Casterlystein: 30 ~ Nick
Pi lag schlafend in den zerwühlten Laken. Sie war total erledigt. Ich hatte sie die Treppe hochtragen müssen, so müde war sie gewesen. Ja, sie hatte sich auch etwas angestellt und war quengelig gewesen, aber sie hatte sich auf der Weihnachtsfeiertag mit meiner Familie ganz fantastisch geschlagen.
Ich war so stolz auf sie.
Sie blieb so standhaft, was den Alkohol anging. Selbst den Nachtisch hatte sie nicht angerührt, weil Lea, die Pfirsiche in Likör eingelegt hatte. Ich hatte die Vermutung, dass Pi deshalb so fertig war: weil die Anstrengung im Kopf so viel härter war, als die ganzen Gespräche mit meiner Familie.
Sie hatte den halben Tag bei Tom am Grill gestanden und war insbesondere Lucy großräumig aus dem Weg gegangen. Das hatte auch recht gut funktioniert. Lucy war auffallend oft im Wohnzimmer gewesen, wenn Pi in der Küche war und anders herum. Die beiden würden vermutlich auf keinen grünen Zweig mehr kommen.
Isa allerdings riss sich gut zusammen. Sie gab sich wirklich Mühe, Pi eine echte Chance zu geben. Die Wohnungsbesichtigung hatte dabei auch geholfen. Sie war beinahe übertrieben freundlich gewesen.
Becky hatte mich zweimal versucht, in die Mangel zu nehmen, was ich ihr geschenkt hatte. Ich hatte ihr keine Antwort gegeben. Dann hatte sie es später bei Pi versucht. Pi hatte Becky nur verständnislos angesehen und mich dann angegrinst. „Einen Kinogutschein und einen Schlüsselanhänger."
Becks hatte mich enttäuscht angesehen. „Echt jetzt?! Du machst so ein Geschiss wegen einem Kinogutschein?!" Sie schlug mir vor die Brust. „Du hätte ich besseres von dir erwartet, kleiner Bruder! Vor allem nach deiner Brandrede gestern."
„Welche Brandrede?", hatte Pi gefragt. Ich hatte ihr keine Antwort geben können. Becky gab sich enttäuscht, aber Pi hatte bloß gegrinst. Dann hatte sie mir ins Ohr geflüstert, wie sehr sie sich auf den Autokinobesuch freuen würde und ich war für ganze fünf Minuten mit den Gedanken ganz woanders gewesen.
Am Ende hatte sie das dritte Aufeinandertreffen mit meiner gesamten Familie endlich überstanden, ohne dass auch nur eine kleine Katastrophe passiert war. Sie war nüchtern geblieben und die Biester nett und handzahm. Und am Ende hatte ich uns nach Hause gefahren und sie Huckepack die Treppe hinauf getragen, weil sie so müde gewesen war.
Jetzt schlief sie. Ruhig und zufrieden, ihr Atem ging gleichmäßig neben mir, während ich mit dem Laptop auf dem Bauch neben ihr lag und Emails las. Neben all der Werbung hatte ich Weihnachtsgrüße von Inga und ihrer Familie. Finn war ziemlich groß geworden seit dem Sommer. Ich beantwortete die Mail und scrollte weiter durch den Posteingang, bis ich zu einer Nachricht kam, die mich stutzen ließ. Sie war von Kommissarin Bernicke.
Ich rief die Mail auf und las sie dreimal, bis ich verstand, was sie von mir wollte. Es war eine Nachricht ohne Anrede, ohne Höflichkeitsfloskeln. Ohne Abrede.
Faller wird versetzt.
Die Stelle ist ausgeschrieben.
Und der Link zur Ausschreibung.
Wollte Bernicke ernsthaft, dass ich das tat? Wollte ich, dass ich das tat? Nach diesem Jahr? Nach der gescheiterten Bewerbung zum SEK-Lehrgang? Nach der Suspendierung? Nach Pis Entführung, der Therapie?
Ich klickte auf den Link und sah mir die Ausschreibung an. Mh. Die Stelle war nicht uninteressant. Höhere Gehaltsklasse. Das Anforderungsprofil erfüllte ich. Ich warf einen Blick auf den Bewerbungszeitraum. Ablauf war der 2. Januar. „Hm...", machte ich nachdenklich.
Pi räkelte sich neben mir. Ihr Bein streifte meins und sie hob verschlafen den Kopf. „Mh... hey... du bist ja noch wach..."
Ich nickte und scrollte die Ausschreibung noch einmal nach oben.
„Was liest du?", fragte sie und rutschte neben mich. Müde blinzelnd warf sie einen Blick auf das Display und runzelte die Stirn. „Nick?"
„Bernicke hat mir das geschickt."
