5. Kapitel
Es war bereits dunkel, als Yuta die Stufen aus dem Trainingskeller hochstieg. Er war erschöpft, jedoch nicht zu erschöpft, dass er nicht später noch einen Auftrag ausführen könnte.
Yuta spürte jedoch eindeutig die Müdigkeit in seinen Knochen, weswegen er nur langsam einen Schritt vor den anderen setzte. Er hatte schließlich alle Zeit der Welt. Der Weg vor Yuta wurde von Straßenlaternen in orangenem Licht angeleuchtet.
Er schwang sein Bein über das Motorrad und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Er würde heute sehr wahrscheinlich noch einen Auftrag bekommen. Dass er nur einen am Tag hatte, passierte eher selten. Die normalen Menschen glaubten immer, dass es gar nicht so viel Aktivität auf dem Schwarzmarkt gäbe und auch, dass nur selten Morde passierten. Doch jeder, der nur ein bisschen Durchblick hatte wusste, dass das nicht stimmt. Vor allem in Großstädten gab es so viel zu tun. Nur Morde gehörten tatsächlich zu den selteneren Aufgaben. Vielleicht jede zweite Woche mal einer, mehr nicht. Nicht über jeden Mord wurde in den Medien berichtet, weswegen man als Außenstehender nicht mitbekam, wie viele es eigentlich waren. Yuta dachte immer, dass die Machthabenden nicht wollten, dass die Bevölkerung in Panik ausbrach. Auch deswegen wurde nicht öffentlich, sondern nur innerhalb der Polizei nach ihm gefahndet, so vermutete er jedenfalls. Naja, er würde jetzt erstmal nach Hause fahren und dann den Rest der Nacht auf sich zukommen lassen.
Yuta fuhr durch die Dunkelheit. Das Zentrum der Stadt hatte er schon lange hinter sich gelassen. Um ihn herum standen nur noch vereinzelt Häuser und diese schienen bereits sehr heruntergekommen. Alle paar hundert Meter stand eine Straßenlaterne, die ihm jedoch nur wie ein kleiner Lichtfleck vorkam, der an ihm vorbeizog. Er beschleunigte, legte sich in die Kurven, fühlte den Wind, der an ihm vorbei sauste. Sein Motorrad war in dem Wind sehr leise, es summte und brummte unter ihm, man könnte es jedoch fast ein paar Meter neben ihm schon nicht mehr hören. Gleich würde er einen kleinen Wald passieren und dann wäre er auch schon fast zu Hause. Er sah die ersten Bäume, die sich um ihn herum aufbauten. Bald schon war er zu Hause.
Plötzlich spürte Yuta, wie er über irgendetwas fuhr. Sein Lenker wurde herumgerissen. Er verlor das Gleichgewicht. Versuchte noch dagegenzuhalten. Doch er hatte schon die Kontrolle über das Motorrad verloren. Er spürte, wie er aus der Kurve gerissen wurde. Er schlug mit der Schulter hart auf den Boden. Ohne die Möglichkeit zu haben auch nur einen Gedanken zu fassen oder irgendwie reagieren zu können, musste sein Körper die Gesamte Kraft des Aufpralls abfangen. Er rollte über den Boden und ein schmerzerfüllter Schrei verließ seine Kehle Er versuchte, seinen Kopf einzuziehen und seinen Oberkörper mit seinen Armen zu schützen, doch er konnte sich nicht bewegen. Ein unerträglicher Schmerz machte sich in ihm breit und er fühlte, wie er zum Stillstand kam. Als er die Augen wieder öffnete, blicke er auf Baumwipfel, die hoch über hm in die Nacht ragten.
Hilfe, dachte er und wusste, dass niemand diese stille Bitte erhören würde. Er musste sich selbst helfen. Erstmal musste er sich aufrichten. Er spannte erstmal jeden Muskel in seinem Körper einzeln an, um zu schauen, wie groß der Schaden war.
Sein rechtes Bein war verletzt, vielleicht ein Bruch, wenn er Glück hatte nur eine Prellung. Seine Arme schienen unverletzt, wenn man von den oberflächlichen Wunden absah. Viel mehr Sorgen bereiteten ihm seine Rippen. Die rechte Hälfte seines Rippengerüstes schmerzte sehr, ein oder zwei davon waren zumindest angebrochen. Das Atmen schmerzte. Er vermutete, dass er innere Blutungen hatte, die dringend behandelt werden mussten.
