Hänsel und Gretel: 13 ~ Pi

Anfang November vor drei Jahren

Hänsel und Gretel

Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald.
Es war so finster und auch so bitter kalt.
Sie kamen an ein Häuschen von Pfefferkuchen fein.
Wer mag der Herr wohl von diesem Häuschen sein?

Hu, hu, da schaut eine alte Hexe raus!
Lockte die Kinder ins Pfefferkuchenhaus.
Sie stellte sich gar freundlich, o Hänsel, welche Not!
Ihn wollt' sie braten im Ofen braun wie Brot.

Doch als die Hexe zum Ofen schaut hinein,
ward sie gestoßen von unserm Gretelein.
Die Hexe musste braten, die Kinder geh'n nach Haus.
Nun ist das Märchen von Hans und Gretel aus.

Bukowski bläst in die Trillerpfeife. „Tempo!"

Ich keuche. Ich hasse das. Ich hasse laufen und joggen und Sport im Allgemeinen. Erst recht im Pulk. Unser Sportlehrer deutet in den Wald und gestikuliert mit seiner Trillerpfeife. Die Hälfte aus dem Kurs trabt murrend los, die andere Hälfte - zu der ich gehöre - versucht sich zu drücken. „Auf geht's die Damen und Herren! Das ist alles Teil Ihrer Note!"

Ich sehe kurz zu Moritz, der bereits am Waldrand ist. Er wartet nicht, sondern läuft mit den anderen Sportkanonen stur geradeaus. Toll. Seit der Halloweenparty ist er irgendwie schräg drauf. Ich hab keine Ahnung, was da passiert ist. Ich habe immer noch einen Filmriss. Ich habe sogar von Söder gefragt, aber der hat nur gelacht. War mir klar, dass der keine Hilfe ist.

Bukowski steht neben mir und setzt an, in die Pfeife zu trällern, damit ich mich endlich in Bewegung setze und ich tue es mit einem unterdrückten Augenrollen.

Wie sehr ich joggen verabscheue...

Ich laufe also los und nur Lena und Tami sind noch langsamer als ich. Es ist nicht so, dass ich keine Kondition habe. Die habe ich. Es macht mir nur einfach keinen Spaß. Wenn ich wenigstens Musik im Ohr hätte. Also laufe ich. Konzentriere mich auf den Waldweg, auf meinen Atem und blende das Gekeuche meiner Mitschüler aus. Ich überhole erst Miri und Saskia, dann Pia, Christin und Matthias, bevor ich zu Lütti aufschließe. Er stöhnt leise. „Ich hasse den Bukowski", sagt er, als er mich erkennt.

Ich lache leise. „Da sagst du was." Ich laufe weiter, ziehe das Tempo ein wenig an, weil meine Muskeln warm sind. Von hinten sehe ich Janas dunkle Locken wippen und schließe zu ihr auf. Ich muss ziemlich Gas geben, um sie einzuholen und sie denkt gar nicht dran, das Tempo zu drosseln. Ich bekomme Seitenstechen. Die Jungs vorne hole ich nicht mehr ein, die werden uns irgendwann überrunden.

Jana sieht zu mir und zieht eine Augenbraue hoch. „Außer Puste?", fragt sie. Sie klingt distanziert. Wie Mo ist sie seit ein paar Tagen so ätzend drauf. Ich hab keine Ahnung, was ich ihr getan habe.

„Hab ich was falsch gemacht?", frage ich und sie läuft deutlich schneller. Antworten tut sie nicht. „Hey! Jana!" Damit zieht sie das Tempo noch etwas an und lässt mich stehen.

Mir ist das Gelaufe zu doof geworden. Ich täusche einen umgeknickten Knöchel vor und gehe. Die anderen überholen mich. Chris bietet an mit mir zu gehen, aber das ist nicht nötig. Er hat die gute Note in Sport nötiger als ich. Ich kann das durch die extra Erfolge im Reitsport ausgleichen. Frauke, Anna und Jule bleiben auch stehen und fragen, ob alles in Ordnung ist. Ist es. Ich gehe langsam weiter. Scheißtag.

Ich frage mich wirklich, was mit Jana los ist. Seit zwei, drei Tagen ist sie wirklich noch seltsamer als sonst. Sie fummelt auch kaum noch an Mo herum. Und wenn... ist sie pissig. Sie hat echt ganz komische Laune. Sehr sprunghaft. Entweder ist sie super gut gelaunt oder sie ist megaschlecht drauf. Es ist richtig anstrengend mit ihr.

Hinter mir höre ich gleichmäßiges Getrabe im Pulk. Die Jungs setzen zur ersten Überrundung an. Vorneweg laufen wie erwartet Massi und John, sie beachten mich nicht. Dann kommen ein paar Jungs aus dem schuleigenen Fußballteam und Mo.

