Froschkönig: 11 ~ Pi
Halloween vor drei Jahren
Es war einmal eine Prinzessin, die spielte mit einer goldenen Kugel am Brunnen. Und als sie dort so saß und spielte, warf sie die Kugel in die Luft und sie fiel ihr in den Brunnen und sie weinte bitterlich, denn die Kugel war ihr liebstes Spielzeug. „Königstochter, warum weinst du", fragte da der Frosch und sie erklärte es ihm. Da bot der Frosch ihr an, die Kugel vom Grund des Brunnen zu holen, wenn die Prinzessin seine Freundin würde. Sie versprach es ihm und der Frosch versprach es ihr, tauchte zum Grund des Brunnens und holte dir die Kugel. Die Prinzessin aber war garstig und eitel, rannte zurück zum Schloss und dachte nicht daran ihr Versprechen zu halten.
Abends als sie mit dem König und der Königin zu Abend aß, klopfte es an der Schlosstür. „Königstochter, Jüngste, mach mir auf. Weißt du nicht was gestern du zu mir gesagt bei dem kühlen Brunnenwasser? Königstochter, Jüngste, mach mir auf", rief der Frosch und ihr Vater verlangte von der trotzigen Prinzessin, dass sie ihr Versprechen einhalten sollte. Die Prinzessin aber hatte so gar kein Verlangen danach den schleimigen, hässlichen Frosch in ihr Bett zu lassen und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand, dass er doch zerschelle.
Wie lächerlich diese Prinzessin doch ist... Wie arrogant sie ist... Nichts anderes als eine arrogante, hässliche Unke. Sie hätte man gegen die Wand klatschen sollen und was bekommt sie zum Lohn? Den Prinzen. Lächerlich.
***
Ich hielt es nicht mehr aus. Mein Kopf dröhnte. Ich ertrug die Lautstärke nicht mehr. Das Wummern, die Frequenz des Geräuschs war furchtbar. Seit Tagen hatte es nicht für eine Minute aufgehört. Selbst, wenn ich mir den Finger ins Ohr steckte, dämpfte das kaum.
Ich konnte nicht mehr. Ich hielt das nicht mehr aus. Ich war müde. Erschöpft. Ich hatte seit Tagen nicht geschlafen. Die Helligkeit im Keller tat meinen Augen weh und ich sehnte mich nach den Momenten der absoluten Dunkelheit zurück. Meine Augen waren ausgetrocknet und überreizt. Ich stank. Ich hatte Durst, aber ich traute dem dreckigen Wasserhahn nicht.
Waren es überhaupt Tage? Oder nur Stunden? Ich hatte das Zeitgefühl absolut verloren.
Seit ich in diesem Loch saß und bei einigermaßen klarem Verstand war, fragte ich mich nach dem Grund.
Warum war ich hier?
Warum saß ich in diesem Keller?
Warum hatte mich dieser Wixer betäubt und mitgenommen?
Warum saß ich in diesem Keller?
Ich verstand es nicht. Ausgerechnet er...
Ich verstand so vieles nicht. Zum Beispiel wie Moritz Freundschaftsband in mein Marmeladenglas gekommen war. Wie hatte er es auf Carries Koppel verlieren können? Wie hatte er... Hatte er Carrie umgebracht? Er? Moritz? Er hatte mir geholfen, Carries Sachen in den Keller zu räumen. Er hatte mich gehalten als ich schreiend nachts aufgewacht war. Er war wegen mir mit nach Heidelberg gegangen. Um auf mich aufzupassen. Welchen Grund sollte er haben Carrie und mir so etwas anzutun?
Dumpf dachte ich an eine weit entfernte Erinnerung.
Zwei Achtzehnjährige springend auf einem gelben Sofa. Feiernd. Auf einer Party. Beide betrunken. Laute Musik im Hintergrund. Crazy in Love von Beyonce oder war es Disturbia? Sein, der irgendwann um ihrer Taille lag wie schon so oft. Diese Flasche Wodka, die jemand aus dem Jahrgang organisiert hatte. Dann später Flaschendrehen...
Mit Flaschendrehen hatte der Abend angefangen. Mit Flaschendrehen und dieser Flasche Wodka. Ich hatte mir die Seele aus dem Leib gekotzt. Beim Flaschendrehen hätten wir nie mitspielen dürfen, zumindest hätte einer bei Pflicht und einer bei Wahrheit bleiben sollen. Oder besser beide bei Wahrheit. Daniel von Söder, der Penner, hatte die Idee mit dem Kuss gehabt, nachdem wir schon alle betrunken gewesen waren. Mo hatte ausgesehen, als ob es die beschissenste Idee der Welt wäre und ich hatte nur gelacht.
