Dolch Duell Delirium
꧁꧂
Er erzählte Adriel nicht gleich davon. Teilweise, weil der Nachtfuchs tatsächlich an Land gegangen war und dort auch die gesamte Nacht verweilte. Teilweise, weil Sir Ranwic den Eindruck hatte, dass er sich nach Kaliahs Erwähnung auf dünnem Eis befand.
Aber sie war das Erste, wonach er sich bei seiner Rückkehr erkundigte.
„Ich glaube, sie wird nicht gerne eingesperrt." Sir Ranwic lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, bis das Holz ächzte und er sich hastig wieder aufrichtete.
Adriel beobachtete ihn aus zusammengeschobenen Augenbrauen, an die Tischkante angelehnt, die Arme vor seinem Oberkörper verschränkt.
„Wer wird gerne eingesperrt?"
Sein Onkel wog den Kopf von links nach rechts, einige lang zurückgelegene Abenteuer mit seiner Frau in Erinnerung durchlebend, ehe er erwiderte: „Für sie ist es schlimmer. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas macht ihr Angst."
„Vielleicht hätte sie daran denken sollen, bevor sie einen Massenmörder in mein Land bringt", gab Adriel trocken zurück, „Ich will sie sehen." Und damit stieß er sich von der Tischkante ab und lief los in Richtung der Kajütentür.
„Ohhh...", hastig katapultierte sich sein Onkel aus seinem Stuhl und brachte sich zwischen seinen Neffen und den Ausgang. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist." Händeringend suchte er nach der besten Wortwahl. „Das Mädchen ist sensibel... und du bist manchmal... etwas..."
Adriels Augenbrauen fielen zu einer geraden Linie herab. „Sie hat sich selbst bewusstlos geschlagen."
„Wegen dir."
„Aber sie ist sensibel und ich nicht?"
„Das habe ich nicht gemeint. Nur im Moment..." Sir Ranwic wurde von Adriels flacher Hand unterbrochen, die ihn einfach zur Seite schob wie einen Vorhang.
„Ich erwarte über Nacht keine Wunder von dir. Aber ich habe keine Zeit zu verlieren. Entweder sie kann mit meiner Anwesenheit leben oder sie ist in Cerriv besser aufgehoben." Und damit war Adriel aus dem Zimmer.
Sie saß genau an derselben Stelle. Die Beine ausgestreckt, die Hände im Schoß gefaltet und der Blick leer, als wäre sie allein in unendlicher Dunkelheit. Sie bemerkte nicht gleich, dass sich die Luke über ihr öffnete und für einen kurzen Moment ertappte Sir Ranwic sie dabei, wie Ana lautlose Worte zu sich selbst murmelte.
Dann ruckte ihr Kopf in seine Richtung. Die große Gestalt seines Neffen hinter ihm warf seinen Schatten in das kleine Zimmer und ihr Hals arbeitete schwer daran, ihre Angst herunterzuschlucken. Er hatte Menschen direkt vor ihrer Nase umgebracht. Teileweise unbewaffnet. Menschen, die versucht hatten, ihr zu helfen. Menschen, die ebenfalls nach ihrem Leben trachteten. Sir Ranwic fand, dass es eigentlich sehr lobenswert war, dass sie nicht schreiend versuchte, aus dem Bullauge zu klettern.
Adriel war ähnlich angespannt. Man musste ihn gut kennen, um zu bemerken, wie er sich ein bisschen aufrechter hielt als sonst, die Hände ein wenig nutzloser an seiner Seite. Er blieb auf Abstand, lehnte sich links von der Stiege gegen die Wand, obwohl er dafür den Kopf einziehen musste, und verschränkte die Arme.
Sir Ranwic ließ sich wie bei seinen letzten Besuchen ihr gegenüber auf den Boden sinken. Sie hatte ihr Brot nicht aufgegessen und der Käse lag vollkommen unberührt zwischen ihnen. Die dunklen Kreise unter ihren Augen waren kaum verblasst. Beides tat ihm mehr weh, als er zugeben wollte, doch er versuchte es trotzdem mit einem Lächeln.
„Wir haben ein paar Fragen, Ana."
Sie sah von ihm zu Adriel und dann wieder zurück. Stumm. Angespannt.
