Kreuzherreneck: 17 ~ Pi
„Hi...", er atmete durch, „Ich... ähm... ich hab ne neue Nummer..."
Ich hielt die Luft noch immer an. Ich hatte seit fast anderthalb Monaten nichts mehr von ihm gehört. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatten wir uns wegen Jana gestritten.
„Ich... wusste nicht... ich hab nicht gewusst, was ich sagen soll... Ob du nach allem, was passiert ist überhaupt..." Er brach ab und schwieg einen Moment. „Pi... Prinzessin, es..."
„Nein..." Mir wurde schlecht. Übelkeit stieg in mir auch und ich hatte das Gefühl, mich sofort übergeben zu müssen.
Prinzessin.
102mal.
Wieder und wieder.
102mal.
Prinzessin, mach die Augen zu.
Hallo. Prinzessin.
Moritz setzte an noch etwas zu sagen.
„Du nennst mich nie wieder so, hörst du? Nie wieder." Ich holte zittrig Luft. „Nie wieder, Moritz..."
Mo schwieg. Das Schweigen war zäh und unnachgiebig und ich versuchte mir vorzustellen, wie er aussehen würde, wenn er mir gegenüber auf dem Bett sitzen würde, aber es gelang mir nicht.
Dann hörte ich ihn zittrig Luft holen. „Pi..."
„Nie. Wieder." Ich würde auflegen. Sofort. Ich glaube, er spürte das.
„Okay... gut... nie wieder..."
Ich schluckte und zog die Beine an. In meinem Kopf war ein gigantischer Gedankenstrudel, angefangen bei meinem Verdacht gegen ihn. Die ganzen Erinnerungsfetzen, das Freundschaftsband. Die ganzen losen Bruchstücke unserer gemeinsamen Zeit im Internat. Die schemenhaften Erinnerungen an die Party, die sich in den letzten Wochen immer mehr zu etwas manifestiert hatten, was man großes Ganzes nennen konnte.
Moritz schien seine Gedanken zu sortieren, denn er brauchte ein e ganze Weile, bis er fortfuhr – oder begann. „Ich... wollte dir nur sagen, dass..." Er holte tief Luft. „Ich wollte das alles nicht... Das alles... Das ist alles meine Schuld... und... Mir tut das alles so leid..."
„Was tut dir leid?"
Mo zögerte, genauso, wie Nick gezögert hatte. Nur dass er, im Gegensatz zu meinem Freund, Luft holte und mir in der nächsten halben Stunde am Telefon erzählte, was für eine Scheiße Jana damals abgezogen hatte. Als er am Ende angekommen war, klang er müde und aufgewühlt, wie ich ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte. Er wirkte seltsam nervös.
Ich schwieg. Ließ sacken, was er gerade erzählt hatte. Es passte alles zusammen. Es passte zu Jana. Jana, die so wankelmütig gewesen war, so sprunghaft. Dass mir das nie aufgefallen war mit den Medikamenten, obwohl wir uns ein Zimmer geteilt hatten. Ich hätte das doch wissen müssen. Aber es passte. Es passte zu ihrer Eifersucht und zu ihrem Verhalten. Und auch... zu Lütti, wie er früher gewesen war. Er hatte immer versucht, irgendwie dazu zu gehören. Und um ehrlich zu sein konnte ich mir auch vorstellen, dass er irgendwie Daniels Handy gehackt hatte und das Foto von mir verbreitet hatte – das passte eher zu ihm als zu von Söder.
Und Jana...? Ja... die Sache mit Carrie war bitter. Wirklich bitter... Ich konnte mir wirklich gut vorstellen, dass sie ausgerastet war, nachdem sie das von mir und Mo gehört hatte – von Lütti. Ich war erleichtert, dass Mo unschuldig war – auch wenn er sich offensichtlich die Mitschuld gab.
„Ich hab das alles gewusst...", sagte er leise, „dass sie krank war... und ich... ich hätte... ich hätte das verhindern müssen. Ich hätte nicht Schluss machen dürfen... ich hätte..." Mo brach ab und schwieg. „Mir tut das so unendlich leid, Sophie..."
Ich hatte trotzdem das Gefühl, dass in seiner Erzählung, irgendetwas fehlte. Ein Detail, irgendetwas. Aber ich konnte nicht sagen, was es war.
Ich kann nicht mehr.
Ich halte das alles nicht mehr aus.
Pi, ich...
