Casterlystein: 30 ~ Nick

„Wie meinst du das, wir haben alles falsch gemacht?" Fred sah Theo irritiert an.

Theo griff nach einem Wasserglas und schenkte sich Wein nach. „Mein Sohn wollte mit siebzehn Jahren Weltmeister werden", begann er. „Er ging zur Schule. Er hatte Freunde, eine Freundin, ein Sozialleben. Er war sicher nicht mies in der Schule, aber auch kein Überflieger. Und – und das ist ein Aspekt, der sicher nicht zu vernachlässigen ist – er war, ist, Epileptiker." Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas. „Jan war - ist - stur. Ein furchtbarer Dickkopf. Er wollte das unbedingt. Mit dem Kopf durch die Wand. Koste es, was es wolle..." Sein Blick stellte sich weit und für einen Moment verlor sich Theo in Erinnerungen.

Pi hatte mir erzählt, wie erfolgreich Jan früher geritten war. Es jetzt so vor Augen geführt zu bekommen, was seltsam. Ich konnte ihn mir irgendwie nicht auf einem Pferd vorstellen.

„Ich hätte ihm das verbieten können. Wegen der Schule, oder der Krankheit. Oder wegen der Firma, der Familie. Du weißt, was mich das gekostet hat, wie viel Zeit, Geld und Nerven, wie viele Opfer ich für diesen Traum von ihm gebracht habe." Er rieb sich den Nacken. „Aber Jan und ich... so hart diese Zeit war, so sehr die Fetzen geflogen sind, wir waren immer ein Team. Nachdem seine Mutter gestorben war, waren wir zwei immer eins. Er hatte nie das Gefühl nicht an erster Stelle zu kommen. Mein Job war belastend, ich war viel im Ausland. Aber Jan war immer die Nummer eins." Er sah Fred lange an. „Ich frag dich jetzt was: Du sagst, ihr habt an die hundert Stunden gearbeitet. Meinst du, Pi hatte damals das Gefühl, ganz vorne anzustehen - oder eure Firma?"

Ich atmete aus. Wow.

Pis Vater bekam keinen Ton heraus.

„Ich sag dir mal, was mein Sohn gemacht hätte. Jan hätte eine Egoshow veranstaltet, von der ich ihn vermutlich nicht mehr hätte einsammeln können. Er hat in München mit vierzehn mal eine Party geschmissen, nach der ich die Wohnung komplett renovieren musste, weil ich zwei Wochen auf Geschäftsreise war, und Sandra keine Zeit hatte, nach dem Rechten zu sehen. Jan ist eine Diva. Das weiß er, das weiß ich. Wir hatten das damals gut im Griff." Er räusperte sich. „Aber Pi war sechs Jahre alt, als ihr die Firma gegründet habt. Die hatte Bedürfnisse. Kuscheln. Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Zeit mit Mama und Papa verbringen." Theo schüttelte den Kopf. „Und dann wundert ihr euch, dass die aufdreht? Freddy, das war ein Hilferuf, du Idiot!" Es zuckte um seine Mundwinkel. „Und dann steckt ihr das Mädchen ausgerechnet ins Internat, um Ruhe zu haben?! Sag mal, welchen Erziehungsratgeber habt ihr denn gelesen?"

Frederick von Frankenthal starrte seinen großen Bruder an, als ob der sich gerade in ein Einhorn verwandelt hätte. „Ich-"

In diesem Moment öffnete sich im Flur die Tür zum Arbeitszimmer und Pi kam mit ihrer Mutter zurück ins Wohnzimmer. Beide sahen unheimlich erledigt aus. Pi steuerte die Couch an und setzte sich neben mich. Sie bewegte sich steif und angestrengt, vermied dabei jeden Körper- und Blickkontakt. Ihre Hand lag auf dem Polster der Couch neben meinem Oberschenkel und ich hätte nur meinen kleinen Finger ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Doch ich ließ es. Sie hätte die Hand zurückgezogen, das spürte ich.

Marina setzte sich nicht zurück neben Fred, sondern zu meiner Überraschung in die Nähe ihrer Tochter. Obwohl sie angespannt wirkte, ihr Gesicht blass und die Augen rotgeädert waren, waren die Züge um ihren Mund herum entspannter als zuvor. Immer, wenn ihr Blick in Pis Richtung glitt, deutete sich ein zartes Lächeln an, das Pi allerdings nicht registrierte – und auch nicht erwiderte.

„Du hast keine Schuld, dass ich angefangen habe, zu trinken." Pi blickte nicht auf. Sie sprach ganz leise, und atmete dann zaghaft durch. „Das waren andere Faktoren."

Pis Vater hob den Kopf. „Welche?"

Sie schloss die Augen. „Ich glaube nicht, dass ich mit euch darüber sprechen möchte." Sie hielt sichtbar die Luft an.

Fred sah zu Theo, dann zu seiner Frau und schüttelte den Kopf. „Ich...-" Er rutschte auf der Couch herum, als ob er nicht mehr bequem sitzen könne. „Haben wir dir -" Wieder sah er zu Theo. „Hattest du jemals das Gefühl, dass... Gott... dass du uns nicht wichtig bist?" Er sah Pi an.

Pi verschob ihre Hand ein Stück und griff nach meiner. Ihre Hand streifte meinen kleinen Finger und umklammerte ihn fest. Als ob sie von einer Klippe abstürzen würde, und mein Finger ihr letzter Halt wäre. „Ich hab doch schon gesagt: Ihr habt mich abgeschoben...", flüsterte sie.