Als er mich sieht, bremst er ab und dreht sich um. „Alles okay, Pi?"

„Wow, du sprichst ja doch noch mit mir." Ich klinge bissiger als beabsichtigt und er zuckt unter meinen Worten zusammen. Er sieht verletzt aus.

„Ich habe nie nicht mit dir gesprochen", sagt er lahm und sieht den Jungs nach, die immer weiter verschwinden.

„Das hat sich in den letzten zwei Wochen anders angefühlt", erwidere ich und laufe trotzig weiter. Ich will eigentlich nicht mit ihm streiten, aber es ergibt sich einfach so.

Er sieht mich irritiert an, dann sagt er: „Ich mache mit Jana Schluss."

Ich bleibe stehen. „Du --- Was?"

Er schiebt die Hände in seine Fleecejacke und nickt eine schmale Schneise entlang. Wir biegen schweigend vom Hauptweg ab, als gerade keiner von unseren Klassenkameraden hinter uns ist und setzen uns ab. Bukowski wird ausrasten, aber ich werde einfach sagen, dass ich umgeknickt bin und dass Mo mir geholfen hat. Die Hälfte der Klasse hat mich ohnehin humpeln sehen.

Wir laufen bestimmt fünf Minuten schweigend nebeneinander her durch eine Fichtenschonung bis er sagt: „Ich kann nicht mehr."

„Wieso?", frage ich

„Es fühlt sich einfach total falsch an", murmelt er und seufzt leise. Er bleibt vor mir stehen und sieht auf mich hinunter. Seine grünen Augen haben einen seltsamen Glanz angenommen und blinzeln. Er sieht so aus, als ob er gleich losheult und ich verstehe nicht warum. Was ist passiert? Habe ich was verpasst? Haben die zwei Streit?

„Warum? Ihr wart doch bis neulich total verknallt?" Ich weiß wirklich nicht, was passiert ist.

Er sieht mich an, als ob ich nicht mehr ganz dicht wäre. Er schweigt eine Weile und sagt dann seltsam gequält: „Halloween?"

Ich weiß im ersten Moment nicht was er meint. Haben sie sich deshalb gestritten? Weil sie ihn auf der Party versetzt hat? Oder ist es ist es wegen...
Ich zucke mit den Schultern. „Meinst du den Kuss?"

Mo starrt mich an, als ob ich ein Geheimnis in die Welt hinaus posaunt hätte.

„Mo, das war ein Spiel!" Mein Gott, wir waren so betrunken. Ich war so besoffen, ich hatte von dem verdammten Wodka einen beschissenen Filmriss. Ich weiß von dieser Nacht einfach nichts mehr. Fast nichts. Bis auf die Kotzerei nur Fetzen.

Er sieht mich noch immer so an, als ob ich von einem anderen Planeten komme. „Sophie...", flüstert er und setzt an, etwas zu sagen, das er aber nicht ausspricht.

Ich unterbreche ihn. „Willst du jetzt mit Jana Schluss machen, weil wir Flaschendrehen gespielt haben? Spinnst du?"

Mos Blick verändert sich. „Nein, nicht wegen dem Flaschendrehen..."

„Warum dann?" Ich lasse die Schultern sinken und habe ehrlich keine Ahnung, was er meint.

Dann läuft er knallrot an und weicht meinem Blick aus. Er stapft weiter und rauft sich die Haare.

„Was?!", frage ich ratlos.
„Wir haben uns geküsst."
„Ja. Beim Flaschendrehen. Aber das kannst du doch nicht als echten Kuss verkau---"

„Nein. Draußen. Vor der Tür. Und wir hatten ---" Er dreht sie zu mir um und lässt die Schultern sinken. „Ich hab dich geküsst, Pi. Nicht du mich. Ich hab dich draußen nochmal geküsst."

Ich starre ihn an und suche in meinem Kopf nach der passenden Erinnerung, finde sie aber nicht. Es ist verrückt. Da ist nichts. Gar nichts. Ich muss mich doch daran erinnern! Aber da ist gar nichts. Nur Schwärze.

Er sieht mich an und schüttelt langsam den Kopf. „Verarscht du mich?", fragt er und wird erst rot, dann blass. „Hast du das vergessen?"

Ich sehe ihn an und zucke mit den Schultern. „Filmriss", flüstere ich. „Ich weiß nicht mal mehr, wie ich am Morgen zum Frühstück gekommen bin."

Mo tritt einen Schritt zurück. Er steht zwischen all den hohen Fichten. Auf dem Boden liegen braune Nadeln und es riecht nach Wald und Weihnachten. Irgendwie hat es etwas Verwunschenes. Und wenn der Moment nicht so verrückt wäre, könnte man sich fast vorstellen, dass dort hinten ein großes Lebkuchenhaus stehen würde.

