja..." Sie sah an sich hinunter und zuckt mit den Schultern. „Organisatorische Gründe." Sie seufzte und sah mich offen an. „Denk nicht lange nach, Pi. Du wolltest den schon mal mitnehmen. Was hält dich auf?"
Ich sah sie an und konnte ihrem Blick kaum Stand halten. Am liebsten hätte ich sie über diese ominösen organisatorischen Gründe ausgefragt, aber etwas hielt mich zurück. Vielleicht war es die Wucht, mit der ihr Blick mich festhielt und sie wartete, bis ich antwortete.
„Ich weiß es nicht." Aber um ehrlich zu sein, wusste ich einfach nicht, wo ich in drei Wochen sein würde. Im Moment war ich noch bei Jan unter gekrochen, aber ich wusste, dass das kein Dauerzustand sein konnte. Ich hatte mir ein Attest besorgt und bei der Uni eingereicht. Ich war beurlaubt und bekam die Unterlagen der Vorlesungen zugeschickt. Man zeigte „großes Verständnis" für „meine besondere Situation" und ich sollte mir Zeit lassen, um zu den aktiven Vorlesungen zurückzukehren. Das verschaffte mir zumindest Zeit.
Aber ich wusste immer noch nicht, ob ich weiterstudieren wollte oder nicht. Weiterstudieren war so... absurd. Ich wollte weiterstudieren. Zumindest theoretisch. Aber ich hasste dieses Studium, diesen Studiengang. Und ich wollte auf gar keinen Fall zurück in diese Wohnung. Aber ich wollte auch zurück nach Heidelberg, weil ich gerne dort war, die Stadt mochte und ---
--- und da war die Sache mit Nick. Ich war noch immer sauer auf ihn und wir hatten seit dem Vorfall am Morgen nach Beckys Hochzeit noch immer Funkstile. Jan hatte noch einmal versucht mich darauf anzusprechen, aber ich hatte abgeblockt. Ich wollte nicht darüber sprechen. Nick übertrieb maßlos. Er hatte mich verletzt mit seiner Behauptung und er hatte nicht mal versucht, sich in den letzten Wochen bei mir zu entschuldigen.
„Also, wenn du mich fragst, solltet ihr Pico später aufladen und mitnehmen." Maica grinste.
„Und dann?"
„Naja, dann fahrt ihr ihn nach Endingen und stellt ihn neben Calli. Wolf hat bestimmt ein Zimmer frei." Sie kicherte.
Ich wusste, dass in Callis Stall Boxen frei waren. Wolf Rufinger hatte immer ein oder zwei Boxen frei für Verkaufspferde oder Lehrgangsreiter. Aber ich wusste ja noch nicht mal, wie lange ich noch bei Jan würde wohnen können. Irgendwann würde ihm sicher die Geduld mit mir reißen und ich musste eine Lösung finden. Nur: ich wusste noch nicht, was ich machen sollte.
Heidelberg war einfach noch keine Option für mich. Ich konnte einfach nicht in die Wohnung zurück. Dort war alles passiert. Ursprünglich war mein Plan gewesen, dass ich vielleicht zu Nick...
Er war immer mein Fels gewesen – bevor das alles passiert war – aber jetzt... er hatte mir dieses „Ding" an den Kopf geworfen und... nein, das schied vollkommen aus.
Heidelberg schied vollkommen aus.
Was sollte ich aber dann mit Pico anfangen?
Und zurück nach Düsseldorf war gar keine Option. Und außerdem wartete ich nur darauf, dass meine Eltern mir den Geldhahn abdrehten.
„Ja, vielleicht..."
„Schau nicht so griesgrämig." Maica lachte. „Pico ist ein Geschenk. Wenn du mich fragst, solltest du das auf jeden Fall machen. Wenn Franky dir das Pony anvertrauen will: mach es. Coco hat er Alex gegeben, und für den wird das irgendwann ne A-Kader-Berufung werden."
Das wollte ich gar nicht. Ich wollte gar nicht mehr in den Sport. Ich hatte das alles gehabt. Mit Carrie. Und Carrie war tot. Ich wollte lediglich... Ja... was wollte ich?
Ich fuhr Pico durch die kurze, schwarze Mähne und schloss die Augen.
Zurück.
Zurück nach Hause.
Zurück zum Alltag, ohne ständig...
