Der Fehler: 12 ~ Nick

Bernicke hatte nicht mehr angerufen. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mir geglaubt hatte. Ob sie dem nachgegangen war, was ich ihr über Jana Stephan erzählt hatte - oder nicht? Vielleicht hielt sie mich auch einfach für einen Spinner. Ich selbst hielt mich mittlerweile für einen Spinner. Ich traute mir selbst nicht mehr.

Ich traute niemandem mehr.

Das Ganze war jetzt fast eine Woche her. Das Wochenende hatte ich gerade so hinter mich gebracht. Ich saß auf glühenden Kohlen und hielt die Anspannung kaum noch aus.

Ich hatte viel Sport gemacht. Julius hatte sich geopfert und war mit mir laufen gegangen, Tom mit mir Rad fahren. Abends war ich im Studio gewesen. Nachts hatte ich geschlafen wie ein Baby, bis die Alpträume angefangen hatten.

Jetzt saß ich am frühen Mittwochabend mit meiner Mutter in einem Restaurant in Weinheim am Marktplatz und aß mit ihr zu Abend. Die Sonne schien, es war angenehm warm, aber nicht heiß und ein wirklich schöner Tag ging zur Neige.

„Spatz?" Meine Mutter legte mir die Hand auf meine und sah mich an. Sie sah so aus, als hätte sie bereits mehrfach etwas zu mir gesagt.

„Was?"
„Ich habe dich gefragt, ob du noch etwas essen magst?"
„Entschuldige, ich war in Gedanken..." Ich schüttelte den Kopf. „Danke. Nein."

„Nicki..." Ihr Griff um meine Hand wurde etwas fester. „Du bist dünn geworden in den letzten Wochen... Du musst essen..."

„Ich esse, Mum..."

Sie ließ meine Hand los, tätschelte sie aber nachdenklich und lächelte mich an. „Spatz, wir machen uns alle Sorgen um dich. Drea meinte, sie hätte mit dir über eine Therapie gesprochen..."

„Drea ist Ärztin. Sie unterliegt der Schweigepflicht."
„Drea ist deine Schwester und ich bin deine Mutter."

Ja, das war mir klar. In meiner Familie gab es sowas wie Schweigepflicht nicht. Schon gar nicht, was meine Belange anging - ich war der Junge im Haus unter all den Mädchen. In der Regel gab es das nur zwischen Becky und mir. Ich schloss die Augen und seufzte leise. Tom hatte mir auch schon zwei Visitenkarten mit Traumaspezialisten zugesteckt. „Ich kam noch nicht dazu...", sagte ich resigniert. „Ich kümmere mich irgendwann drum. Versprochen..." Mein Handy vibrierte in einer Hosentasche. Ich ignorierte es. Vermutlich war es Julius. Wir waren für später verabredet.

„Und diese Suspendierung, Nikolas? Was war da eigentlich los?"

Ich stöhnte. Mir war klar gewesen, dass sie noch einmal darauf zurückkommen würde. „Ich kann es dir nicht sagen... ehrlich. Ich hatte Streit mit Pi. Ich wurde provoziert... ich bin ausgerastet. Ich hatte mich nicht im Griff." Ich sah unter mich, weil ich ihrem Blick nicht stand halten konnte. „Mum, mir tut das unglaublich leid. Aber ich kann es nicht mehr ändern..."

„Du kannst dich bei dem Mann entschuldigen."

Ich hob den Kopf und sah sie an. „Nein."

„Warum nicht."
„Weil es ein drogensüchtiger Junkie war."
„Nick..."

Ich schwieg. Ich würde mit ihr nicht darüber diskutieren. Nicht darüber. Nicht heute. Auch nicht in vier Wochen. Vor allem nicht hier. „Ich werde einen Termin ausmachen, okay? Aber ich diskutiere mit dir nicht darüber, ob ich mich bei dem Junkie entschuldige oder nicht."

„In Ordnung..."
„Wie geht's den Biestern?"

Mum dachte einen Moment nach. „Gut soweit. Lucy hat Urlaub gebucht und fliegt demnächst nach Teneriffa. Oder war es Fuerte? Ich weiß nicht mehr. Sie will einen Yoga-Surf-Kurs machen, um mehr zu sich selbst zu finden und ihre innere Mitte zu finden. Und Lea war gestern mit Anton zum Essen da. Ich soll dich grüßen. Sie hat ein bisschen Angst, sich bei dir zu melden. Ich glaube, sie weiß nicht, wie sie mit dir umgehen soll..."

„Wegen der Suspendierung?"

„Wegen Sophie..." Ihr Lächeln verblasste. „Wegen Diana. Weil Sie sich sorgt, Nick. Weil wir uns Sorgen machen."

„Das hast du schon gesagt. Ich weiß das. Ich komm klar. Es geht schon..." Es ging auch. Irgendwie kam ich klar und schlug mich von Tag zu Tag durch. Die Tage waren okay. Die Nächte waren die Hölle.

Mein Handy vibrierte erneut. „Entschuldige..." Ich zog es heraus. Es war nicht wie erwartet Julius, sondern eine unbekannte Nummer, die mich auch vorhin schon angerufen hatte. Bevor ich das Gespräch entgegen nehmen konnte, hörte das Vibrieren auf. „Sorry, Mama." Ich ließ das Handy auf dem Tisch liegen und lächelte knapp.

„Und Isa?"

Meine Mutter seufzte leise. „Tatsächlich hat sie ihren Ärger mit Leon hinten angestellt. Ich glaube, ihr tut es wirklich leid, wie sie sich an meinem Geburtstag verhalten hat... du solltest dich bei ihr melden, wenn du mal den Kopf dafür hast, Nicki."