Er kniff die Augen zusammen, um die Tränen wegzudrücken, die ihm nur die Sicht versperren würden. Er musste klar denken. Er brauchte Hilfe und zwar schnell. Seine Finger fuhren hektisch zu seiner Hosentasche und er fühlte nach seinem Handy, doch fand es nicht. Er hatte es sich in die Hosentasche gesteckt, da war er sich ganz sicher. Unruhig suchte er auch in seinen Jackentaschen und versuchte sich dabei so wenig wie möglich zu bewegen. Auch da war es nicht. Panik begann sich in ihm breit zu machen, aber er musste einen kühlen Kopf bewahren.
Er begann, seine Umgebung genauer zu mustern. Er lag auf einem nassen Waldboden. Das Licht des Mondes drang durch die Baumwipfel nicht zu ihm hindurch, doch anhand der Geräusche konnte er schließen, dass die Bäume sehr eng standen. Doch das half ihm wenig, da er zwar ungefähr wusste, wo sein Motorrad lag, aber es blind nicht finden würde. Und er konnte nicht mit seine Verletzungen durch die Dunkelheit irren und es suchen. Wenn es überhaupt noch fahrtüchtig war.
Sein Kopf wurde langsam aber sicher immer vernebelter, es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren und nicht dieser Dunkelheit nachzugeben, die begann ihn immer mehr und mehr einzunehmen. Ein Teil ihn ihm sehnte sich danach, diesem verlockenden Gefühl nachzugeben.
Stopp, sagte er sich selbst. Du musst nur zur Straße gelangen. Die kann nicht weit weg sein. Das Motorrad war nicht mit ihm gestürzt, weswegen es noch bei der Straße sein musste. Er gab sich selbst noch fünf Minuten, dann würde er in Ohnmacht fallen. Bis dahin konnte er es schaffen, sein Motorrad zu finden. Dort war ein Alarmsystem eingebaut. Er müsste nur einen Knopf drücken und schon würde sich Hilfe auf den Weg machen.
Okay, dachte er. Das war auch in seinem Zustand machbar.
Jeglicher Gedanke, warum dies alles überhaupt passiert war, hatte keinen Platz in seinem Kopf und es war auch nicht wichtig. Sein Überlebensinstinkt, der mit jahrelangem Training zu einer unfehlbaren Maschine perfektioniert worden war, hatte Kontrolle über seinen Körper erlangt.
Und jetzt würde er aufstehen.
Genau in dem Moment, in dem er sich über die Seite ins Sitzen aufrollen wollte, ertönte plötzlich eine leise Stimme zwischen den Bäumen. Es war eher ein Flüstern, doch Yuta hörte es trotzdem klar und deutlich. Auf seinem gesamten Körper breitete sich eine Gänsehaut aus. Er kannte diese Stimme. Sie hatte sich in sein Gehirn gebrannt und ihn gezeichnet. Doch er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie kam immer näher. Yuta versuchte in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen, doch konnte es nicht. Und dann begannen sich endlich Wörter in seinem Kopf zu bilden.
„Yuta.“, flüsterte er. Immer und immer wieder sagte er seinen Namen und kam ihm immer näher. „Yuta. Yuta.“
Yuta wollte weg. Sein Plan von eben verwarf er. Er wollte einfach nur fort von diesem Mann, der mit leisen Schritten auf ihn zutrat. Alles, was er zu vergessen versucht hatte, kam zurück in seinen Kopf geschossen. Bilder von jenem Abend.
„Yuta.“ Jetzt musste er direkt vor ihm stehen, auf ihn herabblicken. Er konnte ihn sehen, dessen war er sicher. Seine blutenden Wunden, sein verdrehtes Bein, sein schmerzverzerrtes Gesicht und die Furcht in seinen Augen. Yuta war vollkommen hilflos, er konnte nichts machen. Er war dem jungen Mann vollkommen ausgeliefert.
„Du solltest dich nicht zu viel bewegen.“, sagte der Mann und Yuta konnte das Lächeln auf seinen Lippen fast schon sehen. Doch er klang nicht verspottend oder schadenfroh, eher besorgt. Und damit war jeder Wunsch und Gedanke, vor dem jungen Mann wegzurennen, verschwunden. Die Angst, die ihn vorher noch eigenommen hatte, wurde durch ein Gefühl der Ruhe ersetzt. Er wollte hier bleiben. Er wollte bei ihm sein. Seine Verletzungen hörten auf zu schmerzen. Stattdessen machte sich ein Gefühl der Wärme in ihm breit.
„Ich setzte mich hier neben dich, okay?“, sagte der junge Mann und Yuta hörte, wie etwas Laub neben ihm sich bewegte. Eine leise Stimme in ihm flüsterte, dass der junge Mann eben beim Laufen keine Geräusche gemacht hatte, doch diese war so leise, dass Yuta sie sofort verdrängte.
