Casterlystein: 30 ~ Pi

Innerhalb weniger Sekunden war meine Zündschnur abgebrannt. Ich ging total in die Luft. Ich schwebte etwas über mir und sah mir dabei zu, wie ich Luft holte und explodierte wie ein Knallfrosch zu Silvester.

Selbst Jans geflüstertes „Pi" half nicht.

Nick saß kerzengerade auf dem Sofa und sah aus, als hätte er einen gewaltigen Fehler gemacht, mich hierher zu bringen.

Ich sah Rot. Ich rastete total aus.

Vielleicht wäre ich gar nicht so ausgeflippt, wenn mein Vater nicht von dem Studium angefangen hätte oder die Schule außen vor gelassen hätte. Vor allem, wenn er die gute Ausbildung außen vor gelassen hätte. Denn das war es, das mich auf hundertachtzig beschleunigte – und zwar innerhalb von einem Wimpernschlag.

„Ihr hättet diese ganze gute Schulausbildung stecken lassen können!", fauchte ich. „Ich hätte das verfickte Internat nicht gebraucht!" In meinen Ohren rauschte es und ich hatte das Gefühl, dass meine Halsschlagader zu schwoll.

„Nicht in diesem Ton, Sophie!" Mein Vater stand auf und baute sich vor mir auf. Das sollte autoritär wirken. War mir aber egal.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn vor. „Mir ist mein Ton gerade scheißegal. Du hörst mir doch ohnehin nicht zu, egal was ich zu sagen habe! Du hast mir die ganzen Jahre über nicht zugehört! Egal wie oft ich dich gebeten habe, mich von dieser Schule runter zunehmen! Es war nie ein Thema für dich!" Das Rauschen in meinen Ohren nahm zu und meine Stimme wurde lauter.

Ich starrte auf die langstieligen Weingläser auf dem Tisch und spürte das Brennen in meiner Kehle und hinter meinen Augen. Ich war so scheiß wütend auf ihn. Ich spürte, die Wut in meinem Bauch größer und größer werden, wie einen gewaltigen Sturm.

„Natürlich war das nie ein Thema für uns! Das Internat war", er öffnete den Mund, „die beste Option."

„Wofür denn bitte?!", platzte es aus mir raus. „Erklär mir bitte, wofür dieses beschissene Schule die beste Option war?!"

„Bildung, die Schule hat einen ausgezeichneten Ruf! Du hattest eine Lernschwäche und-"

"Was?!" Ich wollte etwas gegen die Wand werfen, sah aber nichts, was guten Gewissens kaputt machen konnte. Außerdem war ich hier nicht zuhause. In Düsseldorf hätte ich diese hässliche Vase vom Kamin gerissen.

„Fred", sagte Theo ruhig und nickte auf die Couch. „Setz dich bitte." Er holte tief Luft und lächelte mich dann aufmunternd an. „Pi, willst du dich nicht auch wieder setzen, mh?"

Ich stand noch immer mit verschränkten Armen an der Wand. Lernschwäche. Mein Herz klopfte mir bis in die Ohren. Ich sah zu Nick. Der legte nur den Kopf schief und schloss entschuldigend die Augen. Es tat ihm leid. Sollte es auch. Ich hatte gewusst, dass das so eskalieren würde. „Nein", sage ich fest. „Ich brauche mehr Abstand."

„Pi...", raunte Nick mir beschwichtigend zu, und ich schwöre, wenn mein Vater ihm nicht diesen Blick zugeworfen hätte, dann hätte ich es auch getan. Aber dieser Blick war so vernichtend, so voller... Missgunst, dass ich versucht war, ihm das gesamte Rotweinglas überzuschütten.

„Schatz...", flüsterte meine Mutter. Ich hatte fast vergessen, dass sie auch noch auf der Couch saß.

„Was, Schatz?" Ich funkelte sie an. „Jetzt kommst du mir mit Schatz? An Weihnachten hast du noch aufgelegt? Ich komm da nicht mehr ganz hinterher, mit Schatz und Nicht-Schatz, Mutter." Ich stöhnte. „Echt, jetzt. Theo, das ist echt gut gemeint von dir, mit dieser Versöhnungskiste, aber ich denke nicht, dass-"

Theo drehte den Kopf zu mir und hob eine Augenbraue. Ich wusste nicht, wieso, aber ich brach ab, und schwieg. Holte Luft und trat einen Schritt zurück. Keine Ahnung, wie er das machte. „Setzt du dich jetzt? Bitte?" Die Augenbraue wanderte noch etwas höher und ich setzte mich kommentarlos zurück neben Nick.

Um Jans Mundwinkel zuckte es verräterisch. Arschloch. Wenn der jetzt lachen würde, wäre er die längste Zeit mein Lieblingscousin gewesen.

Theo sah seinen Bruder an. „Okay. Ich merke, hier ist jede Menge angestaute Wut im Raum..."

