Das Verschwinden: 1 ~ Nick

„Was machst du denn hier?" Meine Schwester Becky öffnete mir verwirrt die Tür.

Ich schob mich an ihr vorbei und ging sofort an den Kühlschrank und holte mir ein Bier heraus. Ich war nervös und angespannt.

„Nicki?"

„Pi ist weg."

„Wo ist sie denn?"

„Weg."

„Habt ihr euch getrennt?"

Ich starrte Becks an, als ob sie mir eine Ohrfeige verpasst hätte, setzte mich auf die Couch und vergrub erschöpft das Gesicht in meinen Händen.

„Nick." Becky sah mich entsetzt an und setzte sich schnell neben mich. „Hey, kleiner Bruder..." Ich spürte ihre Hand zwischen meinen Schulterblättern. „Was ist denn passiert?"

Ich spürte, wie sich etwas sehr schweres auf meine Lungen legte, eine Panik, die ich kannte, die ich aber seit einigen Jahren nicht mehr gespürt hatte. Nicht so stark, nicht so intensiv, wie sie jetzt von mir Besitz ergreift.

Ich weiß es einfach. Ich bin mir sicher, dass etwas passiert. Etwas Unsagbares. Aber ich kann es einfach nicht aussprechen. Ich bekomme kein Wort heraus.

Beckys Hand lag weiterhin schwer auf meinem Rücken, während ich mein Gesicht hinter meinen Händen verborgen hielt und in meinem Kopf versuchte, die Möglichkeiten zu sortieren. Wo sie sein konnte. Was passiert sein konnte.

All ihre Sachen waren in der Wohnung, abgesehen von ihren Chucks. Selbst ihr Autoschlüssel. Der Seat stand dreißig Meter die Straße hinunter, das hatte ich vorhin gesehen. Bei Mo war sie nicht. Bei dem war ich ja selbst gewesen. Der hatte ein Date. Diese scheiß Streifenpolizisten. Die hatten mir nicht mal richtig zugehört.

„Sie ist weg...", sagte ich wieder. „Ich glaube, da ist was passiert..."

„Und was?"

„Ich hab keine Ahnung..." Ich schüttelte den Kopf und versuchte den Druck, der sich in mir aufbaute, zu ignorieren. Mich auf das zu konzentrieren, was ich in Studium und Ausbildung gelernt hatte. Ich war doch selbst Polizist, verdammt. Konzentrier dich, Nick.

Diese verdammte Belastungsstörung.

Ich holte tief Luft und atmete sehr konzentriert aus. Fokussierte mich mit aller Kraft, auf das, was passiert war. Auf das, was wirklich real war. Auf Pi. „Ich hab Scheiße gebaut. Richtig große Scheiße..." Und dann erzählte ich Rebecca, was wirklich passiert war. Bevor Pi verschwunden war.

Pi und ich hatten uns vor ein paar Monaten zufällig abends in einem Club kennengelernt und sie hatte mich total umgehauen. Sie war... die schönste Frau der Welt. Sie kam völlig unvorbereitet in mein Leben und um ehrlich zu sein, war ich noch überhaupt nicht bereit für sie. Ich hatte in den letzten anderthalb Jahren viel zu sehr mit mir selbst zu tun gehabt um mich auf eine neue Frau einzulassen und sie... plötzlich war sie da gewesen. Ohne Kompromisse. Sie hatte mich regelrecht aufgerissen und abgeschleppt und seit dieser Nacht... hatte sie immer mehr Winkel in meinem Kopf ausgefüllt, die zuvor noch von dunkleren Gedanken heimgesucht worden waren. Sie hatte die Gedanken vertrieben. Das Licht zurückgebracht. Mich zurückgebracht.

Zu sagen, dass sie alles für mich war, war unfair. Diana gegenüber. Aber sie hatte es leichter gemacht zu akzeptieren, dass Di gestorben war. Das war anderthalb Jahre her. Darüber weg war ich nicht. Keineswegs. Die Sache war immer noch da, in meinem Kopf und ich machte immer noch ... Dinge, vor allem kürzlich... wenn ich in Stress geriet, wenn ich Blackouts hatte, die mich zu einer tickenden Zeitbombe machten. Die mich aktuell nicht dienstfähig machten. Shit.

Ich sah Becks schräg an. Sie hatte keine Ahnung, dass mir eine Suspendierung vom Dienst wegen Körperverletzung bevorstand. Mir war gestern bei einem Einsatz eine Sicherung rausgeflogen. Der Typ hatte uns provoziert, vor allem mich, und ich hatte mich nicht mehr im Griff gehabt. Ich war wegen dem Streit mit Pi schon vorher schlecht drauf gewesen, angespannt und gereizt, und der Wichser hatte mit seinen Sprüchen ins Wespennest gestochen. Die Jungs hatten keine Chance gehabt, mich zurückzuhalten. Ich hatte einfach rot gesehen. Ich war normalerweise nicht so. Schrader, mein Chef, wusste das. Ich wusste das. Ich hatte sofort vorgeschlagen, Urlaub einzureichen, aber wir wussten beide, dass das nicht reichen würde. Ich war durch. Ich hatte eine posttraumatische Belastungsstörung und war auch endlich bereit, es einzusehen. Ich war nicht mehr dienstfähig. Nicht so.