Ranwic war sich Adriels Beobachtung in seinem Rücken nur zu sehr bewusst. Wusste, dass er sie nicht nur aus Eigennutz und Praktikabilität in Cerriv unterbringen wollte. Das Mädchen war ein Gespenst ihrer selbst und auch wenn Adriel es nicht zugab, wollte er ihr einiges ersparen.
Leider hatte das bereits mit Kaliah nicht funktioniert und Sir Ranwic wollte wirklich keine Wiederholung dieser Geschichte. Also tat er einen tiefen Atemzug und versuchte das Mädchen vor ihm allein durch seine innerlichen Gebete zur Kooperation zu bewegen.
„Fangen wir doch mit deinem Alter an..."
Sie blinzelte. Offensichtlich war das nicht die Art Frage gewesen, mit der sie gerechnet hatte.
„Siebzehn", sagte sie schließlich.
Neben ihm spannte Adriel sich an. "Sie ist noch ein Kind....", hatte er zu seinem Onkel gesagt.
Ein Kind, das beschlossen hatte, einem Massenmörder in eine andere Welt zu helfen. Jugendliche waren leicht zu beeindrucken. Wer wusste schon, was er ihr versprochen hatte.
„Siebzehn", wiederholte Ranwic sanft, die Aufmerksamkeit des Mädchens wieder zu sich zurückholend. Von außen sah niemand, mit wie viel er kämpfen musste bei dieser Antwort. Siebzehn war zwei Jahre jünger als seine Tochter. Er drängte den Gedanken zurück. „Ich vermute, du hast Familie in deiner Welt gehabt?"
Etwas veränderte sich an ihrer Haltung. Es war subtil. Als wache sie schrittweise aus einer Trance auf. Reckte ihre Muskeln gegen die hölzerne Wand in ihrem Rücken.
„Ich habe eine kleine Schwester", sagte sie schließlich, doch das Misstrauen sprach mit ihr. Ein Arm löste sich aus dem Klammergriff um ihren Körper und mit der Fingerspitze zeichnete sie kleine Kreise auf den Boden. In die Mitte legte sie eine grobe Figur eines Otters.
„Cassy."
Es war nur ein einziges Wort. Ein fremdartiger Name für ihre Welt. Doch Ana schaffte es, dass ihm Erinnerungen folgten. Mit nur einem Wort öffnete sie eine kleine Tür zu sich selbst und für einen Lidschlag glaubte Sir Ranwic das Bild eines kleinen Mädchens zwischen ihnen schweben zu sehen. Dunkle Haare. Lachend. Lebendig.
Er drehte sich zu Adriel, Bestätigung seiner Beobachtung suchend, doch als er sich wieder umdrehte, war das Bild verschwunden. Stattdessen stand Adriel hinter ihm auf, wie ein General von einem Schlachtplan. Er sah sie lange an, ehe er schließlich sagte: „Ein schweres Opfer, nur um einen Königsmörder zurück in diese Welt zu bringen."
Sie stoppte in ihren Kreisen. Starrte für einen kurzen Moment auf die Planken hinunter und nahm dann den Otter wieder zu sich.
„Bisher habe ich ihn noch keinen einzigen Menschen umbringen sehen", ihre Stimme war leer, als spräche sie von weit weg und traf trotzdem ihr Ziel.
Sofort hob Sir Ranwic beide Hände. Da war also der Biss, von dem Adriel ihm berichtet hatte.
Adriels Muskeln schnappten in Kampfbereitschaft.
„Ich kann es dir seine Arbeit in groteskem Detail beschreiben, wenn dir das beim Einschlafen hilft. Ich habe die Leiche meines Vaters gesehen und kann mich noch sehr gut erinnern."
Die Art wie sie ihren Blick zu ihm hob, ihre blauen Augen plötzlich lebendig, ließ Sir Ranwic schlucken und Adriel unbewusst größer stehen.
„Wie gut erinnerst du dich an die Frau, die du direkt vor meiner Nase ermordet hast?"
„Kinder-...", setzte Sir Ranwic an, eine hitzige Antwort von seinem Neffen erwartend. Sie hatte eine scharfe Zunge und genug Verstand, um sie wie eine Rasierklinge zu nutzen. Jedes Wort hatte in seinem Neffen einen Treffer gelandet.
