Geständnis

Trotz des Vorfalls schleppte ich mich am nächsten Tag in die Schule. Keinesfalls durfte ich den ganzen Stoff verpassen, dafür war das letzte Jahr zu wichtig.
Ein langer Pulli verdeckte meine blauen Flecken, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Das Pflaster im Gesicht machte es umso schwieriger, nahezu unvermeidlich darauf angesprochen zu werden.

"Ti, was ist passiert?", begrüßte mich auch schon meine Clique. Na super, warum waren Menschen nur so neugierig? Am liebsten würde ich im Boden versinken.


"Ich hab mich nur geschnitten, es war ein Unfall. Keine Sorge, es geht mir gut!"
Mit verschränkten Armen spürte ich Josies skeptischen Blicke auf mir harren. Zurecht. Sie kannte mich leider zu gut.
Mit dem Kopf deutete sie mir in Richtung Toilette, wie bereits zu erwarten war.
Angespannt schloss ich die Tür hinter uns, sie wirkte nicht so, als hätte sie auch nur ein Wort davon geglaubt. Im Grunde war es doch trotzdem nur ein Unfall gewesen. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort, ebenso wie der Mann, der für die Wunden verantwortlich war.

Seufzend setzte sie dazu an, erneut eine Standpauke zu halten, ohne überhaupt zu wissen, was wirklich geschehen war:
Was ist passiert?? Wer schneidet sich denn zufällig im Gesicht? Du wolltest doch aufpassen! Sag mir, was wirklich passiert ist. Ich kenne dich zu gut, als dass ich übersehe, wann du Ausreden suchst."

„Genau genommen war es eigentlich ein Unfall...Nur er endete nicht so gut. Ich weiß es ja zu schätzen, dass du dir Gedanken machst. Aber das hatte wirklich nichts mit den vorherigen Ereignissen zu tun."

„Fein, aber was ist passiert?"

„Ich bin mit einem Mann zusammengestoßen", sie beobachtend stellte ich fest, dass sie immer noch nicht zufrieden war,  „er war betrunken und hat mich angepöbelt... etwas zu sehr. Er hatte eine kaputte Bierflasche in der Hand, mit der erwischte er mich. Mir wurde sofort geholfen, alles ist gut."

„Du Arme! Du weißt, du kannst mich jederzeit anrufen!"

„Ja ich weiß", lächelte ich dankbar und blickte in den Spiegel, um mich anschließend kurz frisch zu machen. Anschließend schob ich meine Ärmel nach oben, um mir die Hände zu waschen, nur leider vergaß ich dabei meine Flecken am Arm, die Jo natürlich sofort mit Entsetzen bemerkte.

„Tiara! Was ist das??", brachte sie gequält hervor.

„Der Typ hat mich unsanft festgehalten."

„So ein ....", sie musste sich sichtlich zusammenreißen.

„Er hat seine Strafe bekommen", zuckte ich mit den  Schultern und versuchte das Thema zu beenden.

„Was laufen hier nur für Kreaturen in der Stadt rum", kopfschüttelnd öffnete sie die Toilettentür und wir machten uns auf den Weg zum Unterricht.

Während ich so den Schulflur entlang schlich, bildete ich mir ein tausend Blicke auf mir ruhen zu spüren. Unwohl drückte ich die Bücher enger an meinen Körper und riskierte verlegene Blicke nach links und rechts. Was war plötzlich so interessant? Sonst stand ich doch auch nie so im Rampenlicht. Die Sekunden zogen sich elendig, der Weg schien länger als sonst zu sein. Lag es nur an dem doofen Pflaster? Oder hatte sich etwas an mir verändert? Strahlte ich vielleicht eine Art fremde Aura aus? Hatte Asmo etwas damit zu tun? Oder war ich bereits so paranoid, dass ich mir Dinge einbildete, die nicht real waren? Was, wenn mein Gehirn so wahnhaft spielte, dass ich in ganz gewöhnlichen Männern Asmo wiedersah? Womöglich hatte ich mir seine Stimme nur eingebildet. Womöglich hat sich mein Verstand bei dem Vorfall voller Furcht ein Bild projiziert, so dass das Gesicht des Retters für ein Bruchteil wie das von Asmodeus auszusehen schien. Desto tiefer ich grübelte und meine Gedanken erforschte wurde mir eine Sache bewusst: Was, wenn ich so verblendet von meiner Wunschvorstellung gewesen war, dass Asmodeus für mich da sein und mich retten würde, dass mir meine glasigen Augen einen Streich gespielt haben? Erst jetzt realisierte ich, wie innig sich mein Unterbewusstsein sich nach einer Begegnung mit Asmodeus gesehnt hatte, der Funken Hoffnung, er würde wirklich existieren.

