Der Abend mit Hannah und Julius war in Ordnung. Ich hatte mich zwingen müssen mit ihnen zu dem Mexikaner zu gehen, aber letztlich war es die richtige Entscheidung. Besser als zu Hause zu hängen. Das Gespräch mit Mo hatte mich mitgenommen und die Ablenkung tat gut.
Julius war so subtil nicht in Hannah verknallt, dass ich ihm gerne gegen das Schienbein getreten hätte. Die beiden wohnten seit etwa einem Jahr zusammen, nachdem Julius Bruder für ein Auslandspraktikum nach Barcelona gegangen war. Kiano studierte in Heidelberg Physik und Hannah hatte das Zimmer übernommen. Als Kiano dann nach dem Semester zurückgekommen war, war Hannah nicht mehr ausgezogen und Kiano hatte das Studienfach und die Uni gewechselt. Ich hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen und mit Julius auch nicht mehr wirklich darüber gesprochen. Das Verhältnis zwischen ihm und Kiano war immer angespannt gewesen, nicht zuletzt wegen Julius Lebenseinstellung und seinem Verhältnis zu Frauen.
Hannah bestellt an der Theke noch eine Runde Getränke, während Julius ihr still nach sah. Sein Blick verharrte viel zu lange an ihren Beinen, als es sich für Mitbewohner und Freunde gehörte.
„Du starrst ihr schon zu lange auf den Hintern, als dass sie eine Mitbewohnerin ist, dass ist dir schon klar, oder?"
„Ich hab ihr nicht auf den Hintern gestarrt."
„12 Sekunden. Ich hab die Zeit gestoppt."
„Hast du nicht..."
„16 Sekunden. Du starrst immer noch darauf."
Jetzt erst riss er den Blick los und sah mich an. „Gar nicht."
Ich grinste. „Du wirst rot."
Julius verzog das Gesicht. „Ich kann gar nicht rot werden. Das erlaubt mir mein afrikanischer Teint nicht."
Dennoch sah er prüfend in die Fensterscheibe und fuhr sich verlegen durch den Nacken, als Hannah mit zwei Flaschen Bier und einer Flasche Bionade zurückkam. Die Bionade schob sie mir über den Tisch zu. „Ich hasse dich...", murmelte Julius.
Ich lachte trocken.
„Jungs, seid nett zueinander..."
„Wir sind immer nett zueinander...", sagte ich zu Hannah und zwinkerte Julius zu, der ein bisschen tiefer unter den Tisch rutschte.
Hannah hob wissend eine Augenbraue. „Dann will ich nicht wissen wie ihr seid, wenn ihr Krach habt."
„Wir hatten noch nie richtig Krach." Julius zuckte mit den Schultern. „Nicht ernsthaft jedenfalls."
„Als du in den Chile die Rückflug Tickets verschlampt hast war es kurz davor."
„Aber das ging eher von deinem Schwager aus."
Das stimmte. Tom war tatsächlich sehr unentspannt gewesen, als die Tickets verschwunden gewesen waren. Aufgetaucht waren wir dann in Julius Dreckwäsche. Ich hatte Toms Gezetere immer noch im Ohr: Ich hab's euch doch gesagt! Wer reist heutzutage noch mit Papiertickets! Digitalisierung!
„Apropos... wie läuft die Hochzeit? Gibt's da Neuigkeiten?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin raus", ich sah kurz zu Hannah, die mich interessiert ansah. „Ich hab mich wegen der Sache mit Pi rausgehalten... Das letzte was ich gehört habe ist, dass es irgendein echte Problem mit Stuhlhussen gab."
„Echt jetzt?"
„Ja, im Krankenhaus haben sie das erzählt. Ich dachte erst, es sei ein Scherz, aber wohl doch nicht." Die Stuhlhussenthematik war immerhin seit Monaten ein schlechter Running-Gag zwischen mir und Becky.
„Bist du beim Junggesellenabscheid eigentlich dabei?", fragte Julius und ich starrte ihn überrascht an.
„Wann ist der?"
„In zwei Wochen."
Ich stöhnte. „Den hab ich vergessen. Scheiße..."
„Bist du nicht in der Whatsapp-Gruppe?"
„Ne, die hab ich stumm geschaltet als..." Ich stöhnte erneut und Julius fluchte schmerzerfüllt. Hannah schüttelte den Kopf. Sie musste ihn unter dem Tisch getreten haben.
„Du bist unsensibel, Julius!", zischte sie.
„Was?"
„Weil Nick in den letzten Wochen sicher nicht euren Junggesellenabschied im Kopf hatte!"
„Ja, Tom auch nicht!", rechtfertigte sich Julius. „Wir haben das Programm ja geändert und hätten ihn abgeblasen, wenn..." Julius sah mich an und seufzte schwer. „Wirklich. Das weißt du, oder?"
Ich schloss die Augen. „Ja. Das weiß ich. Die Mädels machen ihr Programm auch. Das ist alles okay..." Ich holte tief Luft. „Ja... bin dabei. Ich muss ja aufpassen, dass der keinen Blödsinn baut. Er heiratet immerhin meine Schwester."
Julius grinste. „Und als Trauzeugin? Musst du da eigentlich auch mit?"