Doch dieser drehte sich lediglich zum Gehen. Erst als er einen Fuß auf die unterste Stufe der Stiege gesetzt hatte, hielt er inne.
„Gib dem Weltenwandler ein bisschen Zeit. Er wird dich nicht enttäuschen."
Er hatte ihr den Rücken zugedreht und sah nicht, wie sie ungelenk versuchte, aufzustehen. Müdigkeit und mangelnde Ernährung ein erbitterter Gegner in ihrem Unterfangen. Sie wollte ihm etwas hinterherrufen. Etwas richtigstellen, doch die Klappe fiel hinter Adriel zu, bevor sie sich endlich aufgerichtet hatte.
„De- Denkt er, ich bin ein Serienkiller?"
Die Vorstellung schockierte sie derartig, dass sie mehrere Anläufe brauchte, um den Satz herauszubringen. Sir Ranwic hatte keinerlei Vorstellung, was ein Serienkiller war, aber ihr entsetztes Gesicht gab ihm genug Hinweise, dass er schnell den Kopf schüttelte.
Er fand seinen Neffen kurz darauf in seiner eigenen Kabine, Schnee noch auf den Haaren als Zeichen, dass er länger draußen gewesen war.
„Wir bringen sie nach Cerriv", sagte er, noch bevor die Tür sich hinter Sir Ranwic geschlossen hatte.
Er hatte sich wieder über die Karten gebeugt. Ein Zeichen, dass er seine Sucherfähigkeit dazu nutzte, Mika'ils Aufenthaltsort zu lokalisieren. Rastlos huschten seine Finger über Linien und Schriftzüge aus verblassender Tinte.
Sir Ranwic ließ sich mit einem tiefen Seufzen in den freien Stuhl sinken und griff eine Karaffe mit verdächtig starkriechender brauner Flüssigkeit. Serienkiller war ein merkwürdiges Wort.
„Ich finde, das war ein Erfolg."
Adriel sah nicht zu ihm auf, eindeutig anderer Meinung.
„Sie ist nur ein Kind. Ein ahnungsloses, verzogenes Kind."
Das leise Gluckern des Rums, der in einem Glas endete, erfüllte den Raum. Er hatte gedacht, dass sie noch jünger war. 17 war kein Kind mehr. 17 bedeutete Jugendliche. Und die waren noch gefährlicher war Jahrhundertealte Weltenwandler.
„Ich glaube, mit ein bisschen Training könnte sie sogar nützlich sein."
Dieses Mal drehte Adriel sich doch zu ihm um und beobachtete ihn, wie er einen tiefen Schluck nahm. „Du denkst an Politik." Abneigung, so stark, dass selbst er sie nicht hinter seiner Fassade halten konnte, ließ ihn die Nase krausziehen und er drehte sich wieder der Karte zu, „Das hat sie nicht verdient."
Wohltuendes Brennen erfüllte Sir Ranwic und brachte wieder Leben in seine steifen Gliedmaßen. Das Meer schenkte ihnen einen milden Winter, aber das Schiff hielt die Wärme nicht so gut, wie ein nettes Haus in der Hauptstadt es getan hätte.
„Sie hat ein Messer geworfen, um dein Leben zu retten."
„Um ihr Leben zu retten."
Sir Ranwic machte eine wegwerfende Bewegung.
„Beginne damit. Sie wird deutlich sicherer sein, wenn sie sich selbst verteidigen kann."
Adriel, unfähig sich weiter auf seine Arbeit zu konzentrieren, hob widerwillig den Kopf.
„Ich werde sie ganz bestimmt nicht bewaffnen." Szenarien was sie mit ihm und einem Messer anstellen könnte, wanderten durch sein Gesicht und ließen ihn noch schockierter zurück als zuvor.
Sein Onkel hob eine Augenbraue und schenkte sich ein zweites Glas ein.
„Du bist seit deiner Kindheit im Zweikampf ausgebildet. Sie hat Schlafstörungen und ist vollkommen verschreckt. Was soll sie schon machen? Dir einen Finger abschneiden?" Aber er war sich nicht ganz so sicher, wie er sich vielleicht ausdrückte.