„Also weißt du gar nichts mehr...", murmelt er leise, so leise, dass ich ihn fast nicht verstehen kann. Ich trete zwei Schritte auf ihn zu und versuche, ihm in die Augen zu sehen. Ich weiß nicht, warum er so verletzt aussieht. Es ist doch nur eine Knutscherei zu Halloween. Und wir waren beide betrunken. Warum macht er so einen aufriss darum? Warum macht er so ein blödes Fass auf?

„Nein. Ich hab echt einen Filmriss. Das lag an dem Wodka... ich vertrag das nicht. Das weißt du doch..."

Er sieht mich an und zuckt mit den Schultern.

Mo... Wenn du mich fragst... Lass uns das einfach vergessen, okay?" Ich lächle knapp. „Ich will nicht, dass du irgendeinen Blödsinn machst, den du bereust, ja? Nicht wegen mir. Nicht wegen einer bescheuerten Knutscherei, bei der wir beide voll waren." Ich lege ihm die Hand an die Wange und lächle. Er schließt die Augen und seufzt leise. Er sieht unglaublich traurig aus. Müde.

„Vergessen?", sagt er matt und sieht mich dann an.

„Ja", ich ziehe meine Hand zurück. „Du bist mein bester Freund... Wenn es nach mir geht, wenn mich jemand fragt, ist es nie passiert, okay? Es wird keiner erfahren. Aber überleg dir das wirklich mit Jana." Ich sehe ich lange an. „Du liebst sie doch."

Er sieht mich lange schweigend an. Seine grünen Augen verdunkeln sich. Dann wendet er Blick ab. „Ja", sagt er. „Das ist es ja."

Ich seufze leise. Er ist manchmal so kompliziert wie ein Mädchen. Wirklich.

Moritz schluckt und setzt sich in langsam in Bewegung. Er läuft träge die Schneise hinunter, als ob er Wackersteine im Bauch hätte.

„Mo, warte..."

Aber er läuft langsam weiter und ich muss mich beeilen, dass ich zu ihm aufschließen kann. Seine Beine sind lang und ich bin kleiner als er. Als ich ihn erreicht habe, greife ich nach seiner Hand, erwische aber nur seinen Ellbogen und halte ihn fest.

„Was?!" Er bleibt stehen und sieht mich an. Seine Augen haben diesen einen, ganz typischen, verräterischen Glanz angenommen und sind rot.

„Moritz...", flüstere ich. Er kämpft mit den Tränen, aber ich habe keine Ahnung, warum. „Was ist wirklich los?", frage ich ihn und er sieht mich immer noch an, mit schwimmendem Blick. Er schließt die Augen, bevor die erste Träne überschwappt und sieht auf den Waldboden zwischen uns. Dann sagt er leise. „Ich kann nicht mehr..."

„Wieso...?", frage ich genauso leise und habe keine Ahnung, was er meint.

Dann zieht er mich in seine Arme und hält mich fest - oder sich an mir, so genau kann ich das nicht sagen. Er zittert. Sein Kinn liegt auf meiner Schulter auf und ich spüre das Heben und Senken seiner Brust in seiner Umarmung.

Ewig stehen wir so da, bis er irgendwann durchatmet und sagt: „Also gut... es ist nie passiert..." Er schiebt mich von sich und lächelt angespannt bevor er mir einen kurzen Kuss auf die Stirn drückt und mir den Arm um die Schulter schlingt.

Ich nicke. Ich will nicht, dass das zwischen uns gerät. Dieser Kuss, an den ich mich eh nicht erinnern kann. Dieser Schmatzer beim Flaschendrehen ist eh nicht der Rede wert. Schweigend laufen wir weiter und sind etwa zwanzig, fünfzig Meter weit gekommen, als sich plötzlich eine Gestalt aus dem Unterholz löst. Wir zucken beide erschrocken zusammenweil wir beide nicht damit gerechnet haben.

„Tristan, mein Gott!" Moritz lässt seinen Arm von meiner Schulter sinken, als er Lütti erkennt. „Was machst du denn hier?"

Lütti grinst schief und zieht sich die Sporthose wieder hoch. „Austreten", gibt er zu und wird rot. „Die Rennstrecke war mir zu stark befahren." Er kichert und sieht zwischen uns hin und her. „Und ihr?"

„Ich bin umgeknickt."

Lütti runzelt die Stirn. „Ja... aber doch..." Er dreht den Kopf und sieht zum Hauptweg und dann zu Moritz und kneift die Augen kurz zusammen. „Egal. Geht mich nichts an." Dann zwinkert er mir zu und joggt weiter.

Etwas pocht in meinem Kopf. Ich habe keine Ahnung, was das Zwinkern und das Pochen zu bedeuten haben.

.....

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