„Gott behüte. Die gehen Lamas streicheln und Penisse töpfern."
Hannah verschluckte sich an ihrem Bier. „Ernsthaft.?!"
„Penis-Windlichter im Odenwald bei einer Tantra-Ausbilderin. Kein Witz." Ich trank die Bionade leer und zog zwanzig Euro aus meinem Portemonnaie. „So, Kinder. Viel Spaß noch... Ich muss nach Hause." Ich stand auf, schob den Schein und die Bionadenflasche und zwinkerte Julius zu. „16 Sekunden, Mann... Gute Nacht, ihr zwei."
„Arsch." Er zeigte mir den Mittelfinger. Ich lachte.
„Schlaf gut, Hannah." Ich klopfte ihr sanft zum Abschied die Schulter und machte mich auf den Heimweg.
In meiner Wohnung saß ich noch einen Moment auf dem Balkon. Ich hasste die Stille der Wohnung. Es war ein bisschen, wie Isa gesagt hatte: als ob Geister durch den Flur liefen. Obwohl der Flur dunkel war, hörte ich Schritte. Und obwohl ich wusste, dass ich alleine war, fühlte es sich an, als ob sich die Glastür zur Küche öffnen würde und jemand zu mir hinaus treten würde.
Diana vielleicht.
Oder Pi.
Es war frisch geworden. Nicht mehr ganz Sommer, aber auch nicht Herbst. Ich hatte mir eine Decke mit raus genommen und eine Jacke und sah hinaus auf den Innenhof in die beleuchteten Wohnungen meiner Nachbarn.
Wie gerne hätte ich sie jetzt hier... Ich seufzte schwer und schloss die Augen. Und damit meinte ich nicht Sophie. Wie gerne würde ich jetzt mit Diana hier sitzen und ihr von dieser ganzen Scheiße erzählen. Nur einmal. Nur einmal noch mit meiner besten Freundin auf der Welt reden, ihr all diese Dinge sagen, die sich in den letzten anderthalb, fast zwei Jahren angestaut hatten. Der Frust, die Wut, die Angst. Ich wollte ihr einfach gerne erzählen was passiert war. Dass Becky heiraten würde... Dass Tom sie an Silvester gefragt hatte, wie er es uns beiden damals erzählt hatte. Und dass die rote Zora diese Hochzeit generalsstabmäßig innerhalb eines Jahres geplant hatte. Ich würde ihr das wirklich gerne erzählen...
Und ich würde ihr auch wirklich gerne von Pi erzählen. Julius hatte vermutlich recht damit, dass sie nicht gewollt hätte, dass ich mich nicht mehr verliebe. Sie wäre vermutlich durchgedreht vor Freude und jubelnd mit einem Gin Tonic in der Hand durch den Flur getanzt. Sie hätte wild auf der Couch herum gehüpft. „Werde endlich wieder glücklich", hätte sie gesagt, aber sicher nicht, ohne so einen kleinen Anflug eines eifersüchtigen Funkelns in ihren Augen.
Aber Diana war tot. Sie schlich nicht durch den Flur, tanzte nicht durch die Küche, würde nicht durch die Tür treten.
Sie war tot.
Ich starrte weiter auf die erleuchteten Fenster.
Immerhin hielt ich den Gedanken mittlerweile aus.
Immerhin ertrug ich ihn.
Zumindest im Kopf. Ich brach nicht mehr zusammen. Das war ein Fortschritt, oder?
Das Vibrieren meines Handys schreckte mich aus meinen Gedanken. Es lag neben meinen Beinen auf der Bank. Ich griff danach, rechnete mit einer Nachricht von Julius, stutzte aber.
Mein Herzschlag setzte erst aus, dass stolperte er los und sprintete los.
Pi: Hi...
Ich starrte die simple Nachricht mit offenem Mund an und schluckte, denn ich sah, dass sie noch online war und noch schrieb.
Pi: Ich hab deine Mail heute erst bekommen.
Mein Handy war aus...
Mein Hals schnürte sich, genau wie meine Brust, eng zusammen.
Du solltest gehen.
Geh Nick. Bitte.
Ich hatte von ihr nichts mehr gehört, seitdem ich die Klinik verlassen hatte. Diese beiden Mails jetzt zu lesen fühlte sich so komisch an. Komisch und gut zu gleich. Erlösend.
Pi: Es tut mir leid, dass ich dich rausgeworfen habe. Ich war einfach sehr fertig. Das war alles sehr viel für mich. Es tut mir wirklich leid.
Ich atmete durch. Las die Mail erneut. Mein Daumen schwebte über der Tastatur, aber sie schrieb noch immer.
Pi: Ich bin seit Anfang der Woche bei meinen Eltern in Düsseldorf. Meine Schwester ist auch da.
Pi: Sie machen mich alle wahnsinnig.
Ich musste lächeln. Sie hörte auf zu tippen, aber ich sah, dass sie noch online war. Ich tippte eine Antwort, ohne lange nachzudenken.
Ich: Soll ich dich anrufen?
Statt einer Antwort klingelte mein Handy.
........
☎️
Ist bestimmt seine Mutter dran, oder was meint ihr?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top