„Die Kommissarin?"
Ich nickte langsam. „Ihr Kollege wird versetzt. Die Stelle ist frei und ausgeschrieben."
„Und dann schickt sie dir das? Warum?" Pi gähnte verhallten.
Ich sah sie an und zuckte lahm mit den Schultern. Den Laptop klappte ich zu. „Keine Ahnung."
„Willst du dich verändern? Beruflich?", fragte sie und legte mir die Hand auf den Bauch.
Wollte ich? Ich konnte ihr nicht sofort auf die Frage antworten. Bernickes Mail hatte mich kalt erwischt. Das SEK hatte ich abgehakt. Und über Bernickes Aussage, dass ich mich bei der Kripo gut machen würde, hatte ich nie ernsthaft nachgedacht. „Ich weiß es nicht", gab ich aufrichtig zurück.
„Du wolltest doch zum SEK..."
Ich klappte den Laptop zu und legte ihn auf den Nachttisch. „Wollte ich, ja."
„Jetzt nicht mehr?"
Ich spürte, wie sich ihr Körper, näher an mich schmiegte. Auch darauf hatte ich keine direkte Antwort. Das war immer mein Traum gewesen. Wegen dem SEK war ich zur Polizei gegangen. Ich hatte meine komplette Ausbildung auf das SEK ausgerichtet und als ich dann zum Lehrgang zugelassen worden war, war Diana gestorben. Ich war mit Pauken und Trompeten durch die psychologischen Tests gefallen. Hatte mich hinter der aufkeimenden PTBS verschanzt und gearbeitet wie besessen, um im zweiten Versuch alles besser zu machen. Ich war fit gewesen wie nie zuvor - körperlich. Ich schoss seit Dianas Tod beidhändig herausragend und hatte die PTBS mit exzessivem Training kompensiert. Was ich nicht hatte ausgleichen können, waren die Schwächen in meiner psychischen Belastung. Ich war zum zweiten Mal durch die psychologische Eignung gefallen.
Ob ich ein drittes Mal auf den Lehrgang wollte, wusste ich nicht. Und, um ehrlich zu sein, hatten sich meine Prioritäten verschoben. Ich wusste nicht, ob ich noch wollte, für die Ausbildung für ein halbes Jahr nach Göppingen abgeordnet zu werden und ein halbes Jahr in der Kaserne zu wohnen, um diese Ausbildung zu durchlaufen und dabei von ihr getrennt zu sein. Gerade jetzt.
„Ich weiß es nicht."
„Warum nicht?", Pi rollte sich ein wenig auf die Seite und ihre Hand wanderte hinauf auf meine Brust. „Das war dein Traum."
Ich schloss die Augen. Das war es. Jahrelang. Ich hatte jahrelang genau dafür gekämpft und trainiert. Aber jetzt? Um ehrlich zu sein, hatte mein Traum gar nichts mehr mit dem Job zu tun, sondern vielmehr mit der Person, die gerade schlaftrunken meine Brust kraulte. Der Job war... zweitrangig geworden. Ich wollte, dass sie glücklich war. Dass wir eine Chance hatten, auch das nächste Jahr zu überstehen. Zusammen. Und dann, vielleicht irgendwann mal, wenn es wirklich mit uns funktionierte, hatte mein Traum vielleicht doch mal etwas mit einer kleinen Schachtel zu tun. Aber nicht jetzt. Noch lange nicht jetzt.
„Ja... war es." Ich vergrub meine Hand in ihrem Zopf.
„Ist es wegen der PTBS?"
Es war erstaulich, wie gut sie mich kannte. „Vielleicht... vielleicht auch nicht..." Ich seufzte schwer. „Ich weiß einfach nicht, ob die Sache mit dem SEK noch das Richtige für mich ist. Ich hab zwei Mal deutlich gesagt bekommen, dass ich es nicht machen soll und ein drittes Mal... vielleicht soll es einfach nicht sein..."
„Gibst du auf?" Sie drehte den Kopf und blinzelte mich in der Dunkelheit herausfordernd an. „Ich dachte, aufgeben sei keine Option."
„Das hat nichts mit aufgeben zu tun", ich fuhr mir über das Kinn. „Das hat was mit veränderten Prioritäten zu tun... Als ich das wollte... war mein Leben einfach noch ein anderes. Ich hatte..."
... nichts mehr, nur das.
Ich wollte nicht sagen, dass ich jetzt alles hatte. Ich wollte nicht sagen, dass ich sie hatte. Aber mir ging es besser und ich wollte sie in meiner Zukunft haben.
„Ja?"
„Es ist einfach nicht mehr so wichtig für mich."
Pis Hand hielt still und sie schwieg einen Augenblick. „Und was ist wichtig?"
