Die Erkenntnis: 10 ~ Nick

Meine Muskeln brannten. Schweiß lief mir über die Stirn, ins Auge. Vermutlich würde ich morgen den Muskelkater meines Lebens haben. Mein gesamter Körper fühlte sich wund an und ich hatte kaum noch Kraft das Gewicht zu bewegen. Ich war kurz vorm Muskelversagen. Nur noch einmal...

Seit gefühlten Wochen hatte ich mich wieder ins Fitnessstudio geschleppt. Die Musik dröhnte laut in meinen Ohren und ich hatte die volle Konzentration auf dem verdammten Gewicht, auf der Bewegung, dem Schmerz im Muskel, dem Zittern... bis ich dann endlich das Gerät absetzte und ausatmete.

Ich trank einen Schluck Wasser und schloss die Augen. Lauschte dem Bass in meinem Ohr nach und fühlte mich herrlich erschöpft und taub. Ausgebrannt. Und ich dachte an nichts. Zum ersten Mal seit Pi verschwunden war dachte ich an nichts.

Ich nahm mein Handtuch und die Wasserflasche und ging zu den Laufbändern in den Cardiobereich. Ohne groß auf die Umgebung zu achten stellte ich die Geschwindigkeit an und lief los. In gemächlichem Tempo joggte ich auf dem Band und starrte auf den Fernseher, während die Nachrichten liefen.

Wie immer traf es mich vollkommen aus dem Nichts, ihr Gesicht, das eingeblendet wurde. Strahlend schön wie ich es in Erinnerung hatte.

Ich stolperte, verlor meinen Rhythmus auf dem Band, geriet ins Straucheln, sah mich schon furchtbar auf die Schnauze fliegen. Mit fast 10km/h gegen die Wand hinter mir. Instinktiv schlug ich auf den Stop-Button, knickte um und konnte mich gerade so fangen, bevor Schlimmeres passierte.

Verdammt.

„Hey, alles okay?" Die junge Frau neben mir nahm die Kopfhörer aus den Ohren und sah mich besorgt an.

Ich atmete tief durch und schloss kurz die Augen. „Ja. Alles okay."

„Sah spektakulär aus."

Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. Julius hätte das sicher ausgenutzt. Sie war hübsch. Julius Typ. „Ja... Vermutlich." Ich griff nach dem Wasser. „Bin nur gestolpert. Alles gut."

Sie sah auf den Bildschirm. Der Nachrichtensprecher sprach noch immer von Pi. „Schlimm, oder? Sie studiert bei mir auf der Uni. Meine Freundin ist bei ihr im Fachbereich und kennt sie. Total krass."

Ich sagte nichts. Stattdessen schnürte es mir die Luft ab. Das gute Gefühl von eben – das Brennen der Muskeln, das leere Gefühl in meinem Kopf – war weg. Das Rauschen kam mit voller Wucht zurück. „Ja..." Mehr brachte ich nicht raus, holte Desinfektionsmittel und säuberte das Laufband, bevor ich ohne eine Verabschiedung in die Umkleide verschwand.

Mein Kopf dröhnte. Ich saß vor dem Spint auf der Bank, lauschte meinem Puls und sah ihr Bild vor mir. Ihr Lächeln. Ihre strahlenden Augen. Ihr blondes Haar. Studentin aus Heidelberg vermisst. Die Polizei bittet um Mithilfe.

„Scheiße."

Es waren keine nützlichen Hinweise eingegangen bislang. Keine. Und nach meinem Gespräch gestern mit Bernicke ging ich auch nicht mehr davon aus, dass Hinweise eintrudeln würden. „Verdammte Scheiße." Ich schleuderte meine Flasche mit voller Wucht quer durch die Umkleide gegen die Wand auf der anderen Seite.

