Die Beichte: 6 ~ Nick

Ich saß auf der Terrasse und trank. Die Flasche war fast leer als ich hörte, dass sich die Terrassentür öffnete und sich Schritte näherten. Ich rechnete mit Becky, Tom oder meiner Mutter, registrierte aber überrascht, dass es Drea war. Sie hatte eine volle Flasche Wein und ein leeres Glas dabei und setzte sich schweigend neben mich.

Wir hatten nie ein besonders tiefes oder inniges Verhältnis gehabt. Dafür waren wir altersmäßig zu weit auseinander. Drea war die älteste. Strebsam. Ehrgeizig. Erfolgsorientiert. Nüchtern. Ärztin. Mutter von Zwillingen, verheiratet.

Drea schenkte sich nach und seufzte dann leise. „Da hast du drinnen ja zwei Bomben platzen lassen..."

„Sorry", murmelte ich bitter und spürte, wie betrunken ich bereits war.

„Wie geht's dir?"

Am liebsten hätte ich gelacht. Warum fragten mich das die Leute nur ständig? Sie wussten doch alle, dass es mir beschissen ging. Warum musste ich es aussprechen? „Scheiße."

Andrea trank einen Schluck Wein, stellte das Glas dann aber zur Seite. „Sie machen sich alle Sorgen, weißt du? Deshalb diskutieren die seit fast einer Stunde da drinnen rum..."

Ich sagte nichts.

„Ich mache mir auch Sorgen um dich." Sie sah mich ernst an. „Ich mache mir Sorgen, dass du mit der Belastung nicht umgehen kannst. Aus medizinischer Sicht..."

„Ist das jetzt ne Sprechstunde?"
„Ja. Wie viel trinkst du in letzter Zeit?"
„Jetzt mach aber mal einen Punkt!" Ich trank mein Glas aus. „Nicht mehr als sonst." Das stimmte nicht. Ich trank mehr als sonst. Aber das wusste ich auch. Ich war nicht gefährdet. "Willst du mich alle zwei Wochen zum Bluttest haben? Wöchentliche?... Gott, ey..."

Drea sah mich lange an und nickte schließlich. „Schon gut, schon gut... okay... Schläfst du?"

„Dein Ernst? Meinst du wirklich, ich kann schlafen, wenn meine Freundin vermisst wird?"

„Du hast eine diagnostizierte PTBS... die ist nie behandelt worden, Nick. Deine Freundin wird vermisst. Ich mach mir Sorgen, was das jetzt mit dir macht..."

Ich schloss die Augen. „Ich auch", flüsterte ich. „Ich auch."

„Ich hab dich lieb, Nick. Das weißt du, du bist mein kleiner Bruder. Ich mach mir Sorgen um dich. Du solltest endlich eine Therapie machen. Vor allem jetzt. Deine Freundin ist verschwunden, Diana ist tot. Ich will nicht wissen, was passiert, wenn das Mädchen..."

„Sag es nicht..." Ich war betrunken. Ich wollte betrunken nicht vor Andrea losheulen wie ein Mädchen. Scheiße, ich hatte in den letzten Tagen schon genug geheult. Ich musste damit aufhören. Ich starrte in Mutters Garten und irgendwie gelang es mir, es nicht zu tun.

„Du brauchst endlich Hilfe, Nick."
„Ich habe Hilfe." Becky, Julius, Tom. Jan. Alle halfen mir.

„Professionelle Hilfe, Nicki..." Sie nahm meine Hand und drücke sie sanft. „Aus medizinischer Sicht... du reagierst körperlich darauf. Das sieht man. Du schläfst nicht. Du hast deutlich erhöhten Puls. Hast du Ohrgeräusche?"

Unmerklich nickte ich. Seit Monaten schon hatte ich das Rauschen im Ohr. Seit Diana tot war. Seit Pi verschwunden war, war es mein ständiger Begleiter. Manchmal fiepte es auch.

„Atemnot?"
„Selten...", flüsterte ich. Und das stimmte.
„Impulskontrollverluste? Konzentrationsstörungen?"

