Flickenteppich: 27 ~ Nick
Dreißig Minuten später klingelte sie. Sie sah besser aus als gestern und rang sich ein müdes Lächeln ab. Sie streifte sich an der Garderobe die Schuhe ab und fiel ohne ein Wort zu sagen gegen mich. In so etwas wie eine Umarmung. Ich schloss die Arme um sie, zugegeben etwas hölzern, und hörte nicht weiter auf das Rauschen in meinem Ohr.
Arbeitet an euch.
Seid füreinander da.
Sei für sie da.
Es hatte sich so simpel angehört, als Tom das gesagt hatte. Jetzt fühlte es sich so viel schwerer an. Trotzdem: ich war froh, dass sie hier war... unendlich erleichtert und froh.
Mein Kinn sank auf ihren Kopf und ich sog mit dem nächsten Atemzug den Duft ihrer Haare ein, bis ich bereit war, sie freizugeben und das Gefühl hatte, dass sie bereit war, aufzuatmen.
„Ähm..." Ich trat zur Seite, griff mir verlegen in den Nacken und sie folgte mir ins Wohnzimmer. Heute trug sie keinen Schlafanzug, sondern schwarze Leggins und ein viel zu weites Sweatshirt. Diesmal hatte sie auch ihre Tasche dabei, ihr Handy und ein Ladekabel, das sie wie selbstverständlich in eine der Steckdosen steckte.
Dann rutschte sie zu mir aufs Sofa, zog sich wie gestern schon eine der Decken heran und schlang sie um sich. Allerdings wirkte sie heute ein wenig entspannter. Auch müde, auch aufgelöst, aber in der Situation entspannter – vielleicht weil sie wusste, dass es für mich okay war, weil wir das schon einmal durch hatten.
„Es tut mir so leid...", begann sie dann, „Ich wollte dich nicht verletzen." Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich musste es dir sagen... mit dem Typen... es war ein riesiger Fehler..."
Okay... Sie packte also direkt nochmal das unbequeme Thema an.
Ich sah sie an und nickte. Ich hatte noch lange mit Tom darüber gesprochen. Ich hatte mir fest vorgenommen, es nicht zu werten. Sie war damals nicht sie selbst gewesen. Betrunken, traumatisiert. Sie hatte auf das Trauma reagiert wie ich auf meine PTBS. Ich konnte ihr das nicht zum Vorwurf machen.
„Es tut mir so unfassbar leid", wiederholte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Ich nickte. Ich wollte nicht sagen, dass es in Ordnung war, denn das war es nicht. Ich wollte auch nicht sagen, dass ich Mitgefühl dafür hatte, denn das hatte ich nicht. Aber ich konnte ihre Situation verstehen. Und daraus resultierte ein gewisses Maß an Verständnis. „Ich weiß", sagte ich ruhig und nickte langsam. „Ich weiß, dass du das nicht nüchtern gemacht hättest..."
„Niemals...", beteuerte sie und knetete nervös ihre Hände. „Ich..." Sie sah mich schüchtern an, sprach aber nicht weiter. Dann sah sie auf die Couch und zupfte an einem Faden der Decke herum.
Ich stand auf und holte aus der Küche eine Flasche Wasser und eine Flasche Coke und zwei Gläser. „Du solltest dir hier jemanden suchen, der die Therapie mit dir fortführt", sagte ich leise und setzte mich zurück neben sie. „Tut mir leid, wenn ich dir das so sage... Ich will es nicht schlimmer machen als es ist, Pi... Aber du brauchst jemanden, der das mit dir aufarbeitet. Alles, was passiert ist. Du bist rückfällig geworden. Und ich glaube, dass ideser Missbrauch auch aufgearbeitet werden muss."
Sie sah unter sich und fuhr sich nervös in das dunkelgefärbte Haar. Ich sah sie allerdings zaghaft nicken. „Hört das irgendwann auf?"
Ich hatte darauf keine Antwort. „Du kannst da dran arbeiten. Mit einem guten Therapeuten... aber das braucht Zeit..." Frag mich.
Ich sah sie eine Weile schweigend an und rieb mir erschöpft den Nacken. „Weißt du... Als Diana gestorben ist, haben mir alle gesagt, ich sei traumatisiert. Von dem Einsatz. Von ihrem Tod und diesem ganzen Scheiß. Ich wollte so unbedingt zum SEK."
„Ja. Das weiß ich. Das hast du mir erzählt."
Ich nickte langsam und lehnte mich gegen die Lehne der Couch. Ich stützte meinen Kopf auf meiner Hand ab und sah Pi lange nachdenklich an. Sie war noch immer so schön. Die schönste Frau der Welt. Die zerbrochenste Frau der ganzen Welt. Die schönste zerbrochene Frau der Welt.
„Schrader hat mich damals dazu verdonnert mit dem Polizeipsychologen zu sprechen. Ein paar Mal. Es war okay. Aber richtig geholfen hat es nicht. Nicht bei den paar Sitzungen und nicht bei der Tiefe des Problems, verstehst du was ich meine? Dass ich bei den beiden Aufnahmeprüfungen für das SEK durchgefallen bin, lag daran, dass die sehr schnell herausgefunden, dass ich in ganz krassen Belastungssituationen einfach absolut unzurechnungsfähig reagiert habe. Allein bei der Testung. Die posttraumatische Belastungsstörung, die dann später diagnostiziert wurde, hat mich fast meinen Job gekostet." Ich sah zu, wie sie meinen Worten nachlauschte und sie verarbeitete. Was sie daraus machte, wusste ich nicht.