Schon damals entwickelte ich infolge des Traumas Halluzinationen meiner Eltern, nach denen ich mich so sehr sehnte. Das Hier und Jetzt wurde zunehmend unscheinbarer. Und das war es, was mich so stark daran zweifeln ließ, ob das letzte Nacht real gewesen war. Es gab eben keine Beweise. Die einzige Umgebung, in der ich ihn immer wieder antraf, war meine Wohnung, abgeschottet vom realen Leben. Nachts, wo ich nicht einmal sagen konnte, dass ich nicht träumte. Mein Herz wurde zunehmend schwerer in meiner Brust. Ja es schmerzte regelrecht. Doch warum wünschte ich mir so sehr, er wäre real? Warum ließ ich mich so davon einnehmen? In Wahrheit kannte ich die Antwort bereits.

Verzweifelt schlug ich mir gegen den Kopf. Wie weit war es schon, dass ich mir selbst nicht mehr trauen konnte. Ich musste ihn vergessen. Das tat mir nicht gut. Ganz gekonnt überspielte ich den stechenden Schmerz des Verlustes.

"Warum schlägst du dir gegen den Kopf?", erschreckte mich Aiden plötzlich von der Seite, da er neben mir erschienen war und ich es nicht bemerkt hatte.

"Vielleicht kann ich so die Dummheit aus mir herausprügeln..", jammerte ich und verzog das Gesicht.

Völlig perplex zog er die Augenbrauen zusammen und hatte keinen Plan, wovon ich überhaupt sprach.

"Hast du dich geprügelt?", er deutete kichernd auf mein Gesicht, woraufhin ich auch endlich mal wieder schmunzelte und war sogar relativ froh, dass er mich nicht mit ernsten Fragen überrollte.

"Du bist heute der Erste, der's mit Humor nimmt. Danke dafür", ihm ein Lächeln schenkend ließ ich mich auf meinem Platz nieder, ich hatte die kleine Wanderung überlebt.

"Keine Ursache, du sahst aus, als könntest du ein bisschen Ablenkung vertragen", zwinkerte er, woraufhin ich ihm dankend auf die Schulter klopfte.

"Ich weiß, wir wollten ja diese Woche eigentlich was zu dritt unternehmen, leider meinte Josie, sie wär sehr im Stress und hätte keine Zeit", merkte er betrübt an. Umgehend drehte ich mich zu Jo um und warf ihr finstere Blicke zu, sie zuckte nur mit den Schultern und warf mir ein unschuldiges Lächeln hinterher. Schon klar. So würde das nie etwas werden. Wer von uns beiden war nun die Dümmere? Sie wusste doch ganz genau, dass sie ihre Gefühle nur leugnete. 

Zustimmend nickte ich und er fügte hinzu:

"Wir können gerne einen Spaziergang mit Nala machen, ein bisschen quatschen und die Natur genießen."

"Das klingt sehr schön, ich bin dabei", lächelte ich ihm entgegen.

"Übrigens, Aiden?"

"Ja?"

"Ich muss dir da nachher nochmal etwas anvertrauen. Ich hab dir ja versprochen, dass ich dir erzähle, wenn mich etwas beschäftigt", flüsterte zu ihm rüber.

"Ich werde zuhören", versicherte er mir. Schließlich konzentrierten wir uns auf den Unterricht.