Ich schloss die Augen. „Regelmäßig." Ich dachte an den Junkie. Meine Hand an einem Baumstamm. Einige Blackouts im Fitnessstudio, bei denen der Sandsack hatte herhalten müssen. Unzählige Fehler im Dienst, alle weniger schlimm als der letzte.

„Probleme mit der Libido?"
Was?!"

Drea zuckte mit den Schultern. „Wirkt sich manchmal so aus. Ich frage nur... eigentlich will ich die Antwort darauf nicht wissen, in meinem Kopf bist du immer noch fünf Jahre alt. Du hattest noch nie Sex, oder?"

„Nein, noch nie. Ich bin noch Jungfrau."
„Gott sei Dank." Andrea lächelte und auch ich musste schmunzeln. Kurz nur. „Überleg es dir bitte, ja?"
„Mit dem Sex?"

Mit der Therapie." Sie fuhr mir überraschend zärtlich mit der Hand durch den Nacken. „Ich kann dir ein paar gute Kollegen in Heidelberg raussuchen, wenn du möchtest."

„Ich denke drüber nach."
Drea lächelte. „Ich hab dich wirklich lieb, Nicki..."

Ich zog ein Knie an und schloss beide Arme darum. Ich fühlte mich viel jünger als ich gerade war. Hilflos, unglaublich hilflos. Außerdem hatte ich zu viel getrunken. „Dre?"

„Hm?"

Sie sah mich ernst an und der Kloß in meinem Hals war viel zu groß, um mich zu bedanken oder noch etwas zu der ganzen Sache mit der unbehandelten PTBS zu sagen. „Ich hatte schon Sex..."

„Argh!" Sie lachte trocken. „Musstest du das sagen? Jetzt hast du mein Bild von dir als perfektem kleinen Bruder zerstört..."

„Tut mir leid." Ich rang mir ein Lächeln ab und seufzte schwer. „Ich dreh durch vor Sorgen um sie..."

„Das glaub ich dir..." Andrea trank von ihrem Wein ab. „Wenn du mir versprichst, dass du keinen Blödsinn machst... soll ich dir was Leichtes zum Schlafen aufschreiben? Damit du Ruhe findest?"

Ich lehnte müde die Stirn auf mein Knie und schüttelte den Kopf. „Geht."

„Nicht dass du vor Erschöpfung durchdrehst wie damals." Sie legte mir die Hand auf den Rücken und schwieg. Nach Dianas Tod war ich durchgedreht. Ich hatte wochenlang nicht geschlafen, gearbeitet wie ein Besessener und war dann irgendwann erschöpft und überreizt zusammengebrochen. Ich hatte fast drei Tage lang geschlafen und war drei Wochen krank geschrieben gewesen, in denen ich nur geschlafen hatte - bei Mum auf der Couch.

„Werde ich nicht...", murmelte ich.

„Ich schreib dir trotzdem was auf, okay? Für alle Fälle? Etwas ganz leichtes..." Ihre Hand rieb ruhig über meinen Rücken und meine Schultern, bis mich eine unbestimmte Ruhe überkam und ich langsam nickte.

***

Als ich abends zuhause in meiner Wohnung war, war ich vollkommen erschöpft von dem Nachmittag bei meiner Familie. Nach dem Gespräch mit Andrea hatten die anderen mich weitestgehend in Ruhe gelassen. Ich wusste, dass sie viele Fragen hatten, aber Tom und Becky hatten sie gebremst. Das Gespräch mit Andrea hing mir noch enorm nach. Vor allem die Empfehlung eine Therapie zu machen. Vielleicht hatte sie recht. Sehr sicher sogar.

Ich hatte damals mehrfach mit dem Polizeipsychologen gesprochen, aber mir war klar, dass mein Problem viel tiefer saß. Mittlerweile saß es so tief, dass ich Angst davor hatte, was passieren würde, wenn mit Pi etwas passieren würde, was dem Trauma mit Diana gleich kam. Ich hatte Angst davor, dass ich den Halt verlieren würde. Die Kontrolle verlieren würde... und ich hatte sie neulich schon verloren. Ich hatte Rot gesehen. Ich hatte einen Menschen verletzt. Schwer verletzt. Und so war ich nicht. Das war nicht ich.