Ach? Ich hätte fast aufgelacht. Genau wie Jan. Der prustete verhalten in seine Hand, trank einen Schluck Wasser und murmelte halblaut etwas wie „Wirklich, Dad? Hätte ich fast nicht gemerkt...". Ich war mir sehr sicher, dass Theo das nicht in die Schublade konstruktiv gesteckt hätte, und war beeindruckt, mit was für einer stoischen Gelassenheit mein Onkel die Seitenhiebe seines Sohnes ignorierte.

„Diese ganzen unterschwelligen Aggressionen machen mich sehr traurig, denn ich kenne euch eigentlich anders..." Theo schüttelte den Kopf. „Ich würd gerne von euch wissen, und zwar sachlich, so, dass ihr einander ausreden lasst, was diese Schulsituation für euch bedeutet und wie ihr euch dabei fühlt."

„Wow." Nick starrte meinen Onkel beeindruckt an. Ich hatte keine Ahnung, warum er ihn ansah, wie den Messias.

„Das ist nicht dein Ernst!" Mein Vater lachte trocken.

„Mein voller Ernst." Theo lehnte sich nach vorn und sah ihn auffordernd, mit hochgezogener, linker Augenbraue an. „Du darfst gerne anfangen, Freddy."

Das Kieferngelenk meines Vaters stand voll unter Spannung. Jeder Muskel war angespannt. Aber er machte keine Anstalten, zu antworten. Meine Mutter rutschte nervös aus dem Sofa herum, griff nach dem Weinglas und stürzte es dann in einem Zug hinunter. „Die Schule ist Pi wahnsinnig schwer gefallen. Sie hatte unglaubliche... Lernschwierigkeiten. Lesen, Schreiben, das ist ihr unwahrscheinlich schwer gefallen am Anfang und sie hat... individuelle Betreuung gebraucht."

Ich setzte mich kerzengerade hin. Das war nicht wahr. Ich war nur langsam. Aber so, wie sie das gerade darstellte, hatte ich eine sonderpädagogische Lernförderung gebraucht. Mir stand der Mund offen. „Mama..."

Sie schluckte. „Sophie... brauchte jeden Tag Hilfe, viel Hilfe und Unterstützung bei den Hausaufgaben und – sie war so wild. Immer war sie in Bewegung! So unbeschreiblich laut. Das konnten wir nicht leisten. Wir – wir waren beide berufstätig. Die Firma hat so... unwahrscheinlich viel von uns abverlangt. Als ihre Noten schlecht wurden... war das Internat..." Sie wich meinem Blick aus. „ Eine gute – die beste – Option."

Ich spürte Nicks Hand warm auf meinem Oberschenkel, während meine Organe zu Eis wurden.

Jan verzog das Gesicht zu einer angespannten Grimasse und sah mich an.

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Mein Kopf ist vollkommen leer. Ich erinnere mich daran. Sie haben gesagt, ich könnte viel besser reiten. Jeden Tag, weil der Stall viel näher am Internat wäre und...

Ich schloss die Augen.

„Ich hatte nur eine vier im Zeugnis...", flüsterte ich. „In Deutsch..."

Jans Miene wurde starr und auch Theo saß plötzlich ganz ruhig.

„Ich war nicht schlecht. Ich hatte viele zweier im Zeugnis. Nur diese eine vier. Weil ich in Deutsch einfach schlecht war. Ihr..." Ich schluckte schwer. „Ich war zehn Jahre alt. Ihr habt mich als kleines Mädchen dahin geschickt!"

Das Rauschen in meinen Ohren kam zu Ruhig wie ein Schwarm wütender Wespen. „Ihr habt mich auf das Internat geschickt, weil ich mies in Deutsch war und ihr zu faul wart, euch selbst darum zu kümmern? Hab ich das gerade richtig verstanden? Weil ich aufgeweckt war? Und gerne laut war, und wild?!" Ich sprang wieder auf. „Das ist nicht dein Ernst, oder?! Ihr habt mich, eure Tochter, ins Internat abgeschoben, weil ich laut und wild war, und in der Schule kein Überflieger?! Hab ich das gerade richtig verstanden?"

Mir platzte buchstäblich der Kopf.

„Ich fasse es nicht, dass du das gerade gesagt hast!" Am liebsten hätte ich ihr eine geknallt, so sauer war ich.

An meinem Handgelenk spürte ich warm Nicks Hand, die sich sanft, darum schloss und bestimmt, daran zog. „Setz dich. Atme durch."

„Nein!", fuhr ich ihn an. „Ich atme nicht durch!"

„Doch! Tust du." Er gab mir einen leichten Ruck und ich fiel zurück auf die Couch. Sofort schob er mir die Hand auf den unteren Rücken und hielt mich sanft fest. Ich wollte fliehen. Ich wollte hier raus. Vor allem wollte ich am liebsten losheulen. Aber auch daran hinderte mich seine Berührung.