Ich sah Mo vor mir stehen, damals im Wald. Mit Tränen in den Augen, als er mir gesagt hatte, dass er sich von Jana trennen würde. Wie entsetzt er gewesen war, dass ich mich an nichts mehr von dieser Nacht hatte erinnern können. An gar nichts.
Du bist keine hässliche Unke.
„Ja...", murmelte ich und dachte plötzlich an Nick. An Nick, wie er im Krankenhaus vor mir gesessen hatte und mir gesagt hatte, dass es ihm nicht zustand mit mir über die Dinge zu reden, die Moritz mir zu sagen hatte. Ob das diese Dinge gewesen waren? Oder war da noch mehr?
Steht er auf dich?
Das hatte so abwegig in meinen Ohren geklungen... aber jetzt?
Ich lauschte Mos Atemzügen nach und schloss die Augen. „Moritz?"
Er schwieg, aber ich wusste, dass er mir aufmerksam zuhörte. Das tat er immer.
„Du hast mich drei Jahre lang belogen...", flüsterte ich und wartete auf eine Reaktion von ihm. Er hatte all diese Dinge berichtet mit roboterhafter Gleichgültigkeit, auch von Halloween damals. „Du hast einfach so getan, als sei auf dieser Party nichts passiert als die Knutscherei."
Ich hörte, dass etwas raschelte, dann Stille. „Ja...", sagte er schließlich gedehnt, sonst nichts. Seine Stimme klang belegt, rauer als vorhin, als steckte ihm etwas im Halse fest.
„Warum?"
Wieder Stille, ewig lang, bis er antwortete. „Weil ich nicht wollte, dass sich zwischen uns etwas ändert...", flüsterte er. „Ich... wollte nicht... dass..." Er brach ab und schwieg. Ich spürte, dass er mit sich einen Kampf ausfocht und ich verstand nicht, welchen. Wobei: eigentlich verstand ich das vermutlich schon. Es war mir mittlerweile sehr wohl klar. Ich wusste nur nicht, ob ich es hören wollte. Ich wusste aber auch nicht, ob es jetzt noch einen Weg zurück gab.
Mo seufzte schwer. „Ich wollte dich einfach nicht verlieren. Aber das ist jetzt ohnehin egal..."
Er holte tief Luft. „Weißt du... mir war immer klar, dass... Du hast es damals im Wald selbst gesagt. Es war nicht mal ein richtiger Kuss. Zumindest konntest du dich nicht daran erinnern. Warum hätte ich..." Er stöhnte. „Du hast das nicht so gesehen. Für dich war das ein Spiel. Flaschendrehen und..." Er brach ab und ich verstand.
„Für dich nicht."
Du bist keine hässliche Unke.
Ich kann das nicht mehr.
Aber du liebst sie doch.
Das ist ja das Problem.
„Nein, für mich nicht." Mo schwieg wieder. So lange, bis es unangenehm wurde und er die Stille zwischen uns nicht mehr aushielt. „Du warst für mich nie ein Spiel."
„Das wusste ich nicht..."
„Ich weiß... Und das ist auch okay so..." Er seufzte schwer. „Wirklich. Ich will nur, dass du glücklich bist. Ich hab das ernst gemeint, als ich zu dir gesagt habe, dass du dir ein bisschen Glück verdient hast – meinetwegen auch mit dem ätzenden Plitzisten..." Er stöhnte genervt.
„Er ist nicht ätzend."
Moritz blieb eine Weile still und atmete am Ende geräuschvoll aus.
„Warum hast du nie was gesagt?", fragte ich leise.
„Hätte es was geändert?"
Keine Ahnung. Ich wusste es ehrlich nicht. Ich dachte an die unzähligen Stunden, die er und ich als Freunde nebeneinander in meinem oder seinem Bett geschlafen hatten. Ich hatte nie soweit gedacht. Ich hatte nie dieses Prickeln gespürt, das ich bei Nick spürte – oder das hatte ich bei von Söder zum Beispiel auch nie gehabt und wir hatten trotzdem eine Menge Spaß gehabt und ich hatte ihn gemocht. Wirklich gemocht irgendwie. Und Mo... Mo mochte ich wirklich sehr. Er war mir wichtig. Teil meines Lebens. Mein bester Freund. Ich liebte ihn.
„Ich weiß es nicht...", murmelte ich. „Ich habe nie darüber nachgedacht..."
„Siehst du... das ist schon Antwort genug..." Mo seufzte schwer und ich hörte wieder das Rascheln im Hintergrund. „Wie ist Düsseldorf?"