Shit.

Becky sah mich noch immer auffordernd an und wartete darauf, dass ich ihr erklärte, was für eine große Scheiße ich gebaut hatte, aber ich wusste nicht, mit welcher Scheiße ich anfangen sollte. Mit der Suspendierung und der Körperverletzung oder mit Pi. „Nicki?"

„Ich..." Ich würde losheulen, wenn ich ihr von Pi erzählen würde. Ich hatte nicht mal geheult, als Diana gestorben war. Nicht mal da. Nicht mal, als unser Vater gestorben war, aber jetzt spürte ich schon, dass meine Augen verräterisch brannten.

„Wenn du mir erzählst, dass du sie betrogen hast, trete ich dir in die Eier, Nikolas. Und zwar nicht nur verbal. Das Mädchen ist toll!"

„Spinnst du?!"

„Gut!" Becky nickte und richtete sich auf. „Dann spuck's schon aus. So schlimm wird es schon nicht sein..."

Da war ich mir nicht sicher. Betrogen hatte ich sie nicht. Nicht im eigentlichen Sinne. Nicht mit einer Frau. Aber ich hatte sie hintergangen. Und ein Versprechen gebrochen, das ich ihr gegeben hatte, weil ich neugierig gewesen war. Was ist das? So ein perverses voyeuristisches Polizisten-Ding?

Pi war früher geritten. Ziemlich gut sogar. Sie hatte ein gutes Springpferd gehabt, eine Stute namens Carrie Bradshaw, wie in Sex and the City. Als wir uns kennengelernt hatten, hatte sie mir erzählt, dass ihr Pferd gestorben war und ich hatte gespürt, dass da mehr dahinter gesteckt hatte. Es war ihr Blick gewesen. Diese Traurigkeit. Der Schock in ihren Augen, als ich sie darauf angesprochen hatte. Als ob es etwas Verbotenes war, darüber zu sprechen. Später hatte sie mir anvertraut, dass es Pferderipper gewesen waren und sie hatte mir das Versprechen abgenommen, dass ich bitte nicht, niemals, in diese Akte schauen sollte, die die Kripo Düsseldorf damals angelegt hatte. Das war ohnehin nicht einfach. Solche Akten musste man anfordern oder Vorort einsehen... Ja... Und ich war von Natur aus ein naiver, dummer Mensch... und hatte Fehler gemacht.

Ich hatte erst wissen wollen, ob er Fall abgeschlossen worden war. Ob man den oder die Täter gefasst hatte. Das war ein Klick im Computer. Mehr nicht. Ich hatte mich echt mies gefühlt dabei. Noch mieser, als ich gesehen hatte, dass der Fall nie gelöst worden war. Ich hatte es gut sein lassen wollen. Wirklich. Und hatte dann aber irgendwann abends einfach mal... gegoogelt. Was ja nicht verboten war. Aber echt scheiße von mir. Ich hatte Pi gegoogelt und Pferderipper-Fälle in Nordrhein Westfalen... und ich hatte sie tatsächlich gefunden... Carrie. Zumindest war ich mir sehr sicher gewesen, dass es Carrie war.

Und dann hatte ich den nächstgrößeren Fehler begangen und mit dem zuständigen Kollegen in Düsseldorf telefoniert. Der Fall sei seltsam gewesen. Zu glatt. Keine Beweisstücke. Keine Fußspuren, außer denen der Besitzerin, obwohl es geregnet hatte. Keine brauchbaren Zeugen, obwohl es eine große Anlage war. Kein Motiv. Nichts. Einfach ein totes, abgeschlachtetes Pferd auf einer Wiese.

Die Stute war betäubt worden. Stark betäubt. Mit einem Sedativum, das unter das Betäubungsmittelgesetz fiel. Da kam man nicht einfach so dran. Man musste Zugang dazu haben.

Ob ich die Akte haben wollte, hatten die Kollegen gefragt. Ich hätte es ablehnen sollen. Einfach ablehnen. Aber das hatte ich nicht getan.

Dann hatte Pi in meiner Wohnung Kaffee gemacht. In meinem T-Shirt... Ich weiß noch ganz genau, dass sie nichts darunter getragen hatte. Sie hatte aus Versehen einen Stapel mit Unterlagen von der Ablage geworfen und den Umschlag mit der Akte gefunden. Und das war's gewesen. Sie war so verdammt wütend gewesen. So unglaublich wütend. Und ich so dumm... so unheimlich dumm.

Becky hatte mir schweigend zugehört und blies, nachdem ich geendet hatte hörbar die Luft aus. „Oh, Nicki... du dummer, dummer Dummkopf..." Sie schüttelte langsam den Kopf. „Fünf Schwestern und du machst so dämliche Fehler? Haben wir dir gar nichts beigebracht?"