Kurz darauf hörte Ana die bereits vertrauten Schritte oberhalb ihrer Kabine. Adriel kam herunter, sein Gesicht immer noch so missmutig, wie in dem Moment, da er sie verlassen hatte.
„Steh auf." Er zog einen Dolch aus dem Gürtel und als er Anas hektische Bewegung bemerkte, stoppte er noch auf dem Niedergang. „Ich werde dich damit nicht verletzen, auch wenn ich keine Versprechen für Selbstverstümmelung mache." Wie zum Beweis hielt er seine Hände flach nach oben, Dolch noch in der Rechten.
Er wartete, bis Ana sich ein klein wenig entspannte, ehe er die letzten Stufen herunterkam.
Ana musterte ihn kritisch. Wenn er einen Weg gefunden hatte, sie zu verletzen, ohne selbst verletzt zu werden, wollte sie es lieber nicht so herausfinden. Fremder Ärger mischte sich unter ihre eigene Angst und gab ihr eine neue Färbung. Ließ sie sprechen, obwohl sie lieber still geblieben wäre.
„Du willst mir beibringen, ein Messer zu werfen?"
Der Nachtfuchs musterte sie, als wisse er ganz genau, was in ihrem Kopf vorging.
„Erst einmal bring ich dir bei, wie du zustichst."
Noch mehr Ärger. Und Widerwillen. Ana stand auf und verschränkte die Arme vor ihrem Oberkörper.
„An dir?"
Adriel schnaubte und fuhr mit der flachen Hand über die Klinge, um Ana zu zeigen, dass sie stumpf war. „Das würde dir gefallen."
Wieder wallte der Ärger auf, verbunden mit einer starken Form der Abneigung.
„Mehr, wenn es mich nicht selbst verletzen würde."
Adriels Blick schoss zu ihrem Gesicht und für einen kurzen Wimpernschlag konnte sie klar und deutlich darin lesen, dass er seine Entscheidung gerade gründlich überdachte. Fast hätte sie erwartet, dass er umdrehen und einfach wieder gehen würde, so lange sagte er nichts. Doch schließlich tat er nur einen sehr tiefen Atemzug.
„Wenn ich dich trainieren soll, muss ich dich berühren können. Ist das in Ordnung für dich?" Seine leuchtenden Augen waren unangenehm auf Anas Haut. Als suche er etwas in ihrem Gesicht, was sie ihm nicht geben wollte. Eine Wahrheit, die sie schon viel länger versteckt hielt.
Erinnerungen kratzten an dem dunklen Gefängnis, das Ana ihnen geschafften hatte. Alkohol und Schweiß. Klebrige Finger unter ihrem T-Shirt. Sie knirschte mit den Zähnen, im Versuch, ihren Puls ruhig zu halten. Er würde es sofort wissen, dass etwas nicht stimmte. Und sie konnte sich nicht erlauben, dass er sie auch noch für verrückt hielt.
Das Nicken war anstrengend, als wehre sich ihr ganzer Körper gegen die Idee. Bilder platzten vor ihrem inneren Auge auf. Das Kinderzimmer. Die Gesichter der drei Kerle. Wie konnte es sein, dass sie sich noch an jedes Detail von ihnen erinnerte, nach allem, was danach geschehen war?
Adriel trat sehr langsam näher. Er war zu groß für ihre kleine Kabine. Musste stets den Kopf ein wenig einziehen. Direkt neben ihr nahm er beinahe ihr gesamtes Sichtfeld ein. Nur mit den Fingerspitzen schob er sie in einen gefestigteren Stand.
„Kraft kommt aus deinem ganzen Körper heraus, nicht nur aus deinem Arm", seine Stimme fiel zu einem ruhigen Murmeln herab, das sich über Anas schnellerwerdenden Puls legte, „Balance, Körperkontrolle und Konzentration."
Ana schluckte trocken. Kämpfte gegen die Panik an, die ihre langen Klauen über ihre Schulter legte und sie langsam in den Boden drückte. Er würde ihr nicht weh tun. Er würde ihr nicht wehtun.
Wieder korrigierte Adriel ihren Stand, dann trat er ein Stück zurück und reichte ihr das Messer. „Versuch, zuzustechen."