Theo schnaubte. Siehst du, meinte er. Und sein Bruder raufte sich die Haare. „Gott...", murmelte er. „Sophie..." Er atmete hörbar aus und schüttelte lahm den Kopf. „Wir wollten das nicht. Wir wollten..."

„Mein Bestes. Ja." Sie schluckte hart und ihre feste Umklammerung lockerte sich etwas. „Mama hat das auch gesagt. Dass ihr alles richtig machen wolltet. Dass ich euch wichtig bin."

„Das bist du", sagte er schnell und die Härte in seinem Blick verschwand für einen Moment.

Pi musterte die Weingläser auf dem Tisch und leckte sich über die spröden Lippen. „Ihr wolltet diese Firma richtig führen. Ihr wolltet meine Erziehung nicht vernachlässigen. Ihr wolltet mir eine gute Ausbildung ermöglichen. Ihr wolltet mir gleichzeitig den Sport ermöglichen. Deshalb habt ihr mich dorthin geschickt."

Ihre Eltern tauschten kurze Blicke, dann nickte ihr Vater stumm.

Pi atmete aus. „Okay... und ich wollte zuhause bleiben. Ich wollte meine Eltern. Das hat eben einfach nicht mit den Vorstellungen gepasst."

Die Stille, die danach entstand, war furchtbarer, als jedes Schweigen davor. Es war tragisch. Diese Beziehung war komplett kaputt – und das hatten alle erkannt. Es war wie diese Familienbande bei Game of Thrones: toxisch bis ins Mark. Ich hatte keine Ahnung, wie man das reparieren sollte.

„Na, komm...", sagte Theo schließlich zu mir und stand auf. „Wir gehen mal unauffällig in die Küche und bestellen Pizza."

Ich wollte Pi nicht alleine mit ihren Eltern lassen. Ich hatte Angst, dass es wieder eskalieren würde. Dass einer schreien würde, dass sie am Ende am Boden liegen würde und sich davon nicht mehr erholen würde. „Pi?" Ich sah sie an. Erst als sie nickte und sagte „Schon gut", willigte ich ein. Also stand ich sehr widerstrebend auf und folgte ihm aus dem Raum.

„Du musst keine Angst haben", sagte Theo ruhig, als wir in der Küche angekommen waren. „Die Luft ist jetzt raus."

„Sicher?"

„Sehr sicher." Er griff nach einem Prospekt von einem Pizzaservice und schob es mir hin. „Die Pasta ist hervorragend. Aber die Pizzen sind auch prima."

Die Küche hatte ebenfalls einen Zugang zur Terrasse und ich zuckte zusammen, als gegen diese Tür lauthals gehämmert wurde. Theo stöhnte leise, öffnete die Glastür aber, und Jan kam herein. „Seid ihr irre?! Pi mit den Psychos alleine zu lassen?" Er starrte seinen Vater an. Er sah ziemlich durch gefroren aus und legte sein Handy auf den Küchentresen. „Hm, Pizza? Ich nehm All inklusive mit-"

„Artischocken und Anchovis. Ich weiß."

Angewidert verzog ich das Gesicht.

„Sag nichts." Jan grinste. „Bester Pizzabelag der Welt."

„Die drei müssen in Ruhe sprechen, Jan..." Theo zuckte mit den Schultern. „Sich aussprechen. Hättest du frei mit mir gesprochen, wenn Gloria nebendran gesessen hätte?"

„Gott, nein!" Er schüttelte sich. „Vergleich dich bitte nicht mit deiner Schwester. Pi mag dich! Gloria ist eine Zumutung." Es zuckte um seine Mundwinkel. Dann griff er nach einem Apfel und biss herzhaft hinein. „Alles klar, Nicki?"

Ich zuckte mit den Schultern und sah zur Tür. Ich war nervös und wollte wissen, was die drei besprachen. Ich wollte bei ihr sein. „Geht."

Theo ging an den Kühlschrank und zog eine Flasche Radler heraus. Dann sah er mich an, doch ich schüttelte mit dem Kopf. Jan griff nach der Flasche und sein Vater holte eine zweite Flasche heraus. Erstaunlich sicher öffnete Jans Dad die Flasche am Flaschenhals und die zweite an einer herumstehenden Wasserflasche und trank einen tiefen Schluck. „Vielleicht sollten wir nach dieser Eröffnung mit Pi nicht trinken."

„Wir wussten das." Jan zuckte mit den Schultern und nippte an der Flasche. „Sie war im November in einer Entzugsklinik."

Sein Vater verschluckte sich prustend am Bier. „Was?"

Jan sah mich an und zuckte mit den Schultern. „Wie, was? Sie hat bei mir gewohnt. Meinst du echt, ich hab nicht mitbekommen, dass sie mehr säuft als ein Pferd im Sommer?"

„Wieso hast du nichts erzählt?"

„Dad." Jan sah seinen Vater ernst an. „Ganz im Ernst: wenn ich in den letzten Jahren was gelernt habe: Verschwiegenheit ist in dieser Familie Gold wert. Und ich mache PR. Je weniger Menschen davon wissen, umso besser für die Familie."

Theo hustete noch einmal und trank dann einen weiteren Schluck von seinem Radler. „Pff... ich bin beeindruckt. Wie habt ihr das... Und die Versicherung?"

„Privatklinik. Ich... hab das geregelt." Er zuckte mit den Schultern. Um es deutlich zu sagen: er hatte Pis Klinikaufenthalt gezahlt.

Theo seufzte schwer. „Man... du hättest etwas sagen müssen."

„Hätte ich nicht. Und jetzt ruf den Lieferdienst an. Ich sterbe vor Hunger."

........

Und Kuh von Eis?

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