Dieser verdammte Moritz Meier. Dieser kleine Pisser. Wie konnte er nur falsch aussagen? Wie konnte er so dumm sein? Und warum? Er wusste doch, dass ich ---

Ich schlug meinen Kopf zu fest gegen den Spint in meinem Rücken und rieb mir die Brust. Ich verstand noch immer nicht, was Bernicke mir erzählt hatte. Moritz hatte falsch ausgesagt. Offensichtlich aus Berechnung. Deshalb hatte mich Bernicke nochmal befragt.

Er hatte ihr gesagt, er sei allein zuhause gewesen und das obwohl Jana bei ihm gewesen war. Warum? Das ergab keinen Sinn. Außer er schützte sie. Außer er steckte mit drin. Außer er steckte mit ihr unter einer Decke. Außer er hatte wirklich mit dieser ganzen Sache zu tun. Mit Carie. Und mit Pis Verschwinden.

Aber das wollte ich nicht glauben.
Das wollte ich einfach nicht wahrhaben.

Mo hatte die Aussage verweigert. Er hatte, obwohl seine Anwältin ihm dringend dazu geraten hatte, kein Wort gesagt und sich damit indirekt schwer belastet. Dadurch, dass ich wiederum gesagt hatte, dass er nicht alleine gewesen war, hatte ich ihn als Lügner hingestellt. Zum zweiten Mal ins Schussfeld.

Immerhin war Jana jetzt Teil der Ermittlung und ich ein wenig erleichtert.

Aber wie konnte Moritz nur so dumm sein? Was konnte ihn nur zu dieser Falschaussage bewogen haben? Er wusste doch, dass ich bei ihm gewesen war. Hatte er angenommen, dass ich ihn decken würde?

Mein Kopf rauchte und ich begann mich umzuziehen. Duschen würde ich zuhause. Ich warf meine Sachen in die Tasche und verließ die Umkleide. Im Foyer traf ich das Mädel vom Laufband und sah, dass sie Anstalten machte auf mich zuzukommen, aber ich reagierte nicht. Steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und verließ das Fitnessstudio so schnell ich konnte.

Ich lief den Weg zurück zu meiner Wohnung und nutzte die Gelegenheit um noch ein paar Besorgungen zu machen. Vor allem Einkaufen. Als ich den Rewe verließ hatte ich trotzdem kaum zu essen in der Tasche. Ich war wie ein Roboter durch den Supermarkt gelaufen, hatte die Musik vollkommen ausgeblendet und beständig meinen Gedanken nachgehangen. Den Gedanken über den Aufruf im Fernsehen, Mos Falschaussage und Maicas Dossier über Jana Stephan, das ich Bernicke übergeben hatte. In Kopie. Das Original hatte ich behalten.

Ich lief nicht den direkten Weg nach Hause, sondern einen Umweg. Ich lief – aus Gewohnheit oder Sehnsucht – bei Pi vorbei. Ihr Wagen stand noch immer unbewegt an der gleichen Stelle wie vor einer Woche und es versetzte mir einen unangenehmen Stich in der Magengegend. Ich ließ meine Tasche vor ihrem Wagen auf den Boden sinken und setzte mich vor der vorderen Stoßstange auf den Bürgersteig. Benommen atmete ich durch. Den Wagen hier zu haben, wie ein regungsloses Monument, war so unwirklich. Ein Mahnmal. Wie konnte es sein, dass der Cupra hier stand und sie fehlte. Dass sie noch immer fehlte?

Ein Auto fuhr an mir vorbei und ich sah auf. Auf der anderen Seite der Straße war eine Geschäftszeile. Eine Änderungsschneiderei. Eine Apotheke. Ein Reisebüro. An der Ecke eine Filiale einer Bank. Das wusste ich alles, aber jetzt sprang ich auf wie von der Tarantel gestochen. Meine Tasche ließ ich stehen. Ohne auf den Verkehr zu achten rannte ich zur Filiale der Bank und sah an der Fassade hinauf, während ich nach meinem Handy griff und Bernicke anrief und sie fragte, ob sie die Aufzeichnungen der Videokameras überprüft hatten.

Ihr Schweigen war mir Antwort genug.

Diese Idioten.



........

Kompetenzteam am Start 🤦‍♀️

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