Ana starrte die Klinge an, der Griff noch warm, wo er ihn gehalten hatte. Ein Atemzug. Dann noch einer. Hatte er selbst auch einen Dolch? Sie sah keinen an ihm. Aber wer gab seiner Gefangenen die einzige Waffe? Ana runzelte die Stirn, aber tat wie geheißen.
Innerlich stellte sie sich vor, dass sie die Klinge mit Wucht nach all den Kerlen schob, die ihr unangenehm geworden waren. Jeder, der dachte, dass es okay wäre, sie einfach anzufassen. Hände grabschend, tastend...
„Ufff..." Sie spürte seine Hände, bevor sie sah, was sie getan hatte. Es war nur eine kurze Berührung. Notwendig. Keinesfalls grabschend. Mit einer gezielten Bewegung schob er den ausgestreckten Dolch von sich fort und leitete die Kraft zur Seite ab.
Ana stand wie erstarrt. Oh shit. Oh shit. Sie hätte ihn beinahe erstochen. Ihre Finger ließen den Griff los und der Dolch traf klappernd den Holzboden.
Adriel starrte sie noch für einige Sekunden länger an, ehe er sich schließlich nach dem Dolch bückte und ihn ihr wieder in die Hand drückte.
„Langsamer. Präzision vor Tempo. Und im Idealfall Präzision nicht in meine Richtung."
꧁꧂
Mika'il wusste sofort, dass ihn jemand verfolgte, selbst wenn es zwei Tage dauerte, bis er den ersten Blick auf sie erhaschte. Er hatte damit gerechnet, irgendwann verfolgt zu werden, aber nicht wirklich damit, dass es die kleine Schwarzhaarige von der Trägergilde sein würde.
An Tag drei erinnerte er sich sogar wieder an ihren Namen. Und an dem Tag beschloss er, dass er sie genauso gut auch stellen könnte.
„Willst du zu mir oder genießt du nur die Aussicht auf meinen Rücken?" Er saß vor einem kleinen Lagerfeuer, das nicht wirklich brennen wollte.
Um sie herum standen alte Bäume, von denen er sich ziemlich sicher war, dass sie es ihm übel nahem, dass er hier drinnen Holz verbrannte. Die goldenen Adern hatten zumindest einen warnenden orangeton angenommen und vier Mal war ihm bereits eine vereiste Nuss auf den Kopf gefallen.
„Nicht wirklich viel Rücken. Nicht wirklich viel Aussicht", erwiderte Kaïa hinter ihm.
Über die Schulter warf er der jungen Frau einen langen, musternden Blick zu. So wie sie zwischen den Bäumen stand, konnte er ihre Gestalt beinahe nur erahnen. Erst als sie einen Schritt auf die Lichtung machte, trennte sich ihr schwarzer Mantel von den Schatten. Und dann war da diese Maske. Was verbarg sie dahinter? Ein großes dunkles Loch, wo eigentlich ein Mund sein sollte?
Sie war ihm suspekt, in ihrer Bewegungslosigkeit. Und das sollte etwas heißen. Schon mal pferde-große nackte Eichhörnchen gesehen, die statt Nüssen eine Vorliebe für Fleisch entwickelt hatten? Nein? War vermutlich auch besser so. Die verfolgten Mika'ils Träume noch sieben Welten später.
Kaïa hatte ähnliches Potential. Nicht, dass er erwartete, dass sie sich ein Kobel aus Kinderknochen bauen wollte. Aber sie wollte etwas. Mika'il drehte sich wieder um.
„Die letzten Gerüchte, die ich gehört habe, erzählten, dass du mit meiner Trägerin auf der Flucht seist. Du hast sie nicht zufällig mitgebracht?"
„Nein, aber wegen ihr bin ich hier."
Wirklich? Er hob die Augenbrauen und wandte sich ihr nun voll zu, seine gesamte Aufmerksamkeit geweckt.
„Du hast sie verloren, hab ich recht?"
Sie sagte nichts. Starrte ihn einfach nur an aus ihren leuchtenden Augen, die nicht wirklich eine Farbe hatten. Es war Antwort genug. Irgendjemand hatte sie eingeholt.
