Das letzte Einhorn: 18 ~ Nick

Ich lief ein Stück am Neckar entlang und setzte mich dann auf die Ufermauer, bevor ich wählte. Der Schnaps war mir ziemlich in den Kopf gestiegen. Die frische Luft, der Sauerstoff. Ich musste mich ordentlich zusammenreißen um nicht zu doll zu wanken. Eigentlich war ich die ganze Zeit nüchtern gewesen, warum der Sambuca nach dem Essen so rein gehauen hatte, wusste ich nicht. Mist... Es waren mehrere gewesen. Wie viele... zwei? Drei? Keine Ahnung.

Es wählte.

Einmal.

Zweimal

Dreimal.

Dann: „Hi..."

Ich lächelte. „Hi..." Ich atmete auf, als ich ihre Stimme hörte. Schloss die Augen. Man, ich hatte ordentlich einen sitzen.

„Na, wie geht es dem Einhorn?"

Ich hörte, dass sie lächelte. „Das ist gefüttert und glücklich."

„Klingt erfolgreich." Sie lachte leise. „Was habt ihr mit dem armen Einhorn bis jetzt angestellt?"

„Paintball gespielt und es abgefüllt..." Ich seufzte leise und versuchte sie mir vorzustellen, aber es gelang mir nicht. „Das musste ordentlich Federn lassen..."

„Sah ganz so aus... Aber Einhörner haben eigentlich keine Federn."

„Dann ist es wohl so ein anderes Ross... so eins mit Federn."

 „Ein Pegasus?"

„Vielleicht...", murmelte ich und lauschte ihrer Stimme nach. 

Pi schwieg einen Moment. „Und jetzt zerrt ihr das arme Hörnchen noch durch die Stripclubs?"

„Um ehrlich zu sein... keine Ahnung." Ich fuhr mir nachdenklich durch die Haare. „Ich war in die Planung nicht so invulv... invov..."

„Involviert?"

„Ja. Danke"

„Bist du betrunken?", fragte sie und ich glaubte ein unterdrücktes Lachen herauszuhören.

„Nein. Nicht wirklich." Ich schwieg. Meine Zunge war tatsächlich schwerer als ich eben noch geglaubt hatte. „Ein bisschen eventuell..."

„Wow, Nick. Das hätte ich von dir nicht erwartet..."

„Wieso?"

„Ich glaube, ich hab dich in all der Zeit nie betrunken erlebt..."

„Doch", murmelte ich. „Wir haben uns betrunken kennen gelernt."

Sie schwieg einen Moment. „Stimmt."

„Das war eine gute Nacht...", murmelte ich.

„War ganz nett, ja..."

„Nett", ich schnaubte, „Du hast gesagt, du hättest einen verdammten Orgasmus gehabt..."

„Den hatte ich auch, ja" Pi lachte leise, schwieg dann aber wieder. „Du bist echt betrunken, Nick..."

Stimmt. Das war ich. Ich hätte das mit dem Orgasmus nicht sagen sollen. „Ich glaube, dass ich vielleicht angeschwipst von zu viel Schnaps bin."

„Das glaube ich auch." Etwas raschelte im Hintergrund. Wo war sie? Zuhause? In ihrem Bett? War das Bettzeug, das so raschelte? Aber dafür war es eigentlich zu früh. „Aber hast du Spaß?"

„Ich hätte mehr Spaß, wenn ich wissen würde, dass es dir gut gehen würde und dass du..." Ich brach ab, als ich ihr Stocken bemerkte. Ich sollte nicht weiter sprechen. Ich sollte meine Klappe halten. Der Alkohol hatte meine Zunge nicht schwer gemacht, sondern gelockert, verdammt.

„Dass ich?"

„Ich will dich sehen...", murmelte ich. „Pi, du fehlst mir."

Ich hielt die Luft an, während ich auf ihre Reaktion wartete. Und wartete. Das war die Wahrheit, die seit Wochen auf meine Schultern drückte. Ich wollte sie einfach sehen. Aber ich stellte mich an, wie es Tom so schön gesagt hatte.

Sie schwieg beharrlich und irgendwann seufzte sie schwer. „Nick..."

„Tut mir leid, aber so ist es einfach. Du bist da, ich bin hier. Du fehlst mir. Das ist beschissen. Ich will dich sehen und ich weiß nicht, ob ich dich besuchen kommen soll, weil wir einfach nicht darüber sprechen, wie es dir geht und – sorry... ich bin betrunken."

Sie schwieg noch immer. Das Schweigen machte mich ganz nervös.

„Ich will dich einfach sehen, verdammt... Du fehlst mir."

„Du fehlst mir auch...", murmelte sie und holte Luft.

Aber.

Scheiße. Da würde ein Aber kommen. „Pi, nicht..."

Sie holte Luft und während sie Luft holte, zitterte sie. „Doch, Nick."




„Du fehlst mir auch. Sehr.... Und ich will dich auch sehen. Aber... Ich kann... das gerade nicht..."

Mein Kopf rauschte. Keine Ahnung, ob das die PTBS, der Alkohol oder mein gelähmter Verstand war. „Warte, was?"

Ich kann nicht." Sie schluckte. „Das ist so viel gerade... Meine Eltern sind gerade so... furchtbar und ich hab in Düsseldorf so... viel Scheiße am Hals... ich erkenn mich kaum selbst... Ich muss erst wieder ein bisschen mehr ich selbst werden..."

Ich riss den Kopf hoch und starrte auf den Neckar vor mir. „Was?!" Was hatte sie da gerade gesagt? Mit einem Mal war ich unglaublich nüchtern. Trotzdem verstand ich kein Wort von dem, was sie da gerade sagte.