„Als wir uns kennengelernt haben, ging es mir super. Richtig fantastisch. Meine Familie hat mich nicht mehr wieder erkannt, so gut ging es mir. Aber dieser Streit wegen Carries Akte, der Fehler im Dienst, die Suspendierung, die Entführung, alles was danach kam... Pi, ich bin durchgedreht. Auch davor. Dianas Tod, das SEK, diese Verbissenheit, die PTBS... Ich bin jetzt seit Sommer zweimal die Woche bei einer echt guten Therapeuten, die das mit mir aufarbeitet. Und ich saß 3 Wochen entführt in einem Kellerloch. Ich hab das nur passiv erlebt." Ich lächelte knapp und streckte meine Hand nach ihr aus. Kurz, bevor ich sie berühren konnte, entschied ich mich jedoch anders und zog meine Hand langsam zurück.
„Ich sag dir jetzt ein paar Dinge, die du sicher nicht hören willst: Dein Pferd wurde abgeschlachtet. Von deiner ehemals besten Freundin. Dein bester Freund wurde beschuldigt, da mit drin zu stecken. Du wurdest entführt und misshandelt. Dein Freund hat dich im Stich gelassen und Versprechen gebrochen. Und du trinkst seit Monaten viel zu viel... Du bist enttäuscht, traumatisiert und wütend. Du hast jedes Recht panisch sein zu dürfen, wenn du alleine bist... aber du hast auch das Recht, dass da nicht alleine durch zu müssen... Du darfst dir Hilfe nehmen..."
Ich sah ihr hilflos dabei zu, wie ihr die Tränen in die Augen traten. So gerne ich sie trösten wollte, ich wusste, dass sie diese Tränen weinen musste. „Du brauchst Hilfe, Pi... Von einem Profi. Und nicht nur, weil deine Eltern das wollen oder Jan dich in diese Klinik gesteckt hat. Sondern, weil es verdammt nötig ist..."
„Nick... hör auf..."
„Nein. Du bist mir wichtig... immer noch verdammt wichtig... und ich will, dass es dir gut geht... Deshalb... lass dir bitte helfen. Okay?"
Sie starrte mich an. Tränen liefen ihr aus den Augen und sie schluchzte leise auf. „Sei bitte still... bitte..." Ihre Finger klammerten sich in die Decke, so sehr, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Ich nickte. So wie sie aussah, reichte es. Ich hatte das Maß sichtlich überschritten. „Okay", flüsterte ich und lächelte vorsichtig.
Ich atmete angespannt ein und aus. Ein und aus. Ein. Und aus. Dann lösten sich ihre Finger aus der Decke, ihre Schultern entspannten sich etwas und sie schloss die Augen. Schließlich sank ihr ganzer Körper matt gegen die Rückenlehne und sie seufzte leise. „Das war hart."
„Vielleicht nötig", gab ich leise zurück und sah zu, wie sie sich von der Couch löste, neben mich rutschte und sich auf meinem Schoß zusammenrollte wie eine Katze. Ich hielt im ersten Moment die Luft an, schob ihr dann aber die Hand auf den Rücken und sank zurück gegen die Lehne. Sanft streichelte ich ihren Rücken und hörte, dass sie leise vor sich ihn brummelte. Sie hatte das immer genossen.
„Hast du was geschaut?", murmelte sie gegen meinen Oberschenkel.
„Blacklist", gab ich zurück. Ich griff nach der Decke, in die sie eben noch eingewickelt gewesen war und zog sie über Pi und mich. Pi seufzte leise und räkelte sich ein wenig.
„Gut?" Ihre Stimme klang belegt und abwesend.
Ich strich ihr die Haare aus dem Nacken und registrierte – nicht ohne mir ein Lächeln zu verkneifen – dass sie Gänsehaut bekam. „Ja... ich mag's..."
Sie bewegte sich ein wenig. „Mach ruhig an...", murmelte sie und kuschelte sich tiefer in die Couch, tiefer in meinen Oberschenkel hinein. Ich spürte, dass ihre Hand über den Stoff meiner Jogginghose strich, dann verharrte sie und zog sie zurück.
Ich hielt die Luft an. Was für eine Achterbahnfahrt... Was für eine verrückte Achterbahnfahrt. Vorgestern hatten wir jeden Körperkontakt tunlichst vermieden, gestern dann dieser lange Tag... dieser nächtliche Besuch von ihr. Der Streit, die Auseinandersetzung wegen meinem Umzug und morgens dann diese Unterhaltung. Diese Geständnisse von ihr... Das war alles so verrückt und wahnsinnig viel zu verdauen. Das Gespräch mit Tom und das Telefonat mit ihr – und mein Entschluss, sie heimzuholen... Komm nach Hause... Und hier war sie. Bei mir. Als ob es immer so gewesen wäre. Als ob sie nie irgendwo anders gewesen wäre...
Es war verrückt.
Ich griff nach der Fernbedienung, öffnete Netflix und startete eine neue Folge Blacklist, rutschte dann selbst viel tiefer in die Couch als zuvor und versuchte das Karussell in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Sie war hier.
Das zählte. Das war alles was zählte.
.............
Und?
Alle in love? 🥰💖
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