Ich wusste, dass sie es besser machen wollte, aber das half gerade überhaupt nicht. Auf gar keinen Fall wollte ich Becky gegenüber losheulen. Meine Augen brannten verräterisch und ich wandte den Blick ab, bevor es zu spät war.

„Man, Nick... und jetzt?"

„Ich weiß nicht. Ich hab sie seitdem nicht mehr gesehen. Sie war so wütend... Vorhin haben wir gesprochen. Vorhin. Das ist... keine Ahnung? Fünf Stunden her. Ich sollte vorbeikommen und sie war nicht da. Hat nicht aufgemacht. Ich hab geklingelt, geklopft, sie angerufen. Hab ihr Handy durch die Tür gehört. Mir Sorgen gemacht. Ich dachte, sie wäre umgekippt oder... keine Ahnung. Ich hab die Rettung gerufen... und..." Ich brach ab, hatte keine Chance mehr gegen die brennenden Augen. Becky sah mich an, als ob ihr Herz gerade brach. Sie streckte die Hand nach meiner aus, aber ich schüttelte den Kopf. Das würde es nur schlimmer machen. „Sie ist weg. Ich hab das Gefühl, dass... Dass etwas passiert ist. Dass sie... weg ist."

„Weg im Sinne von weggelaufen?"

„So wie sie geklungen hat... weg im Sinne von... ich fahr zur Polizei und stelle ne Vermisstenanzeige."

„Nick."

„Ihr Handy lag auf dem Boden hinter der Tür." Ich sah sie an. „Warum lässt sie es da fallen, wenn sie die Wohnung verlässt?"

Becky schwieg.

„Die Pisser von der Streife haben mir gar nicht zugehört als ich ihnen das sagen wollte..."

„Wo könnte sie noch sein?"

„Ihr Auto steht vor dem Haus."

„Sie könnte abgeholt worden sein. Wo könnte sie sein? Mit wem hat sie noch Kontakt, Nick?"

Ich rieb mir die Stirn und dachte nach. Mein Kopf pochte. „Sie könnte... ich weiß nicht... ich hab die Nummer nicht. Pico. Das Pferd, das sie manchmal reitet in Stuttgart. Basti, bei ihm steht es. Und Pis Cousin... Jan. Ihm gehört das Pferd. Von beiden hab ich die Nummer nicht. Und Pis Eltern. Aber die würden nicht einfach vorbei kommen, das glaube ich nicht."

„Wer könnte die Nummern haben?"

Ich seufzte schwer. „Moritz."

„Ruf ihn an." Sie schob mir mein Handy zu und sah mich ernst an. „Bevor ich mit dir zur Polizei fahre – und das machst du nicht allein – will ich, dass du dir ganz sicher bist, dass das Mädchen nicht doch irgendwo ist."

Ich schluckte schwer und suchte die Nummer von Pis bestem Freund in den Kontakten. Ich war mir ziemlich sicher, dass er total genervt von mir war. Vor allem heute. Ich hatte ihn heute Mittag schon bei seinen Datevorbereitungen gestört. Außerdem hatte ich ohnehin das Gefühl, dass Mo in letzter Zeit nicht gut auf mich zu sprechen war.

Es klingelte viermal, bevor Mo abnahm. „Was willst du jetzt?", er klang tatsächlich total genervt. „Sie ist immer noch nicht bei mir."

Gott, für seinen Tonfall hätte ich ihm am liebsten auf die Fresse gehauen. „Hast du die Handynummer von Pis Cousin?"

„Welchem?"

„Dem das Pferd gehört?"

„Jan?" Ich hörte gedämpfte Stimmen im Hintergrund. „Schick ich dir morgen früh."

„Nein, Moritz. Jetzt. Bitte."

„Alter, du nervst. Ich bin beschäftigt."

„Es ist wichtig."

Moritz schwieg einen Moment. „Ey, ich hab echt was gut bei dir." Damit legte er auf. Fünfzehn Sekunden später hatte ich den Kontakt von Jan von Frankenthal und ein Emoji mit dem Stinkefinger von Moritz Meier über Whatsapp.

„Reizender Typ", sagte Becky mit einem Blick auf die Whatsapp.

„Gereizter Typ...", murmelte ich und speicherte den Kontakt ab. Mit dem Daumen kreiste ich über dem Anruf-Button, zögerte aber.

„Was ist?"

„Ich hab Schiss."

„Mein kleiner Bruder hat vor gar nichts Schiss...", sagte sie fest und drückte selbst auf den Anruf-Button.

„Wenn du wüsstest..." Ich lauschte dem Freizeichen. Einmal, zweimal. Dreimal. Viermal. Nach dem fünften Mal legte ich auf. „Mist."

„Probier's später nochmal."

Ich nickte. Was für ein... „Ich muss mal auf Toilette", sagte ich gepresst und stand schnell auf, bevor sie sah, dass ich den Kampf gegen den Stress und die Tränen endgültig verloren hatte.  

......

*räusper* so ne Woche geht verdammt schnell um, oder? Schönen "Samstag", ihr Lieben 😎

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