***
„Komm schon, Meier!", von Söder feixt, „Pflicht ist Pflicht. Und Kneifen gilt nicht. Außerdem war an Pi eh schon der halbe Jahrgang dran! Sie küsst nicht übel." Von Söder grinst breit. Er ist sturzbetrunken. Ich zeige ihm den Stinkefinger und sehe Mo an. Ich bin auch betrunken, der Wodka entfaltet gerade seine volle Wirkung.
„Es ist nur ein Kuss, Mo", murmle ich und sehe ihn entspannt an.
Er beißt sich auf die Lippen. „Das ist doch scheiße. Das wissen die. Ich bin mit Jana zusammen."
Ich lache. „Es ist ein Spiel, Moritz! Stell dich nicht so an." Ich greife ihm ins T-Shirt und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen. Ohne Zunge, einfach einen Kuss. Als würde ich einen Frosch küssen. Perplex und mit offenen Lippen starrt er mich an.
„Was ein Anfängerkuss!" Von Söder rollt die Augen. „Pi, das kannst du doch besser! Sicher, dass Jana und du schon miteinander in der Kiste wart, Meier?"
„Fresse." Moritz funkelt ihn gestresst an und ich spüre, dass die Stimmung zu kippen droht. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, aber für Moritz ist der Spaß vorbei. Ich weiß nicht, ob es mit dem Kuss zu tun hat oder mit etwas anderem.
Von Söder lacht trocken und ich drehe die Flasche. Sie zeigt auf Judith aus der zwölften und ich gebe ihr eine Aufgabe und beobachte danach schweigend meinen besten Freund, der angespannt noch zwei Runden aushält, bevor er die Runde verlässt. Ich schenke mir von dem Wodka nach und folge ihm, nachdem ich meine nächste Aufgabe - einen Zungenkuss mit Henrike aus der elften - erfolgreich absolviert habe.
Mo steht draußen vorm Kellereingang und raucht. Keine Zigarette, das rieche ich. „Alles okay?", frage ich und lehne mich ihm gegenüber gegen die Wand. Er schließt die Augen, zieht ein letztes Mal an dem Joint und hält ihn mir wortlos hin. Ich zögere, ziehe einmal kurz, huste, als der Qualm auf meine Lunge trifft und verschlucke mich prustend. Ich bin so ein Mädchen, was das angeht.
Mo lacht leise, nimmt mir den Joint ab und drückt ihn an der Hauswand aus. Schweigend packt er ihn ein und sagt dann: „Ich hasse diesen von Söder. Das ist so ein arrogantes Arschloch."
„Mach dir nichts draus."
„Lüttkenhaus auch."
„Was hat Lütti denn gemacht?"
Mo sieht mich angespannt an und weicht mir aus. „Wegen dem Chat." Das ist schon Wochen her. Die Sache hätte echt übel werden können aber irgendwie... Ich sehe zur und beiße mir auf die Unterlippe. Von Söder war ein Arschloch, aber in dieser Sache hatte er einmal alles richtig gemacht - nachdem er richtig Scheiße gebaut hatte.
„Du meinst euren Gruppenchat?" Ich lache, aber es klingt aufgesetzt. „Da hat doch jeder seinen Senf dazu gegeben. Das ist doch egal." Mir ist der Chat egal. Total egal. Nichts auf der Welt ist mir so egal wie dieser scheiß Chat von Daniel von Söder und seiner Clique von Wichsern, in dem sie diskutiert haben, was für eine billige Nute ich doch bin. Außerdem hat Lütti damit nichts zu tun gehabt. Er ist in dem verdammten Chat gar nicht drin.
„Der hat vorhin genauso Sprüche abgelassen wie von Söder."
Ich zögere. Bin kurz davor ihm zu erzählen, warum Daniel diese ganzen Aktionen bringt, aber ich lasse es. Ich will ihn nicht in die Pfanne hauen. Er ist gekränkt. Soll er sein. Die Aktion war mies aber solange er andere Dinge für sich behält, soll mir das recht sein. halte es aus, die Jahrgangsschlampe zu sein. Die bin ich eh. Es stimmt, dass ich mit fast der Hälfte der Jungs was hatte. „Mo, entspann dich. Lütti ist okay. Der tut keinem was. Außerdem ist der heute vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben betrunken."
„Diese Dinge, die sie über dich sagen..."
„Das macht mir nichts." Klar, Pi.
„Mir aber." Aber sieht mich an und versenkt die Hände in den Hosentaschen. „Mir macht das was."
Ich sehe ihn an. „Ist das alles?"
„Was meinst du?" Er weicht meinem Blick aus und tut so, als würde ich es nicht bemerken.