Meine Mutter war den gesamten Nachmittag über sehr still gewesen. Ich wusste, dass sie verletzt war und enttäuscht, dass ich sie nicht früher ins Vertrauen gezogen hatte. Ich hatte es nicht gekonnt. Ich hoffte, dass sie das verstand. Wenn ich irgendwann wieder nüchtern war, würde ich sie anrufen... nochmal mit ihr sprechen. Alleine. Ohne die Schwestern. Wenn ich irgendwann wieder nüchtern war. Tom hatte mich mit meinem Wagen nach Hause gefahren, Becky hatte ihn dann abgeholt.

Aus der Küche holte ich mir eine Flasche Wasser und eine Banane und verzog mich vor den Fernseher. Ich zappte eine Weile durch den Fernseher, als jedoch die Nachrichten kamen, schaltete ich sofort ab. Ich wollte ihr Bild nicht nochmal unvorbereitet sehen. Stattdessen holte ich tief Luft, schaltete den Fernseher wieder an und startete Netflix, blieb dort bei Blacklist hängen und startete die erste Folge, einfach um irgendetwas zu gucken. Um beschäftigt zu sein. Um nicht doch die Nachrichten zu sehen und auf Pis Bild zu starren.

Etwa 20 Minuten nach der ersten Folge klingelte mein Telefon.

Mein Herz blieb stehen. Sonntagabend. Um diese Uhrzeit?

Ich hetzte in den Flur und nahm außer Atem ab. „Gehrig?", meldete ich mich und hoffte, dass es Nachricht von Pi gab - und wünschte, dass es keine Nachricht gab.

„Herr Gehrig, Bernicke hier, Kripo Heidelberg."

Mein Herzschlag setzte aus. „Ja... hallo... Gibt es Neuigkeiten?"

„Nur eine Frage."

„Ja?"

„Erzählen Sie mir nochmal, wo Sie waren, als Sie mit Sophie am letzten Dienstag telefoniert haben..."

„Ich war mit dem Rad unterwegs. Am Neckar." Ich war erst bei Mo gewesen und dann, um den Kopf frei zu bekommen ein Stück gefahren. Dann hatte ich sie angerufen und war direkt zu ihrer Wohnung gefahren.

„Wo waren Sie etwa?"
„Ziegelhausen oder so. Wieso?"
„Wo waren Sie davor?"

„Bei einem Bekannten. Bei einem Freund."
„Bei wem?"

Ich atmete tief durch. „Ich war bei Moritz. Meier. Pis bestem Freund. Ich hab mir Sorgen gemacht und wollte wissen, ob er sie gesehen oder von ihr gehört hat. Das hab ich Ihnen schon gesagt."

„Und?"
„Nein. Er hatte nichts von ihr gehört." Auch das hatte ich schon bestimmt zehnmal erzählt.

Bernicke schwieg, schien sich etwas zu notieren. „Und dieser Moritz Meier... War der allein?"

„Als ich kam? Ja. Aber er hat dann Besuch bekommen von einer Freundin. Sie hatten ein Date. Dann bin ich gegangen."

„Um wie viel Uhr war das?"
„Keine Ahnung. Gegen drei? Ich hab nicht auf die Uhr geschaut."
„Wissen Sie, wie das Date hieß?"

Etwas an ihrem Tonfall ließ mich innehalten. „Jana, glaube ich. War das alles?"

Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: „Haben wir die Akte aus Düsseldorf Ihnen zu verdanken?"

„Gute Nacht, Frau Kollegin." Damit legte ich auf.

Ich schloss die Augen.
Jetzt, in diesem Moment, fehlte mir Pi mehr als jemals zuvor...


....

🏗🏗 also das mit den Galgen hat Nick ja raus...

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