„Furchtbar, was denkst du denn?" Ich lachte trocken. „Ich könnte die ganze Zeit nur Ramazotti trinken..."
„Mach es bitte nicht...", gab er leise zurück.
„Wieso nicht?"
Moritz zögerte einen Moment. „Weil keiner bei dir ist, der auf dich aufpasst. Ich nicht, Luke nicht, Ida nicht. Und dein ätzender Plitzist auch nicht..." Ich glaubte eine gewisse Anspannung aus seiner Stimme heraus zu hören. „Im Ernst, Pi... bitte... bau in Düsseldorf keinen Scheiß, ja?"
Ich schluckte. Meine Kehle war furchtbar trocken. Viel zu trocken.
„Pi? Ich weiß, wie schlimm Düsseldorf für dich ist. Wenn was ist, melde dich. Bei mir, Ida, Nick, bei wem auch immer, aber bau da oben bitte keinen Scheiß, ja?"
„Ja... ich... ich pass schon auf mich auf..."
Ramazotti.
Chardonnay.
Sambuca.
„Es war schön, deine Stimme zu hören..."
„Ja", murmelte ich.
„Schlaf gut, Sophie..."
„Du auch...", gab ich zurück und legte auf.
Ich ging spazieren.
Ganz offiziell ging ich spazieren. Es war hell draußen, es war bewölkt und meine Eltern hatten mir vier Stunden Ausgang gewährt. Drei Stunden. Das reichte.
Bau keinen Scheiß.
So sehr ich Mo auch liebte, dieses Versprechen konnte ich ihm heute nicht geben. Ich war... Ich musste...
Der Streit mit meinen Eltern.
Der Streit mit Nick.
Die Telefonate mit Nick.
Die Sehnsucht nach Nick.
Die ganzen Geständnisse von Mo.
Der Therapeutentermin.
Lüttkenhaus.
Der Keller.
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern.
Kälte.
Hunger.
Einsamkeit.
Ich fuhr mit der U-Bahn in die Innenstadt und lief ein Stück am Rhein entlang. Ich genoss den frischen Wind in den Haaren. Meinen viel zu langen Haaren. Ich blieb vor dem Schaufenster eines Billigfriseuralons stehen und starrte auf mein Spiegelbild. Meine Haare waren durch den Keller mitgenommen. Ich hatte immer noch Knoten darin und traute mich nicht, sie auszukämmen.
Der Laden war leer. Ich sah auf die Uhr. Ich hatte eine halbe Stunde gebraucht. Dreieinhalb Stunden Freiheit hatte ich noch. Ich stieß die Tür zu dem Laden auf und mein Herz schlug plötzlich viel schneller. Ich hatte mir noch nie die Haare abschneiden lassen.
Als ich fünf Minuten später auf dem Stuhl saß und die junge Friseurin hinter mir stand und fragte, was sie tun sollte, sagte ich nur „abschneiden".
„Wie viel?", fragte sie.
Ich schloss die Augen und zog meinen Haargummi heraus. „Alles", gab ich müde zurück und ihre Augen weiteten sich.
Eine Stunde später hatte keine langen Haare mehr. Meine Mutter würde durchdrehen. Mir gefiel es gut. Sie waren etwa schulterlang, etwas kürzer und ich konnte gerade so noch einen Pferdeschwanz machen. Longbob. Ich fand es toll und erkannte mich im Spiegel kaum wieder.
Eine Stunde später stand ich mit meinem schicken Longbob strahlend mit einem Ramazotti in der Hand an der Theke meiner liebsten Kneipe in der Altstadt – dem Kreuzherreneck – und dachte an die Worte von Moritz.
„Bau keinen Scheiß", murmelte ich und stieß mit mir selbst an. Ich sah mein verzerrtes Spiegelbild gegenüber der Theke im Kreuzherreneck und lächelte matt.
Ja, Mo, ich würde versuchen keinen Scheiß zu bauen. Zu meinem zweiten Ramazotti bestellte ich mir ein Glas Leitungswasser, genauso wie Mo und Luke es im Wunder immer gemacht hatten.
Wenn ich schon Düsseldorf war, würde ich wenigstens die Vorzüge genießen: Die längste Theke der Welt.
..........
Für alle, die sich gefragt haben, was eigentlich ein Kreuzherreck ist... jetzt endlich die Auflösung: eine Kneipe.
Wir hatten viel Spass 😉 mehrfach 😅
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