„War es schlimmer für dich, dass die ihre normalen Sprüche gekloppt haben oder dass du mich küssen musstest? Du hast ausgesehen, als wäre ich ne schleimige Unke." Ich versuche zu lächeln, aber genau so hat er mich angesehen, als von Söder mit seiner tollen Aufgabe herausgeplatzt ist. Als ob ich eine schleimige, hässliche Unke bin. Ich weiß, dass es als Provokation gedacht war, aber ich hätte nie gedacht, dass es Mo so viel ausmachen würde, mich zu küssen. Wir sind schon so ewig befreundet.
„Prinzessin", setzt er an und weicht noch immer meinem Blick aus. „Das..." Er greift nach meinem Becher und nimmt einen großen Schluck. Erstaunt reißt er die Augen auf, als er feststellt, dass es Wodka pur ist. „Wow, übertreibst du nicht ein bisschen?"
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist Halloween." Als ob das eine Erklärung ist.
„Eben", sagt er. Er atmet aus und ich habe keine Ahnung, was er meint. „Wir haben Einjähriges", murmelt er dann und fährt sich durch die Haare.
„Mo...", sage ich und lehne mich neben ihn.
„Ich hab keine Ahnung, wo sie heute steckt, ehrlich. Wir sind letztes Jahr auf dieser blöden Party hier zusammen gekommen." Er wirkt total angepisst und verletzt. Ich reiche ihm nochmal den Becher mit dem Wodka und er trinkt. Immerhin erklärt das seine super Laune und auch ein bisschen, warum er auf den blöden Kuss so komisch reagiert hat.
„Du übertreibst wirklich", sagt er dann. „Du solltest echt ein bisschen weniger Gas geben." Er gibt mir den Becher zurück und ich trinke ihn aus. Ich will nicht diskutieren. Ich will einfach eine gute Zeit haben heute - und die habe ich. „Lass uns wieder rein gehen..." sage ich leichthin und spüre, dass meine Zunge schwer wird vom Alkohol. Ich greife zur Türklinke und spüre, wie sich seine Hand kühl um mein Handgelenk schließt.
„Warte...", flüstert er und sieht mich an. Seine grünen Augen blicken mich seltsam zerrissen an und er holt tief Luft. „Du bist keine schleimige Unke", sagte er leise. „Man Pi, du bist alles andere als ne schleimige Unke, ist dir das eigentlich klar?"
Dann küsst er mich.
***
Das Geräusch reißt ab. Urplötzlich reißt das ohrenbetäubende Geräusch ab und lässt mich mit hämmerndem Herzschlag und einer klaffenden Erinnerung zurück, während ich die Wand anstarre.
Warum war ich in diesem Keller?
Das ergab keinen Sinn. Das ergab doch alles keinen Sinn...
Hallo. Prinzessin.
Die Worte hallten seit Tagen in meinem Kopf.
Hallo.
Prinzessin.
Erschöpft kauerte ich mich in die Ecke und genoss den Moment der Stille. Vermutlich sollte ich versuchen zu schlafen, solange ich Ruhe fand. Ich war mir aber sicher, dass ich würde einschlafen können. Ich war zu aufgeputscht. Mein Herz hämmerte noch immer wie wild und mein Kopf dröhnte und spannte wie nach einem Rockkonzert.
Ich versuchte mich zu konzentrieren. Auf das zu fokussieren, was ich wusste, was real war.
Real war, ich war hier.
Real war, ich hatte Mos Freundschaftsband in meinem Marmeladenglas gefunden.
Real war, dass Nick irgendwo da draußen war.
Nick.
Der Gedanke an ihn hielt mich irgendwie aufrecht. Der Gedanke an ihn gab mir Kraft.
Ich hörte Schritte. Schwere Schritte. Eine Quietschen, ein Scheppern, ein lautes, hartes Klopfen. Dann eine heisere Stimme: „Aufwachen, Prinzessin!"
Dann wurde die Tür aufgerissen und ich sah zum ersten Mal kurz und schemenhaft seit Tagen das Gesicht des Typens, bevor es wieder dunkel um mich herum wurde, weil der Schmerz mich unvermittelt traf.
Mir wurde schlecht. Mühsam rappelte ich mich, schleppte mich hoch in die Ecke des Raumes, wo der schwarze Eimer stand und würgte. Mir war schwindelig. Mein Kopf dröhnte von dem Schlag, den ich abbekommen hatte. Vermutlich hatte ich eine Gehirnerschütterung. Ich hatte schon mal eine gehabt. Damals, als ich von Carrie gestürzt war. Mir war es zwei Wochen lang dreckig gegangen deswegen. Wenn es eine war, war diese nicht ganz so schlimm. Hoffte ich. Ich ---
Ich hielt inne, als mir eine Erinnerung in den Kopf steigt und mit ihr die Tränen.