„Du hast dich ja echt schlimm verletzt.“ Yuta fühlte einen Hauch über seinem Brustkorb, der eine Berührung sein könnte. „Ich würde dir echt gerne helfen.“, sagte der junge Mann mit leiser Stimme, „Aber dafür müsstest du auch etwas für mich tun.“
Doch, es war eindeutig eine Hand, die jetzt ganz sanft über die Wunden auf seinem Arm fuhr. Es sollte weh tun, doch das tat es nicht. Stattdessen kribbelten diese Stellen angenehm. „Ich werde dir helfen, aber dafür musst du mir einen Teil deiner Vergangenheit zeigen. Ich will mehr über dich wissen.“ Yuta hinterfragte diesen Wunsch nicht, nahm ihn als selbstverständlich an und würde sich ihm auch nicht verweigern.
„O-okay.“, hauchte er. Eine Hand legte sich auf seine Stirn und plötzlich zerriss seine Sicht.
Flashback
Yuta ist kalt und er hat Angst. Er umschlingt seinen Körper mit seinen Armen. Das Licht des Mondes fällt auf seinen ausgemergelten kleinen Körper und die Lumpen, die daran herunterhängen. Er hat Hunger, solchen Hunger. Sein Magen schmerzt und es fällt ihm schwer, gerade zu stehen. Er schwankt kaum merklich hin und her, doch er fühlt sich, als würde er gleich umkippen. Tränen rollen über seine Wangen, als er auf das tote Tier vor sich blickt. Er will es nicht, doch er muss, richtig? Wie soll er sonst überleben?
Die Menschen geben ihm kein Geld mehr, das er doch so braucht. Sie sagen, dass er sie nervt. Aber er kann nicht anders, er braucht ihr Geld doch. Sie verstehen ihn nicht. Er braucht Essen. Das brauchen sie doch eigentlich auch, oder? Oder vergisst man sowas, wenn man Geld hat? Und wenn sie ihm nichts geben, kann er sich doch auch nichts kaufen.
Und jetzt steht er hier und blickt auf die tote Katze, die vor ihm liegt. Er hatte sie nicht töten wollen. Hat es aber trotzdem getan. Wie sollte er sonst überleben?
Die Tränen flossen endlos.
Die Katze war schon verletzt gewesen, als er sie erspäht hatte. Er hätte sich auch etwas anderes gesucht, aber der Hunger hatte ihn dazu getrieben, es zu tun. Er hatte nach ihrem Hals gegriffen und zugedrückt. Unter seinen Fingern hatte es geknackt. Es war fast zu einfach gewesen.
Er schluchzt laut auf und vergräbt den Kopf zwischen seinen Armen.
„Hast du diese Katze getötet?“, fragt plötzlich eine Stimme hinter ihm und Yuta dreht sich ruckartig um. Hinter ihm steht ein erwachsener Mann, der auf ihn herunterblickt. Yuta kann sein Gesicht nicht sehen, doch er hört sowas wie Schmerz in seinem Ton mitschwingen. Er ist der erste Mensch seit Wochen, der ihn anspricht. Anstatt zu antworten schluchzt Yuta nur wieder auf und versteckt sein Gesicht.
„Ich kann dir helfen.“, sagt der Mann und beugt sich zu Yuta, legt ihm eine Hand auf den Rücken. „Es wird schwer, es wird anstrengend. Aber du wirst nie wieder Hunger haben.“ Yuta schaut den Mann an. Er sieht nun sein Gesicht. Er sieht nett aus, mit dem Bart und den vielen Lachfalten. Seine Augen sehen so freundlich und offenherzig, dass Yuta denkt, jeden Gedanken des Mannes lesen zu können. Er wirkt echt nett.
Yuta weiß, dass er nichts zu verlieren hat. Und auch, dass er keine Wahl hat. Trotz seines jungen Alters hat er schon mehr Lebenserfahrung, als die meiste erwachsenen.
Denn er weiß, was es heißt, wirklich zu leben. Leben bedeutet nicht Freude, Spaß oder Liebe.
Leben bedeutet, jeden Tag aufs Neue mit allen Lasten dieser Welt kämpfen zu müssen. Jeden Tag aufs Neue, Essen und Unterschlupf finden zu müssen. Leben bedeutet Schmerz. Er kennt diese rauen Naturgesetzt, jeden Tag wird er mit ihnen konfrontiert. Und jeden Tag hat er bestritten, wenn auch zu einem hohen Preis.
Und er würde alles dafür tun, diesen Kampf nicht mehr kämpfen zu müssen. Oder zumindest nicht mehr alleine.
Yuta mustert den Mann noch einige Momente und nickt dann.
„Okay.“
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top