Gesagt, getan. Wir liefen am See der Stadt entlang, als Aiden mich an meinen Satz von vorhin erinnerte. Ach ja richtig, ich wollte ihm die Sache mit dem Drohbrief anvertrauen.

"Ich hab vor ein paar Tagen einen Drohbrief erhalten. Er sagte, er sei der Mörder meiner Eltern und wolle seine kranken Spielchen nun mit mir zu Ende bringen."

Mit offenem Mund stoppte Aiden und starrte mich an. Verwundert, dass es nicht mehr weiterging blickte Nala zu uns zurück und legte den Kopf schief.

Da ich bereits wusste, dass er so reagieren würde und damit umgehen konnte, beruhigte ich ihn und erzählte ihm alles so, wie ich es zuvor bei Jo getan hatte. Versichernd, dass die Polizei sich bereits darum kümmerte, drückte ich ihn. Seine verständnisvolle Art war wirklich süß, dagegen konnte niemand etwas einwenden. Ich war so froh, so tolle Freunde wie die beiden zu haben.

"Ti, ich möchte dich nicht verlieren...", brachte er plötzlich über seine Lippen.

"Ich dich auch nicht!", erwiderte ich lächelnd.

"Als ich du mir das eben erzählt hast, wurde dieses Gefühl in mir immer stärker..."

"Dass du mich nicht verlieren möchtest?"

"Das sowieso, aber ich meine etwas Anderes."

"Du weißt, du kannst mir auch alles sagen?"

"Natürlich, aber ich bin mir wirklich unsicher bei der Sache."

"Was hast du bei mir schon zu verlieren? Ich würde dich niemals verraten."

Mit einer Hand zog er mich zur nächsten Bank und schaute mir tief in die Augen.

"Ich bin mir nicht sicher ob es so ist, die ganze Zeit versuche ich dem auf den Grund zu gehen. Ich denke, dass ich vielleicht dabei bin, mehr für dich zu empfinden, als nur Freundschaft. Bevor du etwas sagst, ich probiere lediglich herauszufinden, was da ist, unabhängig davon, ob es dir ähnlich geht. Wir sind jetzt schon viele Jahre befreundet und haben so etwas nie in Erwägung gezogen. Was, wenn es so ist, wir es nur nicht erkennen?"

Aufmerksam lauschte ich seinen Worten. Ich verstand, was er sagen wollte und das Geständnis kam ehrlich gesagt weniger überraschend, als erwartet, wenn es auch kein richtiges Geständnis war. Und doch breitete sich ein undefinierbares Gefühl in meinem Magen aus. Vielleicht war an den Worten wirklich etwas Wahres dran. 

"Ich verstehe dich sehr gut", sagte ich verständnisvoll, "wenn ich ganz ehrlich sein soll, bin ich mir auch nicht sicher, was da ist. Ich weiß nicht, ob da Platz für Gefühle sind, oder eben nicht. Ich denke, das kann nur die Zeit entscheiden. Eines musst du mir versprechen Aiden: Egal was passiert, dich zu verletzen ist das Letzte, was ich möchte. Egal wie es kommt, lass uns bitte immer Freunde bleiben."

Schüchtern lächelnd nickte er und antwortete:

"Ich verspreche es! Wir müssen sehen, wie es sich entwickelt."

Nichtdestotrotz schwirrten zwei weitere Gedanken in meinem Kopf herum. Ich konnte das Josie nicht antun. Es würde sie sehr verletzten, auch wenn es nicht beabsichtigt war und niemand etwas dafür konnte. Der andere Gedanke war Asmo. Warum zum Teufel musste ich plötzlich an ihn denken? Wie ironisch "zum Teufel". Mein Hirn verwunderte mich immer wieder aufs Neue. Konnte der Gedanke jetzt bitte einfach verschwinden? Das hatte den ganzen Nachmittag so gut funktioniert und jetzt wird mir ein Strich durch die Rechnung gemacht. Irgendwie arbeitete mein Verstand gegen mich. Ich seufzte und erinnerte mich an seine Worte "Ich mag dich" und "Das erzähle ich dir ein anderes Mal". Klang das nicht nach einem Versprechen?













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