„Du", sagte ich, „Wir... Die Idee von Bali vielleicht..." Ich dachte einen Moment nach. „Familie, Gesundheit... Das ist wichtig."
„Hm...", machte sie. Sie schnaufte. Ihre Hand schloss sich und umklammerte den Stoff meines T-Shirts. „Ja..."
Ich wusste, warum sie sich an mir festhielt. Es war das Wort Familie. Sie hatte mit ihrer seit Wochen keinen Kontakt. Sie tat so, als sei das okay, aber ich wusste, dass es sie belastete. Gerade über die Feiertage war es hart für sie. Gestern war sie bei Jan gewesen und heute hatte sie Ablenkung gehabt, aber ich sie immer wieder dabei erwischt, wie sie ihr Handy checkte.
Sie räusperte sich. „Also ist die Kripo eine Option für dich?"
„Ich habe keine Ahnung. Ich denke da heute nicht mehr drüber nach..."
„Worüber dann?" Ihre Finger ließen mein Shirt los und sie atmete aus. Dabei schob sie ihren Arm quer über meinen Brustkorb.
Ich schmunzelte. „Warst du nicht vorhin todmüde, wolltest schlafen und deine Ruhe?"
„Und dann sind spannende Dinge passiert. Ich bin 'ne Frau. Ich bin von Natur aus neugierig." Ihre Finger glitten zwischen meine Rippen und strichen nachdenklich auf und ab.
„Ach, wirklich?" Ich rutschte auf meinem Kopfkissen etwas tiefer und machte es mir etwas bequemer. „Lass uns nicht mehr darüber reden, okay? Lass uns schlafen."
Pi seufzte. „Wirklich?" Sie klimperte mit den Wimpern. „Schlafen?"
Behäbig drehte ich mich auf die Seite und sah sie durch die Dunkelheit an. Ihre Augen funkelten. „Gute Nacht, Pi-Sophie." Sanft streichelte ich über ihre Wange.
Sie grunzte frustriert. „Gute Nacht..."
Ich musste lachen und küsste ihre Nasenspitze.
„Du bist so blöd."
Ich war gerne blöd für sie. Wenn das der Preis war, war ich das gerne.
Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Ich sog die Luft ein und roch ihr Shampoo. Es roch frisch, nach Sommerblumen und Sonnenschein, und wenn ich die Augen schloss, sah ich es noch immer golden vor mir. Das dunkle Braun stand ihr, war immer noch etwas befremdlich. Jetzt, in der Dunkelheit, nur mit dem Duft ihrer frisch gewaschenen Haare in der Nase, war es, als sei es immer noch Sommer. Als sei sie das unverwundbare Mädchen aus dem Wunder, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte. Wie sehr ich mich getäuscht hatte.
Nachdenklich legte ich ihr eine Hand auf den Rücken und begann, ihr nachdenklich den Rücken zu kraulen, bis sie sich wieder auf den Bauch drehte und schließlich ruhige und gleichmäßige Atemzüge verrieten, dass sie eingeschlafen war.
Ich lag noch eine Weile wach und malte Kreise auf ihren Rücken, während ich nachdachte.
Faller wird versetzt.
Die Stelle ist ausgeschrieben.
Also ist die Kripo eine Option für dich?
War es das? War es wirklich eine Option? Wollte ich wirklich diese Veränderung? Was war mit dem SEK? War mir das wirklich nicht mehr wichtig?
Während meine Hand wieder und wieder Pis Rücken hinauf wanderte, ihre weiche Haut berührte, die kleine Narbe neben ihrer Wirbelsäule, die von einem entfernten Leberfleck her rührte, war ich mir zumindest darüber hundertprozentig sicher: Ich wollte das. Sie.
Ich wollte neben ihr einschlafen und neben ihr aufwachen. Ihren Rücken kraulen und das unzufriedene, verschlafene Murren hören, wenn ich damit aufhörte. Ich wollte den Sex mit ihr: den spektakulären, aufgeregten, und den ruhigen, trägen.
Ich wollte das alles, jeden Tag. Und nicht irgendeinen Kompromiss, bei dem ich unzufrieden auf einem Lehrgang herum dümpeln würde. Tief in mir war mir klar, dass dieser aggressive Wunsch der letzten zwei Jahre zum SEK zu gehen mit der PTBS zusammenhing. Davon war ich jetzt befreit. Die PTBS war... still. Stiller als in den Jahren zuvor. Vielleicht war Pi ein Grund dafür, vielleicht die Therapie. Ich konnte es nicht genau sagen.
Aber das war auch nicht mehr wichtig.
Die Frage war... wenn das SEK nicht mehr wichtig war, war mir Bernickes Angebot wichtig genug, um darüber nachzudenken?
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