Das Verschwinden: 1 ~ Becky

Ich steuerte den Wagen durch die dunklen Heidelberger Straßen und lauschte der angespannten Stille. Ich traute mich nicht, das Radio einzuschalten. Fast konnte man Nicks Gedanken hören. Sein ganzer Körper war zum Zerreißen angespannt. Ich hätte ihn gerne in den Arm genommen, aber ich wusste, dass er es in solchen Situationen nur schwer zulassen konnte. Er war schon immer so gewesen. Ich war diejenige von uns Schwestern, bei der es noch am ehesten zuließ.

So wie jetzt hatte ich ihn nur einmal erlebt. Damals. Als Diana gestorben war. Aber das war anders gewesen. Er hatte unter Schock gestanden. Es war im Einsatz passiert, sie war erschossen worden. Es war etwas Plötzliches gewesen, etwas Grausames mit einer totalitären, endgültigen Gewissheit.

Das jetzt war etwas Vages. Etwas Fragiles. Ein Gefühl. Ein furchtbares Gefühl, das auf viel Mutmaßung, Ungewissheit und Angst beruhte. Auf einem Streit der beiden. War sie weggelaufen? Oder war wirklich etwas passiert?

Nick stand total neben sich.

Als ich meinen Mini in der Nähe ihres Hauses parkte, umständlich mit fünf Versuchen rückwärts in eine Parklücke steuerte, war er so angespannt, dass er es nicht mal fertigbrachte, mich deswegen aufzuziehen. Er stieg wortlos aus und lief, ohne auf mich zu warten, auf die Eingangstür des Mehrfamilienhauses zu und klingelte. Ich folgte ihm etwas langsamer. Auch, als er die Tür aufdrückte, die keinen Sicherheitsmechanismus hatte, ließ ich ihm den Abstand, den er wollte und gerade brauchte. Wir kannten uns zu gut. Er rannte die Treppenstufen hinauf, ich lief sie langsam und als ich oben ankam, saß er wie ein Häufchen Elend neben der Fußmatte und weinte, wie ein kleiner Junge. Alohomora stand auf der Fußmatte. Sie hatte ihm nicht geöffnete. Mir zerbrach das Herz ihn so zu sehen.

„Oh, Nicki..." Ich sank vor ihm in die Knie und fuhr ihm mit beiden Händen durchs Haar. „Es tut mir so leid..."

Ihn so fertig, so verzweifelt zu sehen, ertrug ich nicht. Nicht noch einmal. Nicht noch einmal nach dem ganzen Elend mit Diana. Er würde das auch nicht noch mal ertragen. Das wusste ich. Das würde ihn zerstören. Wenn das Mädchen nicht wieder auftauchen würde, würde mein kleiner Bruder daran kaputt gehen. Und keiner von uns würde ihm helfen können.

Ich rutschte neben ihn und schlang meinen Arm um seine Schulter, während er total zusammenbrach. Ich hatte Nick noch nie so weinen sehen wie in diesem Moment. Ich ließ ihn. Es hätte nichts gebracht, ihn daran zu hindern oder ihn aufzubauen. Nicht jetzt.

Er vergrub sich an meiner Seite und ich hatte das Gefühl, dass wir wieder Kinder waren. Ich sechs, er vier Jahre alt, im Garten unserer Großeltern, beim Birnen klauen erwischt oder abgestürzt vom Apfelbaum. Wir waren sechs Geschwister, aber für uns hatte es immer nur uns gegeben. Im Herzen Zwillinge hatte unser Vater immer gesagt. Deshalb war er mein Trauzeuge und niemand sonst.

Sanft drückte ich Nick einen Kuss auf das strohblonde Haar und schrieb Tom eine Whatsapp.

Ich: In ihrer Wohnung ist sie nicht. Wie ist die Lage bei euch?

Es dauerte einen Moment bis er zurückschrieb. Während ich seine Antwort las, streichelte ich abwesend Nicks Schulter. Bei ihm war Sophie auch nicht. Das war nicht gut. Ich hätte Nick gerne etwas anderes gesagt... dass sie bei den beiden war. Wohlbehalten auf Nicks Sofa saß und fern sah. Dort auf ihn wartete. Dass alles nur ein Missverständnis war.

Ich: Verstehe. Wir brauchen hier noch einen Moment. Holt euch einen Kaffee bei Starbucks... Wir kommen, so schnell es geht.

Tom würde das verstehen. Jan vermutlich auch. Außerdem würde ich Nick niemals alleine auf die Beine kriegen. Niemals, nicht so.

Jan mochte ich. Er war in Ordnung und klar im Kopf. Er machte sich Sorgen um das Mädchen und hielt meinen Bruder für genau den Idioten und Schwachkopf, der er in dieser ganzen Sache um diese Pferde-Akte auch gewesen war. Vermutlich würden sich die zwei gut verstehen. Unter anderen Umständen.