„Du darfst das nicht falsch verstehen..."

„Was soll ich nicht falsch verstehen?"

Sie holte tief Luft. „Düsseldorf. Das... was in Düsseldorf los ist. Das ist wirklich... Ich muss mich erst sortieren. Wieder klar kommen mit mir selbst. Und...--- Ich brauche Zeit."

„Zeit..."

„Ja...", hauchte sie.

„Zeit. Du brauchst Zeit...", wiederholte ich. Ich verstand nicht, was da gerade passierte. Machte sie gerade Schluss? Ich hatte ihr eben gerade gesagt, dass sie mir fehlte, dass ich es kaum noch ohne sie aushielt und sie machte Schluss mit mir? Was zum Teufel...

„Du fehlst mir auch", flüsterte sie. „Aber ich brauche Zeit... Ich muss... darüber weg kommen, was passiert ist."

Ich starrte mit offenem Mund auf den Neckar. Mein Kopf war wie leer gefegt. Was tat sie da gerade? „Warte mal kurz... nur damit ich mitkomme... Düsseldorf ist furchtbar. Deine Eltern sind furchtbar. Alles ist scheiße gerade und schlimm. Dir geht es dreckig mit dem, was passiert ist, was ich wirklich verstehen kann, Pi – wirklich. Niemand versteht das besser als ich, glaub mir das. Aber du willst dich aber trotzdem erst mal alleine sortieren. Hab ich das richtig verstanden?!"

Flipp nicht aus, Nick... Bitte flipp nicht aus... mahnte ich mich selbst.

Pi schwieg einen Moment. „Sag das nicht so... Du verstehst das nicht..."

„Glaub mir, ich versteh das sehr gut."

„Dir ist das nicht passiert!", brach es aus plötzlich aus ihr heraus und ich blieb stumm. Mein Puls hämmerte. „Mir ist das passiert! Ich muss damit klar kommen!"

„Nein?", flüsterte ich und spürte, wie das Gefühl der Ohnmacht mich mitzureißen drohte. Diese Hilflosigkeit der letzten Wochen war plötzlich wieder zu präsent. Die Hilflosigkeit und die Wut. Scheiße... Ich merkte ganz deutlich, wie mir die Kontrolle aus den Fingern lief. Ich versuchte mich zu konzentrieren, mich auf sie zu konzentrieren. „Pi, mir ist das genauso passiert wie dir und deinen Eltern oder Jan oder deiner Schwestern oder Mo - nur anders... Wir müssen alle damit umgehen lernen."

Sie schwieg. Lange. Sehr lange. Sie lief mir weg. Mit jedem Augenblick des Schweigens lief sie mir weiter weg. „Ja. Und das ist im Moment meine Art. Ich brauche noch mehr Zeit und Abstand von dieser ganzen Sache."

Scheiße. Mein Herz zog sich zusammen und meine Augen fühlten sich an, als hätte jemand Sand hinein gestreut.

„Du hast mich in der Klinik allein gelassen." Ich spürte, wie sich ihre Stimme am anderen Ende versteifte und eine Schärfe annahm, die ich nicht verstand.

Ich schloss die Augen. „Wirf mir das nicht vor... bitte..."

„Mach ich nicht, aber... Du hast versprochen, du wärst immer da... Aber du warst es nicht. Und jetzt... jetzt brauche ich Abstand und du musst mir den lassen."

Ich schluckte. Ich machte mir das selbst zum Vorwurf, dass ich gegangen war. Dass ich nicht gewartet hatte. Dass ich mir nicht in Gießen ein Hotelzimmer genommen hatte – dass ich das nicht schon beim ersten Mal gemacht hatte. Ich war mir auch nicht wirklich klar, ob sie mir ihren Rauswurf vorwarf – oder den ihres Vaters, von dem sie vermutlich immer noch nichts wusste. „Okay..." Ich schluckte schwer. „Okay...", wiederholte ich und lauschte der Stille. Ich hörte sie tief einatmen. „Und was wird aus uns?"

„Ich brauch ein bisschen Abstand..."

„Ja, hab ich verstanden...", murmelte ich und fühlte mich, als ob sie mir mit einem Hammer gegen den Kopf geschlagen hätte. Das war keine Antwort. Kein ja, kein nein. Kein ein, kein aus. Kein schwarz, kein weiß. „Und ich? Was ist mit mir?"

„Ich glaube, du brauchst auch ein bisschen Abstand...", flüsterte sie. „Du musst auch ein bisschen Abstand von den Dingen gewinnen, die passiert sind."

Das stimmte nicht. In erster Linie brauchte ich sie. Da war ich mir zu einhundert Prozent sicher. Scheiße.

Scheiße...

Ich schloss die Augen und spürte, wie sich ein scheußliches Gefühl in mir hinauf kämpfte. Ein sehr scheußliches. Wut war nichts dagegen. „Okay..." Ich schluckte. „Also... Abstand.... Ja?"

„Ja...", murmelte sie und Stille trat ein. Zähe, unangenehme Stille. Der Alkohol in meinen Adern berauschte mich nicht mehr, sondern sorgte nur noch für einen starren, undurchdringlichen Nebel in meinem Kopf. Mein Herz schlug kaum mehr. Das war ein riesiger Fehler. Ich war mir sehr sicher, dass das ein riesiger Fehler war.

„Pi-Sophie...", flüsterte ich.

„Nick..."

„Mach das nicht... bitte."

„Ich muss." Pi schluckte und ich hatte das Gefühl, dass sie genauso mit den Tränen kämpfte wie ich. „Ich melde mich bei dir, okay?"

„Okay..." Meine Stimme brach genauso weg wie das Gespräch, während ich noch sagte: „Ich liebe dich."




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