Mika'il fluchte innerlich, aber behielt sein Grinsen. Ana war nicht das erste Mal gereist, also wusste sie etwas. Kaïa brauchte seine Hilfe, um an Ana heranzukommen. Die Frage war nur: Warum er?
„Was sagt Khan dazu?"
Da sie keine Anstalten machte, sich zu ihm ans Lagerfeuer zu setzen, stand er auf. Kaïa verschränkte nur die Arme vor dem Oberkörper.
„Das interessiert dich nicht."
Mika'il schnitt ihr eine Grimasse.
„Ah, du bist also auch ein Orakel?" Es interessierte ihn wirklich nicht. Aber wenn sie ihm nicht antworten wollte, bedeutete das, dass sie etwas verbarg. Und das interessierte ihn brennend. Er kreuzte die Arme hinter seinem Rücken und ging langsam um sie herum. Jedes Detail in seinem Kopf katalogisierend.
„Du warst also schon bei ihr", riet Kaïa richtig, seiner Bewegung mit dem Kopf folgend, wie es eine Raubkatze getan hätte. Er machte sie nicht nervös. Er reizte sie. „Irgendwelche interessanten Erkenntnisse gefunden?"
„Hm", Mika'il tippte sich ans Kinn, als müsse er erst darüber nachdenken, „Nur Gerede über einen Dämonenstein, den ich finden soll, das Chaos, das ich hinterlassen haben und dass meine Trägerin vielleicht mehr darüber weiß."
Kaïas Kopf schnappte zu ihm herum.
„Ana? Wieso Ana?"
„Wenn du sie mitgebracht hättest, könnten wir sie jetzt fragen, nicht wahr?", gab Mika'il glatt zurück, das Grinsen noch ein bisschen breiter.
„Dann wirst du mir helfen, sie wiederzubekommen?"
Sie musste den Kopf leicht in den Nacken legen. Atem sammelte sich in kleinen weißen Wolken um ihre Maske herum.
Mika'il zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihm immer noch nicht gesagt, warum sie ausgerechnet zu ihm gekommen war.
„Sehe ich aus wie ein Kindermädchen?"
Kaïa warf ihm einen schneidenden Blick zu.
„Du siehst auch nicht aus wie jemand, der einst eine Rebellion geführt hat und für sie einen Usurpator umgebracht hat, wenn ich ehrlich bin. Aber ich denke für meine Pläne solltest du reichen."
Oh, wie nett. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass die schwarzgekleidete Frau sehr genau wusste, wie herrschaftliche Attentäter aussahen. Nun, Mika'il war der Beweis, dass es sie in allen Farben und Größen gab. Das hieß nur nicht, dass er ihr auch helfen würde. „Hat Khan dir nicht gesagt, dass ich kein Teamplayer bin?"
Eine Pause verstrich zwischen ihnen, in denen sich ihre Brauen zusammenschoben. Sie fragte nicht nach, aber Mika'il bemerkte seinen Fehler trotzdem. „Ich arbeite nicht gerne mit anderen, es weckt in mir den Wunsch nach Mord", erklärte er und zeigte ihr in einem Grinsen alle Zähne.
Kaïa sah ihn einfach nur an.
„Ich auch nicht." Ihre Finger schoben ihren schwarzen Mantel zurück und fanden den silbrigen Griff eines Dolches.
Mika'il entließ einen Atemzug. Schade. Wie langweilig.
Sie zuckte, er packte ihren Arm.
In einer fließenden Bewegung drehte er ihn um, so abrupt, dass ihr Körper folgte. Aus der Balance gebracht, war es leicht, ihre Füße unter ihr wegzutreten. Ihr Rücken krachte ins gefrorene Gras und Mika'il nutzte den Schwung, um ihr den Dolch abzunehmen.
Die Klinge an ihrer Kehle stoppte jede weitere Bewegung. Langsam hob sie den Blick zu ihm, wie er links und rechts neben ihr im Gras kniete.
Mika'il lächelte.
„Warum versucht ihr Leute es nie zuerst mit Bestechung?", es wurde schwieriger, die Dinge nicht persönlich zu nehmen, „Khans Plan war wenigstens Idiotensicher."