Nicks Beben wurde weniger. Das Schluchzen wich einem ruhigeren Atmen und ich spürte, wie die Anspannung in seinem Körper ein wenig nachließ.

„Ich hab dich lieb...", flüsterte ich an sein Ohr und spürte, wie er ganz ruhig wurde. Sanft drückte ich ihm einen Kuss auf die Stirn. „Die Jungs warten auf uns bei Starbucks...", sagte ich leise. „Aber wenn du noch einen Moment brauchst, ist das in Ordnung."

Nick schüttelte langsam den Kopf und seufzte schwer. „Nein..." Seine Stimme klang dünn und ganz fremd. „Nein. Geht schon." Mühsam und schwerfällig löste er sich von mir und stand auf. Er sah miserabel aus. Ich reichte ihm die Hand und bevor er sie nahm, verharrte sein Finger über dem Klingelknopf. Oh, Nick...

***

Wir holten die Jungs beim Starbucks in der Altstadt ab und liefen schweigend nebeneinander her zur Polizeistation. Niemand sprach ein Wort. Tom und Jan hatten Nick kurz gemustert, aber kein Wort über seine blutgeränderten Augen verloren.

Als wir vor der Wache ankamen, blieb Nick mit mir draußen stehen.

„Ich dreh durch...", sagte er leise.

„Du drehst nicht durch."

„Becks, wenn das passiert ist, was ich denk, das passiert ist, dann dreh ich durch. Ich kann da nicht reingehen."

„Was denkst du denn, was passiert ist?"

Er wich meinem Blick aus und biss die Zähne aufeinander. Er machte diesen Job fast schon zu lange. Ich konnte mir vorstellen, was er dachte. Ihr Handy hatte hinter der Tür auf dem Boden gelegen. Er malte sich das Schlimmste aus.

„Nick, was wäre für dich das Worst-Case-Szenario? Sprich es aus. Du hattest schon ein Worst-Case-Szenario. Es... wird einfacher, wenn du es aussprichst."

„Es wird nie einfacher."

Ich schwieg. Vermutlich hatte er recht. Ich sah nach oben und sah Tom in der geöffneten Tür stehen. Er wartete auf uns. Er sah nicht weniger angespannt aus als wir.

„Sprich es aus...", sagte ich leise. „Bevor wir da reingehen." Ich griff nach seinen Händen. Sie waren eiskalt und er zitterte.

Fuck, ey..." Nick lehnte sich nach vorne bis er mit der Stirn meine berührte. Dann hörte ich seine Stimme gebrochen flüstern: „Ich hab Angst, dass sie aus ihrer Wohnung von irgendeinem perversen Schwein aus ihrer Wohnung entführt wurde, in einem Loch irgendwo im Wald gefangen gehalten wird und man sie foltert und vergewaltigt. Dass sie da verrottet und man sie umbringt. Und dass man sie vielleicht nie wieder findet. Dass ich sie nie mehr wieder sehe. Das ist mein Worst Case." Ein Zittern ging durch seinen Körper und ich nickte.

„Okay." Ich schob ihn sanft von mir und sah ihm fest in die Augen. „Du bekommst sie zurück. Das verspreche ich dir..."

Er sah mich an und ich sah seine Unterlippe verräterisch zittern. „Das kannst du nicht... Becky... das kannst du mir nicht versprechen."

„Kommt ihr?" Toms Stimme durchschnitt die Stille zwischen uns und ich nickte.

Doch." Ich sah Nick direkt in die Augen. „Ich verspreche es dir. Ich werde nicht zulassen, dass du das nochmal durchmachen musst, verstanden?"

Er schluckte, hatte aber keine andere Chance, als irgendwann zu nicken. Ich würde es nicht zulassen, dass er ein zweites Mal durch so eine Situation hindurch musste. Ich würde alles in meiner Macht stehende tun, um ihn davor zu beschützen. Alles.

Ich nahm seine Hand in meine und hatte das Gefühl, ihn zum Schafott zu führen. Es war sein schwerster Gang. Nach Dianas Beerdigung war das sein vielleicht schwerster Gang.


............

😥  fängt heiter an, oder? 

Wie findet ihr es, auch Einblick in die Köpfe anderer Figuren zu bekommen - oder soll ich das lassen? Interessiert euch ein Kopf besonders? 🤔😎

......

P.S. ich habe beschlossen: ich brauche den Druck, dass ihr mir im Nacken sitzt. Ein Teil bis zur Lücke.

....

P.P.S. 🍀🦄🌹 Mögt ihr Märchen? Welche mögt/mochtet ihr besonders gerne bzw gar nicht?

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