***
Ich liege mit Nick auf seiner Couch und er schläft. Er ist total K.O. Ich lausch seinem regelmäßigem Atem nach, während mein Kopf halb auf seiner Schulter und halb auf seiner Brust liegt. Gemächlich male ich noch immer Kreise auf seinen Bauch, während ich überlege, ob ich hier bleiben oder nach Hause fahren soll. Ihm geht es beschissen und er sieht auch genauso aus. Sein Gesicht ist verschrammt und blau, seine Rippen geprellt und er hat eine Gehirnerschütterung. Eigentlich hätten wir ein Date gehabt, aber er hat sich nicht bei mir gemeldet. Weil er es vergessen hat, wie er gesagt hat - weil er beim Radfahren von einem Autofahrer die Vorfahrt genommen bekommen hat und jetzt so aussieht wie er aussieht. Armer Kerl.
Ich recke mich ein wenig und hauche ihm einen Kuss auf die Lippen und merke, dass er gar nicht so tief schläft, wie ich dachte. Er erwidert meinen Kuss sanft und atmet sehr tief ein und seufzt dabei leise.
Gott, ich verliebe mich gerad in diesen Mann. Verdammt.
***
Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen. Irgendwie war mir das klar, als ich meine Wohnungstür geöffnet hatte und in diese Augen geblickt hatte. Mir war sofort klar gewesen, dass ich Nick nie wieder sehen würde.
Schon damals nach dieser Nacht in diesem verranzten Club war mir irgendwie klar gewesen, dass ich unglaubliches Glück gehabt hatte. Ich war zu besoffen gewesen. Zu dumm, dass ich ihn mit zu mir genommen hatte. My home is my castle.
Scheiße...
Diese verfickte Nacht an Halloween, dieses beschissene Flaschendrehen... diese Flasche Wodka. Ich hatte wirklich einen Filmriss gehabt. Jahrelang. Mo auch? Oder konnte er sich an das alles erinnern? Ich hoffte nicht... Wirklich, ich hoffte wirklich, dass er sich nicht daran erinnern konnte. An den fiebrigen Sex, den wir auf seinem Zimmer gehabt hatten.
Immerhin muss ich Nick dann nicht in die Augen sehen und ihm erklären, dass zwischen mir und Moritz wohl doch mal mehr lief. Warum fällt mir das alles jetzt ein? Jetzt? Wo ich in diesem Keller sitze?
Nick... Oh, Nick...
Ich krümmte mich auf der harten Pritsche zusammen und schluchzte auf. Sie roch vermodert und nach Schimmel, aber das war mir egal. Ich stellte mir vor, bei ihm zu sein. Wieder bei ihm zu sein...
Endlich wieder bei ihm zu sein.
***
Es ist ein guter Kuss. Das erkenne ich selbst alkoholtrunken. Er drückt mich fest gegen die Wand neben der Kellertür. Nicht zu fest, sondern genau richtig und raubt mir mit dem Kuss den Atem. Ich bin überrascht, dass er so gierig ist. Ich hatte immer gedacht, dass Mo immer zu der vorsichtigen Sorte Küsser gehören würde. Aber das ist er nicht. Gar nicht. Ich bin betrunken, er auch, vermutlich liegt es daran - und ich finde es unglaublich gut, so von ihm geküsst zu werden. Seine Lippen auf meinen zu spüren. Es ist, als ob er genau weiß, wie er mich küssen muss und wie er mich berühren soll. Ich habe das Gefühl, nicht genug davon bekommen zu können und ---
--- während wir uns küssen geht die Kellertür auf. Ich schiele nach links, während Mo mein Gesicht weiterhin umfasst hält und mich küsst, als gäbe es nur diesen eigen Augenblick.
Ich blicke in ein überraschtes Gesicht und dunkle, braune Augen, erkenne das vertraute Muttermal, hebe den Zeigefinger an die Lippen, forme ein stummes „Pst" und lächle. Der Junge grinst und zieht den Kopf wieder ein. Mo hat davon nichts bemerkt.
***
Ich schreckte auf.
Mein Kopf pochte unerlässlich vor Schmerz. Mein linkes Auge tat höllisch weh und ich konnte es kaum öffnen. „Ah..." Ich stöhnte vor Schmerz auf und versuchte mich zu erinnern, war passiert war. Aber mir fehlten die Erinnerungen. Ich wusste nicht, wie lange ich bewusstlos gewesen war.
Nur dass er mich geschlagen hatte.
Er.
Ich konnte nicht glauben, dass er es war. Dass er mich hier gefangen hielt. Dass ich wegen ihm ihr war.
Diese braunen Augen.
Das Muttermal unter dem Auge.
Ich starrte ihn an. „Du...", flüsterte ich. Und er lachte.
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