Ich schluckte und verdrängte die Bilder und den Drang nach...
„Das will ich gar nicht", sagte ich.
„Du warst gut."
Ich zuckte zusammen und schüttelte sofort den Kopf. Die Bilder von Carrie schossen in meinen Kopf. Das ganze Blut auf der Wiese, ich spürte das Gewicht ihres toten Kopfes auf meinen Beinen und starrte auf Picos braunen Hals vor mir. „Ich will nicht mehr Sport reiten. Und ich will auch nicht mehr... Ich will das alles nicht mehr, Maica. Ich habe mit Carrie so viele schlimme Dinge erlebt... und dann sind jetzt diese Dinge mit mir passiert. Ich hab Angst, dass..."
„Dass das nochmal passiert." Sie sah mich an und schwieg eine Weile.
Ich nickte.
„Schlimme Dinge passieren nun mal." Sie holte tief Luft und ich hatte das Gefühl, dass sich eine beängstigende Stille über den Wald legte. Wie damals, als Moritz und ich im Wald gewesen waren und Lütti und entgegen gekommen war. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter und ich konnte nicht sagen, warum. „Aber... Das hat nichts mit Schicksal oder so zu tun. Auch nicht damit, dass du ein schlechter Mensch bist, wenn du das glaubst." Sie lächelte knapp. „Karma gibt es nicht."
„Karma is a Bitch."
„Das habe ich früher auch immer gesagt." Sie lächelte. „Aber Karma gibt es nicht. Nur weil dir damals und jetzt diese Dinge passiert sind, bedeutet das nicht, dass du ein schlechter Mensch bist oder du vom Pech verfolgt bist. Pico ist ein Glückskind. Er wird dir Freude machen, weil das sein Gemüt ist. Er ist die Sonne."
„Wie du."
„Was?"
„Jan hat das mal gesagt. Du wärst wie die Sonne."
Maica zögerte kurz. „Franky spinnt. Das muss lange her sein. Ich bin in erster Hinsicht eine Plage."Dann strich sie sich nachdenklich über den Bauch und sah zum Himmel. „Komm, wir drehen um. Mir wird kalt."
Da hatte ich nichts dagegen. Wir waren recht tief im Wald und brauchten eine Weile zurück zum Stall. Dort angekommen versorgten wir die Pferde und setzten uns ins warme Büro, wo uns Maica einen heißen Kaffee kochte.
„Wo sind die Jungs?"
Maica zuckte mit den Schultern. „Vermutlich drüben auf der Vereinsanlage. Basti hat zwei junge Pferde von einem Bekannten in Beritt, vermutlich zeigt er die Jan. Warte ich ruf ihn an." Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche, legte ihre Füße überkreuz auf den Schreibtisch und wählte. „Herzblatt, wie weit seid ihr? Ja... Ja... Verstehe. Meint ihr wirklich, dass das eine gute Idee ist?" Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch und lauschte. „Gib mir mal das Master-Brain der Operation. Schatz, gib mir einfach Franky. Pronto!" Sie rollte die Augen. Dann sagte sie nur: „Franky, das ist die aller dümmste Idee, die du jemals hattest. Ever." Sie lauschte. „Ich will nur sagen, dass die Idee nicht gut ist. Als weiblichen Input." Sie seufzte schwer und legte auf. „Idioten."
„Was ist?"
Maica rollte die Augen. „Nichts. Sie sind dumm. Männer sind dumm. Sie haben dumme Ideen. Das ist."
„Was für dumme Ideen?"
Sie stand auf. „Sehr dumme." Dann nickte sie zur Tür. „Auf Prinzessin, wir gehen zu den Jungs."
Automatisch versteifte ich mich.
102 mal.
Maica lief zur Tür.
Ich folgte ihr wie auf Schienen.
Über den Hof.
Die Straße entlang.
Zur Vereinsanlage die Straße hinunter.
102mal.
Prinzessin.
Der Puls hämmerte in meinem Kopf.
Schweiß lief meinen Rücken hinunter.
Mein Verstand setzte aus, als wir das Reiterstübchen betraten.
Und die blanke Panik einsetzte, als ich sah, was vor mir lag.
...............
Ich bin mal wieder aus meiner Ecke gekrochen, meine Lieben🐎
Habt ein schönes Wochenende 🤷♀️😎🌋
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