„Sie kann sich auch bei mir melden. Das Telefon funktioniert in zwei unterschiedliche Richtungen." An Mums Geburtstag hatten Isa und Lucy wirklich den Bogen überspannt und waren sehr derb über Pi hergezogen. Sie hatte jedes Wort gehört. Ich hatte den beiden Hexen gehörig die Meinung gesagt und seitdem weder mit Isa noch mit Lucy alleine gesprochen - abgesehen von dem Familienessen neulich.

„Das stimmt..."
„Dann bestell ihr schöne Grüße. Sie hat ja meine Nummer."
„Also manchmal bist du genauso launisch wie deine Schwestern."

„Ja, von wem ich das wohl habe?!" Ich rollte die Augen und musste aber lachen. Bei fünf Schwestern war es nicht so einfach, sich die ein oder andere Allüre nicht abzugucken.

Mama lachte leise und zum ersten Mal seit Wochen fühlte sich mein Herz nicht mehr ganz so beengt an.

***

Ich brachte sie nach Hause und umarmte sie fest, bevor ich in den Wagen stieg. „Es tut mir leid, dass ich so sperrig bin...", murmelte ich an ihr Ohr und spürte, dass sie ihre Umarmung verstärkte.

„Das muss dir nicht leid tun, Spatz." Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Du hältst dich gut..." Langsam ließ sie mich gehen und strich mir durchs Haar. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan und ich fühlte mich plötzlich viel jünger. „Aber bitte, mach einen Termin aus. Kümmere dich um dich. Versprich mir das, ja?"

Ich nickte schwer. „Versprochen..."

„Zeitnah, Nikolas."
Ja, Mutter."
„Gut." Sie tätschelte meine Wange. „Braver Lieblingssohn."
„Ich bin dein einziger."

„Ja, aber mittlerweile habe ich Schwiegersöhne, Schätzchen. Das bedeutet Konkurrenz für dich. Und Tom gibt sich viel Mühe. Er bringt mir sogar Blumen mit, kannst du dir das vorstellen? Blumen! Diese duftenden, bunten Dinger, die man in eine Vase stellen kann!"

„Tom ist ein Schleimer."

Sie zwinkerte mir zu. Für den Bruchteil eines Augenblicks fühlte ich mich ganz normal. Genau so lange, bis mein Handy wieder vibrierte. Leise lachend zog ich es aus meiner Tasche und nahm ab.

„Gehrig?", meldete ich mich und hatte immer noch das Lachen auf den Lippen als ich Max Schraders angespannte Stimme hörte.

„Du darfst nicht wissen, was ich dir jetzt sage. Das SEK verschafft sich in zwanzig Minuten Zutritt zu einem Gebäude in der Nähe von Herborn in Hessen."

Ich hatte das Gefühl, dass das Universum um mich herum zu Eis gefror. „Was?"

„Mehr sage ich dir nicht. Wenn du in der Nähe sein willst, steig jetzt in dein verdammtes Auto." Das Gespräch brach ab und ich starrte mein Handy an, als sei gerade etwas unsägliches passiert. Als sei gerade fie Hölle zugefroren.

„Nick?" Meine Mutter berührte mich sanft an der Schulter. „Ist alles in Ordnung?"

Blut rauschte in meinem Ohr. Ich versuchte immer noch die Worte zu verstehen, die Schrader gerade gesagt hatte.

Du darfst nicht wissen, was ich dir jetzt sage.

„Ich muss los...", murmelte ich.

Ich stieg in meinen Seat ein und schnallte mich an. Meine Mutter stand noch immer auf der Straße und sah mich an. Mechanisch startete ich den Motor und fuhr los. Genau bis um die Ecke, soweit, bis meine Mutter aus dem Sichtfeld verschwunden war. Dann hielt ich an und atmete tief durch.

Das SEK verschafft sich in zwanzig Minuten Zutritt zu einem Gebäude in der Nähe von Herborn in Hessen.

Bedeutete das...?

Wenn du in der Nähe sein willst, steig jetzt in dein verdammtes Auto.

Natürlich bedeutete das das, was ich meinte. Aber fahren konnte ich nicht. Mein Kopf schwirrte und hämmerte. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Würde sich das SEK wirklich Zutritt verschaffen? Hatten sie wirklich eine Spur? Hatten sie Pi?

Warum hatte Bernicke mir nichts gesagt?

In Herborn? Wo zum Teufel war das? In Hessen?

Scheiße. Wie kam ich da hin? Ich tippte die Stadt ins Navi ein und spürte dabei, wie sehr ich zitterte. 160 Kilometer. Das würde ich so nicht fahren können. Nie im Leben würde ich so 160 Kilometer fahren können. Ich stand ja jetzt schon total neben mir und ich war noch nicht mal richtig losgefahren. Garantiert würde ich den Wagen um den nächsten Brückenpfeiler wickeln.

„Fuck..." Ich griff zu meinem Handy und wählte die erstbeste Nummer, die mir einfiel. „Ich brauche Hilfe..." Ich lauschte der Stimme am anderen Ende ohne wirklich etwas zu hören.

Das war meine größte Angst. 
Nicht die Sache mit dem Brückenpfeiler...

Bis eben gerade hatte ich nicht mal gewusst, dass ich diese Angst überhaupt hatte.

Aber ich sah sie jetzt ganz plastisch vor mir.

Die Angst vor diesem SEK-Einsatz.

Die Angst vor dem Fehler, der passierte.
Vor dem Fehler, der wieder passierte.




....

😶

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