Sie suchte nach Worten, vermutlich atemlos durch den harten Aufprall und die protestierenden Muskeln. Ihr Blick sprang zu den Bäumen und dahinter.
Mika'ils Augen folgten für einen kurzen Moment und hätten fast verpasst, wie sie eine Hand unter ihrem Körper befreite und den Ellenbogen nach ihm schlug. Mika'il blockte gerade noch so ab und schnitt sie dabei versehentlich mit der anderen Hand. Das stoppte zumindest das Gerangel für eine Sekunde.
Mika'ils Gesicht buchstabierte für sie ein ‚Musste das sein?' aus, ehe er fragte: „Willst du mir jetzt verraten, was du wirklich willst?"
Sie überlegte kurz. Sie lag auf ihrem Rücken, ihr eigenes Messer unter den Kehlkopf gedrückt und überlegte kurz. Schließlich sagte sie: „Nicht wirklich. Aber ich kann dir helfen."
Mika'il starrte sie für einen Moment einfach nur an, weil sein Gehirn Probleme hatte, ihre Reaktionen in einen sinnvollen Kontext zu bringen. Was für eine Art Plan verfolgte sie bitte?
„Na los. Ich platze vor Neugierde. Ich vermute, es sind keine Nahkampftipps?"
Sie blinzelte nicht. Ihre merkwürdig leuchtenden Augen bohrten sich in ihn, als könne sie so seine letzte Gehirnzelle verflüssigen.
„Lass mich erst wieder aufstehen."
Mika'il lachte laut auf.
„Und dir den Dolch zurückgeben?"
Sie blinzelte immer noch nicht.
„Wenn du dich traust."
Mika'il konnte nicht anders, als leise zu lachen. In all den Jahren seines Lebens... Er brach den Gedanken mit einem Kopfschütteln ab und nahm die Klinge von ihrem Hals. Dann streckte er ihr die Hand hin und half ihr auf die Füße.
Als sie wieder stand, streckte sie die Hand auffordernd aus, doch er steckte den Dolch mit einem vielsagenden Blick in seinen Gürtel. Für einen kurzen Moment glaubte er, sie etwas murmeln zu hören was nach 'Ich habe dir damals mehr vertraut.' klang, doch als er fragend den Kopf schief legte, zuckte Kaïa lediglich mit den Schultern und klopfte ihre Hose ab.
„Du willst mit Ana reden, ich kann dich zu ihr bringen."
Uuuuund sie waren zurück zu langweilig. Mika'il entließ die angehaltene Luft und drehte sich wieder zu seinem Pferd um, das einen Baum weiter friedlich graste.
„Ich kann sie auch alleine finden. Das halbe Land ist auf der Suche nach ihr. Wie schwer kann das sein?"
„Seit dem der Nachtfuchs sie in die Finger bekommen hat. Praktisch unmöglich."
Mika'il stoppte in seiner Bewegung. Er hatte davon gehört, dass der unwillige Prinz die Sucherfähigkeiten bekommen hatte, um leichter auf ihn Jagd machen zu können. Und er hatte sich bereits gewundert, warum er ihm noch nie begegnet war.
„Was will er denn mit meiner Trägerin?"
„Erst wollte er sie töten..."
„Verständlich."
„... aber eine Seelenweberin hat die beiden Seelengebunden. Alles, was sie verletzt, verletzt auch ihn."
Mit dem Rücken zu ihr, zog Mika'il eine Grimasse. Das machte Dinge schwieriger.
„Und wie gedenkst du, jetzt noch an sie heranzukommen?"
Er sah ihr sarkastisches Grinsen nicht durch die Maske. Aber es spiegelte sich in ihren Augen.
„Wir liefern dich aus." Und damit marschierte sie an ihm vorbei.
꧁꧂
"Nun, kann ich sie in diesem Fall für einen dieser wundervollen sternförmigen Grabsteine begeistern? Freie Farbwahl..." - Mika'il, fühlt sich leicht bedroht.
Ich fange gaaaaanz langsam an die letzte Nevanam zu überarbeiten, damit ich iiiiiirgendwann mit Teil II weitermachen kann...
Oh die Liste, der noch zu schreibenden Bücher ist lang xD
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top