„Pi, wie empfindest du die Schulsache?" fragte mich Theo.

Ich schnaufte. „Anders! Ganz anders!"

„Inwiefern?", hakte er freundlich nach.

Mein Vater lehnte sich gönnerhaft zusammen. „Natürlich vollkommen konträr. Pi war ein Überflieger!"

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. „Wow." Das hatte gesessen. Und zwar richtig. „Weißt du, bis eben gerade war ich nur richtig, richtig sauer auf euch. Aber eben gerade hast du mich verletzt. Richtig verletzt." Ich schluckte hart. „Ich war kein Überflieger, und das weiß ich auch. Aber ich hätte diese schicke Schule nicht gebraucht. Ich wollte da nicht hin. Ich wollte auf meine Schule gehen. Und ich wollte auf eine normale weiterführende Schule. Mit meinen Grundschulfreunden. Ich wollte nicht auf dieses versnobte Internat, wo ich keine Sau kannte."

Meine Stimme fing an zu zittern, weil ich mich ganz gefährlich dem Punkt näherte, wo das Eis sehr, sehr dünn wurde.

„Ich wollte reiten... und ich... wollte-" Ich schloss die Augen, weil ich spürte, dass ich gegen das Brennen in meinen Augen kaum noch eine reelle Chance hatte.

Du wolltest-", fuhr mich mein Vater an. „Du warst noch ein verdammtes Kind, Sophie. Du hattest verdammt noch mal keine Forderungen zu stellen!"

„Freddy...", Theo hob besänftigend eine Hand.

„Ich wollte da nicht hin, Papa!", flüsterte ich.

„Die Schule war hervorragend!", hielt er dagegen. „Von Söders hatten ihren Jungen auch-"

Ich schloss die Augen wieder. Ja. Von Söders. Ich schluckte schwer. Spürte Nicks Hand schwer auf meiner Schulter. Jetzt spürte ich, wie das Eis unter meinen Füßen zu knacken begann. Ich dachte an die unzähligen Sommerfeste, die Weihnachtsfeiern... An die Weihnachtsfeier und...

Fuck.

„Ich wollte da nicht hin", wiederholte ich leise.

„Wir waren alle auf dem Internat Baron Schwederer. Das ist Familientradition! Ich, Sandra, sogar Theo."

„Nein, ich war auf Salem, Friedrich auch", entgegnete er trocken. „Gloria war auf Schwederer."

Jan gluckste, mein Vater warf Theo einen Blick zu, der einen Lasercut hätte durchführen können. „Es gibt Dinge, Sophie, denen stellt man sich einfach."

„Fred", meine Mutter schaltete sich jetzt ein.

„Aha." Ich reckte mein Kinn. „Und warum musste ich mich dem Scheiß dann alleine stellen?" Er sah mich irritiert an. „Warum durfte meine werte Schwester ihr entzückendes Abi dann auf einer stinknormalen Schule machen? Warum habt ihr die liebe Maja nicht auf das bescheuerte Internat gegeben, sondern nur mich, hm?! Erklär mir das mal." Ich funkelte ihn an und tatsächlich sah er für einen kurzen Moment so aus, als würde er in Not geraten.

Für diesen einen, winzigen Augenblick sah er aus, wie mein Vater.

„Sie war klein", sagte er.

„Ja, aber nicht beschissene achtzehn Jahre lang." Jan. Gott, ich liebte ihn für diesen Seitenkommentare. Mein persönlicher Waldorf und Statler dieses Abends.

Theo drehte erstmals seinen Kopf in Jans Richtung und diesmal kassierte Jan seine erste Augenbraue. Ob das sowas wie eine imaginäre gelbe Karte war? Ich fragte mich insgeheim, wie viele Augenbrauen man sich in diesem Gespräch leisten durfte, bevor man vom Hausherr vor die Tür gesetzt wurde. Bisheriger Spielstand:

Pi: 2

Fred: 1

Jan: 1

Marina: 0

Nick: 0

Theo: 0, wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass Theo sich selbst damit abstrafen konnte.

„Natürlich war sie das", ich lachte sarkastisch. „Und süß." Ich rollte die Augen. „Und? War sie auch weniger anstrengend und wild als ich? War sie pflegeleichter?!" Ich biss mir auf die Wange und sah meine Eltern an. Als sie nicht antworteten, ich das gequälte Gesicht meiner Mutter sah, hatte ich meine Antwort. „Scheiße!"

Das nächste, an das ich mich erinnern konnte war, dass die Tür der Terrasse hinter mir zu fiel.

Und dass ich ein langstieliges Weinglas mit nach draußen genommen hatte.


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Auch hier: Frohes neues Jahr, meine Lieben. Ich würde sagen, wir sind mit einem ordentlichen Knall hinein gestartet, wo es doch kein richtiges Feuerwerk gab, hab ich wenigstens die liebe Pi-Sophie ordentlich in die Luft gejagt ;o)

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